Das Wichtigste: Ist das Land auf einem guten Weg?
Nur 30 Prozent der Befragten antworten darauf mit Ja. Dieser Wert ist einer der niedrigsten seit 2015, aber die negative Grundstimmung erstreckt sich nicht nur auf das eigene Land. Gleichzeitig denken nur 18 Prozent der Kanadier, dass die gesamte Welt in die richtige Richtung geht; befragt nach den USA, liegt dieser Wert bei 19 Prozent. Insofern lässt sich selbst der niedrige Wert für das eigene Land noch positiv umdeuten.
Was bewegt die Kanadier? Inflation sehr, Klimawandel weniger, Ukraine gar nicht.
Hier verbinden sich zu erwartende mit überraschenden Ergebnissen. Dass 74 Prozent der Befragten die seit Monaten stark steigenden Lebenshaltungskosten an die Spitze ihrer Sorgenliste setzen, kann nicht verwundern. Schon eher, dass nur 27 Prozent den Klimawandel und die Umwelt als wichtiges Thema einstufen, das ist lediglich Platz fünf der Prioritätenliste. Mit sieben Prozent schafft es die russische Invasion der Ukraine gerade noch auf Platz elf – und das angesichts einer bedeutenden Diaspora von knapp 1,4 Millionen Menschen ukrainischer Herkunft in Kanada.
Da die Umfragezahlen aus dem Dezember stammen, bleibt abzuwarten, ob die Geldentwertung weiterhin Platz eins einnehmen wird: Die jährliche Inflationsrate lag im Dezember wie prognostiziert bei 6,3 Prozent, wobei das Tempo der Preiserhöhungen gegenüber dem Vormonat um 0,6 Prozent zurückging. Das ist der stärkste Rückgang des Verbraucherpreisindexes seit April 2020, was vor allem auf die niedrigeren Benzinpreise zurückzuführen ist. Die Inflation bei Lebensmitteln setzte sich jedoch mit einem Anstieg von 11 Prozent im Jahresvergleich fort. Was die Auswirkungen auf die bevorstehende Zinsentscheidung der Bank of Canada angeht, so rechnen die Geldmärkte jetzt mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 % für eine Anhebung um 0,25 Prozentpunkte am 25. Januar, was nach dem Inflationsbericht einen leichten Anstieg bedeutet.
Problemlösungskompetenzen der Parteien
Bekanntes und Überraschungen auch hier:
- Beim Thema Klimawandel führen die regierenden Liberalen mit 26 Prozent, während die oppositionelle sozialdemokratische New Democrat Party (NDP) mit 14 Prozent und die Konservativen als größte Oppositionspartei mit nur zehn Prozent Kompetenzzuweisung am Ende der Skala liegen. Unerwartet sind die 25 Prozent für die kanadischen Grünen, die aufgrund des Mehrheitswahlrechts derzeit nur mit zwei Mandaten im Unterhaus vertreten sind, im Land kaum politischen Einfluss ausüben und eher als von internen Machtkämpfen geplagte Ansammlung oft fragwürdiger Randfiguren gelten dürfen. Anzunehmen ist, dass die Befragten hier ein Signal ausgesendet haben, dass sie von jeder Partei, unabhängig von deren politischer Schwerpunktsetzung, eine ernsthafte Positionierung zum Thema erwarten.
- Bedenklicher wird es für die Liberalen beim für viele Bevölkerungsschichten und Altersgruppen wichtigen Thema bezahlbarer Wohnraum: die Regierungspartei wird mit einem dritten Platz und 16 Prozent abgestraft, während NDP und Konservative sich mit je 26 und 25 Prozent die Spitze teilen. Hier besteht offensichtlich großer Handlungsbedarf für Justin Trudeaus Partei, da das kürzlich in Kraft getretene, temporäre Verbot für Ausländer, Immobilien in Kanada zu erwerben, nach Expertenansicht kaum Abhilfe für das Problem schaffen und von der Bevölkerung auch so eingeschätzt wird.
- Da die Konservativen seit mehreren Monaten das Wirtschaftsthema konsequent bearbeitet haben, fahren sie jetzt mit 41 Prozent den Spitzenwert für Wirtschaftskompetenz aller Parteien ein; die 20 Prozent für die Liberalen und die mageren acht Prozent für die NDP verblassen dagegen. Ähnlich sieht es beim Thema „steigende Lebenshaltungskosten“ aus (Konservative 32, Liberale und NDP je 17 Prozent).
- Da hilft es den Regierenden wenig, dass die drei Parteien bei der Gesundheitspolitik ähnlich eingestuft werden (Liberale 20, Konservative 22 und NDP 23 Prozent).
