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Länderberichte

Das britische Parteiensystem und die vernachlässigte Europafrage

von Felix Dane, Philipp Burkhardt

Tories und Labour vor der Zerreißprobe

Das Votum der britischen Bevölkerung für den Austritt aus der Europäischen Union ist nicht nur Ausdruck einer Unzufriedenheit vermeintlich Abgehängter, sondern spiegelt ein Problem britischen, speziell englischen Umgangs mit dem europäischen Kontinent wider. Die in den letzten 40 Jahren vernachlässigte Europafrage liegt quer zu den Konfliktlinien der beiden großen Parteien, weswegen weder Tories noch Labour in der Lage sind, handlungsfähige Mehrheiten zu organisieren. Besonderheiten des politischen Systems, der politischen Kultur und nicht zuletzt historische Prägefaktoren scheinen die momentan zu beobachtende Blockade nicht nur zu verstärken, sondern könnten gar die Einheit des Vereinigten Königreichs gefährden.

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Dispositionen: Die Insel und das Festland

Das Verhältnis Großbritanniens zum Projekt der europäischen Integration ist seit jeher von Zweckrationalität geprägt. Als historischer Imperativ, wie in Deutschland und Frankreich, wurde das EU-Projekt nie interpretiert. Die viel zitierte Züricher Churchill-Rede, in der er die „United States of Europe“ forderte, richtete sich an die Staaten des Kontinents. Im Wahrnehmungshorizont der Entscheidungsträger des British Empire, das damals noch den indischen Subkontinent umfasste, schien nichts ferner, als dass sich London einer Idee geteilter europäischer Souveränität unterwirft. Erst die Enttäuschungen über die Erwartungen an die „special relationship“ zu den USA, das Verpuffen der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA und das mangelnde Kompensationspotential des Commonwealth haben dazu geführt, sich mit dem bereits fortgeschrittenen Europaprojekt auf dem Kontinent zu befassen.

Insofern war die Entscheidung Großbritanniens, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten, rein ökonomisch-pragmatischer Natur. Nachdem Charles de Gaulle, der Sonderansprüche der Briten fürchtete, zweimal einen Beitritt verhinderte, konnte das Vereinigte Königreich unter dem konservativen Premier Edward Heath 1973 nach zehn Jahren Wartezeit der EG beitreten. De Gaulles Befürchtungen sollten sich zumindest in Teilen bewahrheiten. Zahlreiche Streitigkeiten zwischen Brüssel und London wurden mit dem Scheitern bislang dreier Premiers an der Europafrage (Margaret Thatcher, John Major und David Cameron) und zahlreichen Demonstrationen des britischen Europaverständnisses, wie dem Fernbleiben des Labour-Premiers Gordon Brown bei der Vertragsunterzeichnung von Lissabon, mehr als deutlich.

Es wäre jedoch fahrlässig, das Verhältnis Großbritanniens zum Kontinent lediglich mit einer etwas eigensinnigen Selbstwahrnehmung zu begründen. Zwei Dinge führten dauerhaft zur Desynchronisation zwischen London und Brüssel: Zum einen die Doktrin der absoluten Parlamentssouveränität, die im Widerspruch zu einem übergeordneten europäischen Recht steht. Zum anderen passen die angelsächsische Tradition des Gewohnheitsrechts, die eine schriftliche Verfassung obsolet macht und der kontinentaleuropäische Kodifizierungsusus nicht wirklich zueinander. Die nahezu bruchlose Evolution dieser beiden essentiellen Prinzipien und die jahrhundertelange Funktionsfähigkeit in der politischen Entscheidungsfindung können nicht einfach von Erwartungen an eine bessere, gemeinsame europäische Entscheidungsfindung abgelöst werden.

Die Kontinuität britischer Verfassungswirklichkeit, das Selbstverständnis immer wieder stabilisierend in die Konflikte Kontinentaleuropas interveniert zu haben und die wirtschaftliche Räson, die zum EG-Beitritt führte, begründen ein historisch besonderes Verhältnis zwischen Insel und Festland. Diese Spannungen wurden nie gelöst, sondern schwelten untergründig permanent weiter und wirken somit in die Gegenwart hinein. Ein Blick auf die beiden großen Parteien zeigt, dass sowohl Tories als auch Labour nicht in der Lage waren, eine konsistente Position zum EU-Projekt zu erarbeiten, sodass sich in beiden Parteien Befürworter und Gegner finden.

Auflösungserscheinungen: Tories, Labour und die Europafrage

Häufig wird Großbritannien als ein Zweiparteiensystem bezeichnet. Das britische Mehrheitswahlrecht begünstigt die Dominanz zweier Parteien, sodass die jüngste Geschichte geprägt ist von Regierungswechseln zwischen der Conservative Party (Tories) und der Labour Party. Ein genauerer Blick auf die Parteienlandschaft zeigt jedoch, dass sich der englisch-walisische Teil vom schottischen und nordirischen Teil des Vereinigten Königreiches unterscheidet. Sowohl Tories als auch Labour erreichen ihre Mandate hauptsächlich in England und Wales, wohingegen in Schottland die Scottish National Party (SNP) mit einer klar pro-europäischen Ausrichtung an Dominanz gewonnen hat. In Nordirland richten sich die Parteien hingegen vornehmlich am gesellschaftlichen Großkonflikt zwischen irischen Nationalisten und Unionisten, den größtenteils protestantischen Befürwortern des Vereinigten Königreichs, aus. Die dort dominierenden Parteien haben sich klar für eine Position für oder gegen EU entschieden. Die nationalistische Sinn Féin positioniert sich in Europafragen als (vorsichtiger) Befürworter der Europäischen Union, wohingegen die Democratic Unionist Party (DUP) im Vorfeld des Referendums den Brexit unterstützte.

Die stets regierenden Parteien in Westminster, Tories und Labour, haben es hingegen nicht geschafft, eine eindeutige Position zur EU-Frage zu beziehen. Somit steht keine der beiden Parteien eindeutig für oder gegen die Mitgliedschaft zur Europäischen Union, sondern es finden sich zahlreiche EU-freundliche und -skeptische bis -ablehnende politische Ansätze in beiden Parteien. Die quer liegende Europafrage wurde in beiden Parteien zu wenig bearbeitet und kann dementsprechend nur schwer mehrheitsfähig in das politische Entscheidungssystem übersetzt werden.

Auf Seiten der Tories hat Europaskepsis eine lange Tradition. Die Tory-Brexiteers führen im Kern vier Argumente an, die Europäische Union zu verlassen. Zum einen befürchtet man Souveränitätsverluste und beharrt auf die eigene Identität. Zweitens möchte man die Überregulierung der „Eurokraten“, wie sie bereits Thatcher nannte, beenden, um drittens eine deregulierte Handelspolitik mit niedrigen Zöllen in die Praxis umsetzen zu können, was in der Konsequenz zu einem höheren Wirtschaftswachstum führe. „Singapore-upon-Thames“ ist ein Schlagwort der wirtschaftsliberalen Brexiteers, die sich ähnlich wie Singapur von Regulierungen und Zöllen weitgehend befreien wollen. Viertens, so die Argumentation, könnte man außerhalb der EU endlich wieder eigene migrationspolitische Entscheidungen treffen. Uneingeschränkte europäische Migration kombiniert mit der Inklusion in die Sozialsysteme wandelte sich in den Augen der Tory-Brexiteers zu einem Schreckgespenst. Zudem dürften die in Großbritannien kontrovers diskutierten Bilder von Migrantenströmen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise den in Teilen der Bevölkerung vertretenen Standpunkt, die EU sei ohnmächtig gegenüber dem Migrationsproblem geworden, verstärkt haben. Obwohl Großbritannien nicht Teil des Schengen-Raums ist, nutzte die Leave-Kampagne jene Bilder, um das propagierte Unvermögen Brüssels zu unterstreichen.