Politische Attraktivität des Premierministers und seines Herausforderers
Seit er 2015 einen überragenden Wahlsieg erzielt und damit die Liberale Partei wieder zu dem Rang zurückgeführt hatte, die sie als klassische kanadische Regierungspartei des 20. Jahrhunderts glaubte, beanspruchen zu müssen, ist Justin Trudeaus politisches Schicksal eher wechselhaft gewesen. Nach der Unterhauswahl 2019 sowie dem heute weitgehend als sinnlos angesehenen, vorgezogenen Urnengang 2021 konnte er nur Minderheitsregierungen bilden – eine Kardinalsünde in seiner Partei. Hinzu kamen, mindestens seit August 2021, Popularitätswerte, die häufig wenig beeindruckend waren. Im Dezember 2022 hatten laut Umfragen 32 Prozent der Kanadier eine positive, jedoch 48 Prozent einen negativen Eindruck des Regierungschefs. Solche Negativsaldos waren und sind auch bei anderen Spitzenpolitikern des Landes nichts Ungewöhnliches. Für problematisch im Hinblick auf die nächste Unterhauswahl halten kanadische Demoskopen, wie etwa David Coletto von Abacus Data, jedoch, dass sich Trudeaus Negativsaldo zu verstetigen beginne, was erfahrungsgemäß kaum korrigierbar sei. Pierre Poilievre, im September 2022 in einem triumphalen Mitgliederentscheid souverän zum neuen Parteichef der Konservativen bestimmt (der vierte in sieben Jahren), kommt nach einem knappen halben Jahr in der ersten Liga der kanadischen Politik auf einen Popularitätswert von minus fünf Prozent (29 positiv zu 34 negativ). Im direkten Vergleich der beiden künftigen Spitzenkandidaten zur nächsten Wahl führt Trudeau bei den Persönlichkeitspräferenzen zwar noch mit 54 zu 46 Prozent der Wähler gegenüber Poilievre auf die Frage, wen diese als Regierungschef vorziehen. Ein wirklich überzeugender Amtsbonus sieht anders aus. Nicht hilfreich sind in diesem Zusammenhang die 33 Prozent der Befragten, die einen „sehr negativen“ Eindruck vom Premierminister haben.
Aber auch Poilievre hat keinen Grund zur Freude, denn sein entsprechender Wert liegt bei 22 Prozent – nach nur fünf Monaten an der Spitze der Konservativen.
Tatsächlich, so ein anderer führender Demoskop Kanadas, Nik Nanos, würden 51 Prozent der Kanadier es vorziehen, dass die Liberalen mit einem anderen Spitzenkandidaten in die nächste Wahl gehen als mit Premierminister Justin Trudeau, und 45 Prozent möchten, dass ein anderer Parteichef als Pierre Poilievre die Konservativen bei den nächsten Wahlen anführt. Im Urteil großer Teile der Wählerschaft, so Nanos, seien sowohl Trudeau als auch Poilievre polarisierende Persönlichkeiten. Während Trudeau, nachdem er Premierminister geworden war, einige Jahre brauchte, um zu einer polarisierenden Figur zu werden, war dies bei Poilievre von Anfang an der Fall. Noch während seines parteiinternen Wahlkampfes hatte sich der 43-Jährige vor einem Jahr offen mit dem sogenannten „Freiheitskonvoi“[1] solidarisiert, einer als politisch stark rechts verorteten Bewegung, die nun zu einem bestimmenden Element seiner Marke geworden sei. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es höchst wahrscheinlich, dass weder die Liberalen noch die Konservativen mit ihren amtierenden Führern aus Unterhauswahlen mit einer Mehrheitsregierung hervorgehen würden.
Wahlaussichten
Dafür sprechen die von den Betreibern der Website 338Canada.com aggregierten Zahlen: Fände jetzt eine Wahl statt, würde die Konservative Partei wahrscheinlich 141 Sitze gewinnen (Mandatszahl 2021: 119), die Liberalen 139 (160), die NDP 28 (25), der Bloc Québécois ebenfalls 28 (32) und die Grünen zwei (unverändert). Im 338 Mitglieder zählenden Unterhaus liegt die Mehrheitsschwelle bei 170 Sitzen. Das bedeutet, dass derjenige, der die Regierung bilden will, die Unterstützung von zwei anderen Parteien benötigte, um Gesetze im Parlament zu verabschieden. Diejenigen Projektionen, die die voraussichtliche Stimmabgabe im kanadischen Einerwahlkreissystem in prozentuale Anteile umrechnen, sehen die Konservativen bei 35 Prozent, die Liberalen bei 31, die NDP bei 21, den Bloc Québécois bei sechs und die Grünen bei vier Prozent. Einige Prognosen sehen die Liberalen auch unter 30 Prozent. Dies hätte nach Expertenansicht aber schwerwiegende Konsequenzen für ihre Mobilisierungsfähigkeit und das Potenzial zur Spendeneinwerbung in einer Wahlkampagne.