Diese Ideen sind nicht allein einer radikalen Minderheit zuzuordnen, sondern sind in den politischen Standpunkten der Conservative Party tief verwurzelt. Trotzdem tritt derzeit eine Gruppe besonders unter den Befürwortern eines harten Brexits hervor: Die European Research Group (ERG) unter Führung von Jacob Rees-Mogg umfasst derzeit etwa 90 der 314 konservativen Abgeordneten und pflegt eine offene Gegnerschaft zur Brexit-Politik Theresa Mays. So genannte „pressure groups“ sind der britischen Politik nicht fremd. Dennoch sprechen Beobachter von der ERG als einer „Partei innerhalb der Partei“. Die ERG hält regelmäßige Treffen ab, hat mit Mark Francois einen eigenen Party Whip, nach deutschem Verständnis eine Mischung aus parlamentarischem Geschäftsführer und Fraktionsvorsitzenden, und teilt Downing Street 10 regelmäßig Positionen und Grenzen mit. Jacob Rees-Mogg war es auch, der im Dezember letzten Jahres Theresa May mit einem parteiinternen Misstrauensvotum zu stürzen versuchte. Die Niederlagen Mays bei den Abstimmungen über das Austrittsabkommen mit der EU sind maßgeblich auf die ERG zurückzuführen. Gleichzeitig verfügt die Gruppe auch über gute Kontakte zu Regierungsmitgliedern. Sie kann jene als Scharnier mit den „Rebellen“ der hinteren Bankreihen verbinden. Gemäßigtere Gruppen, wie die Brexit Delivery Group (BDG), die ein Austrittsabkommen befürworten, oder gar Remainer gehen wegen der guten Vernetzung der ERG beinahe unter, sodass diese sich zu einem der entscheidenden Vetospieler aufschwingen konnte. Grund der ablehnenden Haltung der ERG zu Mays Abkommen ist die Befürchtung, die Integrität des Vereinigten Königreichs werde durch eine Sonderrolle Nordirlands gefährdet. Diese Position teilt man mit den zehn DUP-Abgeordneten, den Mehrheitsbeschaffern der Minderheitsregierung May. In der Folge führt die Inkonsistenz der Regierungsfraktion zu Blockaden, Instabilität und auch Misstrauen in der Bevölkerung. Somit sind nicht die Positionen der ERG an sich, sondern die Inkonsistenz der Regierungsfraktion ein strukturelles Problem.

Die Probleme der konservativen Partei beschränken sich nicht lediglich auf den Druck von einigen Hardlinern, sondern die von der ERG vertretenen Positionen sind sowohl in Partei als auch in der Wählerschaft aufgrund der speziellen Beziehungen zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa anschlussfähig. Dies zeigt sich im Verhalten Mays und David Camerons unmittelbar vor dem Brexit-Referendum. Beide vermieden es, sich frühzeitig für eine Seite zu entscheiden, um ihre Führungsansprüche nicht zu gefährden. Dieses Verhalten kann man kritisieren, es ist allerdings Symptom, nicht Ursache, der Probleme der Tories.

Die Euroskepsis der Labour Party hat andere Gründe als eine zugrunde liegende Wirtschaftsliberalität. Dennoch ist eine kritische Haltung gegenüber der EU auch hier verankert. Erst in den 1980er Jahren schloss der damalige Labour-Vorsitzende Neil Kinnock die Trotzkisten aus der Partei aus und überdachte die engen Verquickungen der Partei mit den sozialistischen Gewerkschaften. Tony Blair löste die Partei in den 1990er und 2000er Jahren mit „New Labour“ von originär sozialistischen Verstaatlichungsforderungen. Vorher dominierte die Europaskepsis in der Partei. Einer klassisch linken Argumentation folgend, befürchtete man in der Labour Party durch europäischen Freihandel einen erhöhten Wettbewerbsdruck auf den industriellen Sektor, der in Konsequenz entweder zum Verlust von Arbeitsplätzen oder aber zum Abbau des Sozialstaats führen würde. Unter Kinnock entwickelte man in der Partei eine vorsichtig pro-europäische Position; Tony Blair unterzeichnete zwar die europäische Sozialcharta, diente sich Brüssel allerdings nur so lange an, wie es im nationalen Interesse Großbritanniens lag, und trat als Gegner weitergehender Integrationsbemühungen auf.

Insofern kam es auch in der Labour Party nie zu einem klaren Bekenntnis zur EU. Der derzeitige Vorsitzende Jeremy Corbyn bildet quasi in persona die Zerrissenheit seiner Partei ab. Corbyn gilt als langjähriger EU-Skeptiker und ist dem alten, sozialistischen Flügel der Partei zuzurechnen. Die EU bezeichnete er einst als „capitalist club“ und lehnte den Beitritt Großbritanniens seinerzeit ab. Auch der innere Kreis seiner Mitarbeiter gilt als EU-skeptisch. Die Ablehnung der Gruppe um Corbyn entzündet sich konkret vor allem am EU-Beihilferecht, das den stark von Staatssubventionen abhängigen Sozialismusvorstellungen der Gruppe von Corbyn im Weg steht. Öffentlich akzeptiert Corbyn das Ergebnis des Austrittsreferendums, allerdings fehlt ein klares Bekenntnis für oder gegen die EU. Seine Position zum von Teilen seiner Partei geforderten zweiten EU-Referendum bleibt weiterhin unklar. Er versucht damit einen unmöglichen Spagat zwischen den vornehmlich für den Brexit votierenden ländlichen Regionen und Kleinstädten und den urbanen, EU-befürwortenden Metropolen. Seine politischen Initiativen rund um die Verhandlungen über den EU-Austritt sind daher in erster Linie als taktische Maßnahmen zu verstehen, einen „Tory-Brexit“ zu verhindern.

Gleichzeitig sind viele Parlamentsabgeordnete mit der Führung Corbyns unzufrieden. Einerseits gehen ihnen die auf dem radikal linken politischen Spektrum zu verordnenden Forderungen Corbyns zu weit. Andererseits finden sich unter ihnen viele Remainer, die der europaskeptischen Führungsgruppe misstrauen. Die Abspaltung der mittlerweile zur Partei („Change UK“) avancierten Independent Group, der neben acht Labour-Abgeordneten auch drei ehemalige Tories angehören, fordert ein zweites Referendum und kann – vorerst – einem gemäßigten sozialdemokratischen Spektrum zugeordnet werden. Die Unzufriedenheit mit der Labour-Führung wurde kürzlich durch einen Antisemitismusskandal befeuert und treibt viele Mitglieder in die Arme der gemäßigteren Future Britain Group um Tom Watson. Dieser versucht, Labour erneut an der Mitte des linken Spektrums zu orientieren. Gleichzeitig fürchten viele Labour-Abgeordnete ein zweites Referendum, weil ihre Wahlkreise in jenen ländlichen Regionen liegen, die mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben. Die öffentliche Forderung nach einem zweiten Referendum würde, so die Befürchtung, von der Wählerschaft als Verrat gewertet und somit Parlamentssitze kosten. Zudem gibt es auch innerhalb der Labour Party Brexiteers. Deren Anzahl ist zwar geringer als in der Conservative Party. Dennoch stehen diese in Kernfragen des EU-Austritts teilweise mancher Tory-Position näher als ihrer eigenen Partei.

Zusammenfassend kann man also feststellen, dass die Notwendigkeit, das Europaverhältnis nach dem Referendum zu verhandeln, die verschiedenen, widersprüchlichen Positionen innerhalb der beiden großen Parteien zutage gefördert hat. Von völlig unterschiedlichen Seiten wird am Europathema „gezerrt“, ohne, dass so eine mehrheitsfähige Position erarbeitet werden kann. Jede Regierung, unabhängig davon, welche Partei unter welcher personellen Führung sie stellt, wird sich die Frage stellen müssen, ob Entscheidungen für das Gesamtwohl des Landes oder aber die Einheit der Partei getroffen werden. Beides ist in der aktuellen Gemengelage nur schwer zu vereinen.

Konsequenzen: Systemblockade, mögliche Profiteure und zentrifugale Kräfte

Die Besonderheiten im politischen System des Vereinigten Königreichs verstärken den Cross-Party-Konflikt, anstatt eine Lösung desselben aufzuzeigen. Mehrere Faktoren bremsen eine konsensuale Mehrheitsfindung aus, sodass man Theresa May im Einzelnen wohl Führungsfehler diagnostizieren, nicht aber die zugrunde liegenden strukturellen Umstände ausblenden kann.

Wo beispielsweise das politische System der Bundesrepublik Deutschland auf Kompromissfindung angelegt ist, wird in Großbritannien die eindeutige Zuordnung politischer Entscheidungen zu einer Partei konsensualen Mechanismen übergeordnet. So zieht das britische reine Mehrheitswahlrecht (first past the post voting) vornehmlich darauf ab, den Wählerwillen – äußert er sich auch noch so knapp – direkt in Regierungsverantwortung umzusetzen, anstatt die Wählerpräferenzen verhältnismäßig darzustellen. Deswegen gibt es bei britischen Unterhauswahlen entweder Gewinner oder Verlierer. Koalitionen sind nahezu undenkbar, Parteiloyalität und Fraktionsdisziplin spielen eine große Rolle. Falls eine Partei nicht mit absoluter Mehrheit regieren kann, so wird mit den dann üblichen Minderheitsregierungen die eindeutige Zurechenbarkeit der Entscheidungen sichergestellt. Dementsprechend ist eine „deutsche“ Lösung einer parteiübergreifenden Koalitionsbildung mit dem Ziel, einen Brexit-Kompromiss zu finden, für Großbritannien nicht realistisch. Vor diesem Hintergrund bleibt es abzuwarten, wie sich die historischen parteiübergreifenden Gespräche zwischen Theresa May und Jeremy Corbyn entwickeln. Zweifel scheinen angebracht, ob der Brexit der richtige Anlass ist, eine politische Kultur, die bis zu den Anfängen des Parlamentarismus überhaupt zurückreicht, entscheidend zu ändern.