Unsicherheiten und Wünsche
Kanada gewöhnt sich post-pandemisch allmählich wieder an ein Leben wie vor Covid. 87 Prozent der Befragten geben in Umfragen an, dass nach ihrer Ansicht „das Schlimmste“ der Pandemie vorbei sei. Allerdings stimmt diese Sichtweise nicht völlig mit den Realitäten überein, denn zum einen haben die Covid-Fälle in den letzten Wochen wieder zugenommen, und zum anderen haben sich von den ca. 60 Prozent der Erkrankten 20 Prozent zweimal infiziert und 17 Prozent „Long Covid“-Symptome entwickelt. Herausforderungen für das ohnehin ständig überbeanspruchte kanadische Gesundheitssystem werden also auf Dauer weiterbestehen und ein Maßstab für die Qualität von Regierungshandeln bleiben.
Bemerkenswert ist überdies, dass sich die Mehrheit der Kanadier – bei allen derzeitigen globalen Krisen – eine Offenheit für konstitutive Bestandteile der Globalisierung bewahrt hat (obwohl 39 Prozent sie weder positiv noch negativ bewerten möchten). Dies hat der Meinungsforscher Frank Graves festgestellt und verweist beispielhaft auf die weiterhin positiven Einstellungen seiner Landsleute zu Immigration und internationalem Handel. Er meint aber auch herausgefunden zu haben, dass sich in Kanada angesichts zunehmender Unsicherheiten und eingeschränkter ökonomischer Möglichkeiten in anderen Weltregionen wieder eine starke Strömung zugunsten nordamerikanischer Zusammenarbeit herausbildet. Dies werde insbesondere durch den Wechsel der US-Administration 2021 noch befördert und zudem unterlegt durch die 53 Prozent, die 2023 die US-kanadischen Beziehungen als gut beschreiben – ein geradezu epochaler Zugewinn gegenüber dem Wert vom 2019 aus der Trump-Ära, der unfassbar niedrige zehn Prozent betrug. Mit anderen Worten: die demoskopisch messbare Zuversicht in eine starke US-kanadische Zusammenarbeit in der Zukunft hat sich signifikant erhöht – verständlicherweise, da 66 Prozent der Befragten die Welt heute als einen gefährlicheren Ort ansehen als noch vor fünf Jahren und sich die Rückbesinnung auf Bewährtes wünschen. Knapp die Hälfte der Befragten überträgt dieses kanadische Vertrauen auch auf die Europäische Union.
Zukunftsängste
Der Blick nach vorne wäre nicht komplett ohne eine Auflistung derjenigen Szenarien, die die Kanadier derzeit am meisten fürchten. Ganz oben auf der Liste steht die Furcht vor wachsender politischer und ideologischer Polarisierung der Gesellschaft (68 Prozent). 59 Prozent sorgen sich wegen eines so von ihnen empfundenen akuten Niedergangs öffentlicher bzw. demokratischer Institutionen. 57 bzw. 55 Prozent befürchten entweder eine schlechtere wirtschaftliche Zukunft für die nächste Generation und/oder soziale Unruhen wegen wachsender Ungleichheit. Auf Platz fünf folgt ein möglicher Klimanotstand (52 Prozent), danach die Sorge um ein bald vielleicht nicht mehr finanzierbares Rentensystem (49 Prozent). Erst mit deutlichem Abstand (39 Prozent) erscheint ein außenpolitisches Problem in Gestalt des so empfundenen, relativen Abstiegs des Westens gegenüber anderen Mächten wir China.
Unbestritten ist laut Demoskopie der Anstieg von Polarisierung und Populismus auch in Kanada. Ursächlich verantwortlich hierfür ist demnach Desinformation in allen ihren Spielarten, die u.a. in vermindertem Vertrauen in Regierungshandeln zum Ausdruck kommt. Während die Polarisierung vor allem während der Pandemie stark zugenommen hat, wird die Desinformation eher als struktureller Prozess bewertet, der einen stark negativen Einfluss auf das öffentliche Interesse an Politik ausübt. Vorausgesagt wird, dass sie nach der öffentlichen Debatte über Impf- und Maskenzwänge künftig auch in Diskursen über den Klimawandel und die Außenpolitik wirksam werden wird. Gerade die offene kanadische Gesellschaft wird dadurch die Polarisierung weiter befördern.
[1] Norbert Eschborn: #FluTrucksKlan - Anfang vom Ende des "schönen Kanada"?, in: https://www.kas.de/de/web/canada/laenderberichte/detail/-/content/flutrucksklan-anfang-vom-ende-des-schoenen-kanada [18.01.2023]
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