Das Wahlrecht koppelt zudem die Mandatsträger an ihre Wahlkreise, sodass Abgeordnete aus Brexit-Wahlkreisen im Eigeninteresse schlecht als Kompromissagenten auftreten können und umgekehrt. In der Vergangenheit waren es vor allem solche Hinterbänkler, die aus Sorge ihre Wahlkreise zu verlieren, ihre eigenen Regierungen unter Druck setzten oder gar stürzten.

Außerdem ist die Rolle des Unterhauses in der Entscheidungsfindung zu schwach, um gestalterisch großen Einfluss zu nehmen. Seine Hauptfunktion besteht im Kampf um öffentliche Meinung. So sitzen sich Regierung und Opposition konfrontativ gegenüber, die Opposition unterhält ein Schattenkabinett und ist somit Regierung im Wartezustand. Zwar existieren auch im Unterhaus Ausschüsse, diese werden jedoch meist ad-hoc einberufen, sodass das Parlament kaum starke Kontrollinstrumente ausbilden konnte. Die daraus folgende dominante Stellung der Regierung wird problematisch, wenn, wie im Falle der Europafrage, die Regierung selbst uneins ist.

Die Chancen, dass personelle Neubesetzungen in der Führung einer der beiden oder beider Parteien die zugrunde liegenden Strukturprobleme lösen können, sind gering. Es ist daher davon auszugehen, dass die Frage, wie sich Großbritannien zu Europa, insbesondere zur EU, positioniert, auf unbestimmte Zeit den politischen Kampf im Vereinigten Königreich bestimmen wird – unabhängig davon, ob und unter welchen Bedingungen Großbritannien ausscheidet. Schließlich wird Großbritannien ein Teil des Systems Europa bleiben, auch wenn die Mitgliedschaft in der EU beendet sein wird. Insofern wird es interessant, wie Tories und Labours die widerstreitenden Positionen innerhalb ihrer Parteien zu vereinen suchen werden. Es besteht die Gefahr, dass eine oder gar beide Parteien an der Europafrage zerrieben werden, weil Wähler nun nach konsistenten Antworten auf die Europafrage suchen. Die Liberal Democrats konnten in der Vergangenheit immer wieder als gemäßigte Alternative sowohl Tories als auch Labour Wähler abringen. In der Europafrage bilden sie den klar EU-befürwortenden Pol ab. Der Gegenpol bestünde demnach in Bewegungen wie der ERG oder ihr nahestehenden Gruppen. Insofern wird dieser Konflikt beide Parteien künftig fordern.

Schließlich kann ein englisch-walisisches Ringen um die Europafrage die zentrifugalen Kräfte innerhalb des Vereinigten Königreichs fördern. Es ist denkbar, dass die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen erneut an Zuspruch gewinnen. Das Unabhängigkeitsreferendum von 2014 ist nur äußerst knapp gescheitert. Die schottische Position in der EU-Frage ist klar befürwortend und die SNP ist mittlerweile ausreichend institutionalisiert, um solche Forderungen auch erfolgsversprechend zu kanalisieren. Indes befürchten nicht wenige Beobachter ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts. Eine harte Grenze zwischen dem Norden und Süden der irischen Insel könnte die noch nicht ausgeheilten Wunden der „Troubles“ wieder aufreißen. Der mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 lediglich beruhigte Antagonismus zwischen nordirischen Unionisten und irischen Nationalisten könnte mit ungewissem Ausgang erneut die Schwelle zur Gewalt überschreiten.

Das politische System Großbritanniens hat sich jahrhundertelang als äußerst funktions- und lernfähig erwiesen. Dennoch treten mit der Europafrage offensichtliche Schwächen zutage. Diese werden jedoch nur zu einem Teil von institutionellen Rahmenbedingungen hervorgerufen. Der in der Gesellschaft lange Zeit nur schwelende und somit nicht ausreichend ausgetragene Europakonflikt lähmt nun das gesamte Land. Es wird sich zeigen, wie die beiden großen Parteien mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen.

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Dr. Canan Atilgan

Dr. Canan Atilgan

Leiterin Auslandsbüro Vereinigtes Königreich und Irland

canan.atilgan@kas.de +44 (0)20 7834 4119

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