Wann wird gewählt?
Die nächsten Parlamentswahlen müssen im Vereinigten Königreich spätestens im Januar 2025 abgehalten werden. Bis dahin erlaubt es der „Dissolution and Calling of Parliament Act“ dem Premierminister, jederzeit Neuwahlen anzusetzen. Allgemein wird erwartet, dass dies im Oktober oder November 2024 erfolgen wird. Zuletzt gab es aber auch Berichte, wonach frühzeitige Wahlen bereits im Frühling 2024 nicht ausgeschlossen seien. Hintergrund des Kalküls in 10 Downing Street wäre es, den Wahltermin so spät wie möglich anzusetzen mit der Hoffnung, dass sich vor allem die konjunkturelle Lage im Laufe des Jahres 2024 verbessert und somit der Regierung neuen Spielraum für Steuersenkungen und Abbau von Belastungen gibt. Die britische wirtschaftliche Entwicklung stagniert nach dem dreifachen Schock von Brexit, Corona und Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gleichzeitig ist die Belastung der Bevölkerung durch hohe Lebenshaltungskosten nach wie vor gewaltig. So sollte ab jetzt jeder Monat gebraucht werden, um der Konjunktur Zeit zur Erholung zu geben und den Wahlkampf mit möglichst viel Rückenwind zu beschreiten. Das spricht für die Ansetzung von Wahlen im Herbst 2024.
Gleichwohl ist aus der Parteizentrale in London, dem „Conservative Campaign Headquarters“ (CCHQ), zu vernehmen, dass man für alle Fälle vorbereitet sei. Wenn das Team um Sunak zum Schluss kommt, dass sich das wirtschaftliche Lagebild bis Herbst 2024 nicht stark genug ändern wird oder gar von einer Rezession in der zweiten Jahreshälfte ausgeht, könnte der Wahlgang bereits im Frühling stattfinden. Da im Mai ohnehin landesweit Kommunalwahlen anstehen, könnten beide Termine zusammengelegt werden - um damit auch zu vermeiden, dass die Partei mit der Hypothek eines wohlmöglich desaströsen Kommunalwahlergebnisses in die entscheidenden Unterhauswahlen geht. Auch der umgekehrte Fall, falls etwa die durch Finanzminister Jeremy Hunt am 22. November im Rahmen des „Autumn Statements“ (Herbstbudget) verkündeten Entlastungen eine Trendumkehr bewirken, könnte für den früheren Wahlgang sprechen. Dieses Szenario ist aktuell nicht das wahrscheinlichste, aber auch nicht auszuschließen. Jedenfalls hieß es, dass der konservative Chefstratege Isaac Levido, der bereits Kampagnenchef des erfolgreichen Wahlkampfes im Jahr 2019 war, zum 1. Januar von der Regierungszentrale in 10 Downing Street in das CCHQ zieht. Spätestens dann ist alles auf den Wahlkampf ausgerichtet.
Bisher keine Trendumkehr in Sicht
Das politische Hauptproblem der Conservative Party unter Rishi Sunak ist, dass die Partei auch nach seinem Amtsantritt im Oktober 2022 nicht aus dem massiven strukturellen Umfragedefizit herausgekommen ist. Ihm gelang es nicht, die Umfragewerte seiner Partei - welche zunächst in Folge des Partygate-Skandals um Boris Johnson von 40% auf 33% fielen, und dann während der Chaoswochen unter Liz Truss auf 22% kollabierten - wieder in die Reichweite der Labour Party zu bringen. Seither bewegen sich die Umfragewerte der Tories zwischen 23% und 29%, sodass sie beträchtliche 20% hinter Labour liegen, die seitdem auf Zustimmungswerte um die 45% kommen. Würde das die Grundlage für den Wahlausgang sein, würde sich Projektionen zufolge die konservative Unterhausfraktion von derzeit 350 Sitzen auf 200-150 Sitze dramatisch verkleinern. Eine Reihe verlorener „By-elections“ (Nachwahlen) bestätigten diesen Trend. Beispielsweise verloren die Tories im Oktober die Wahlkreise Mid Bedfordshire und Tamworth, welche seit 1931 bzw. 1996 durchgehend in konservativer Hand gewesen waren. Es wäre aber nicht gerecht, diesen Zustand allein Rishi Sunak anzulasten. Im Gegensatz zu seinen drei Amtsvorgängern kehrte mit ihm wieder Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit in die britische Regierungspolitik ein. Die grundlegend verbesserte Vertrauensbasis auch zu den europäischen Partnerländern ermöglichte den Abschluss des wichtigen „Windsor Frameworks“ mit der EU und die Beruhigung der für alle Seiten schädlichen Debatte um das Nordirland-Protokoll.
Zu schwer wiegt aber offensichtlich das massive Glaubwürdigkeitsdefizit in großen Teilen der britischen Bevölkerung gegenüber den Tories. Sunak konnte in den ersten Monaten als Premierminister nur schwer inhaltliche Akzente setzen, da er sich immer wieder mit unerfreulichen Hinterlassenschaften der Johnson-Zeit oder mit dem Fehlverhalten einzelner Tory-Abgeordneter befassen musste. Insgesamt macht die Conservative Party nach dreizehn Jahren Regierung einen inhaltlich und zum Teil auch personell ausgelaugten Eindruck. Sinnbildlich ist die Tatsache, dass aus der 350 Parlamentarier starken konservativen Unterhausfraktion bereits rund 50 Abgeordnete erklärt haben, dass sie bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten wollen. Das spricht nicht für Siegeszuversicht. Ein weiterer Grund für die schwachen Umfragen ist die mangelnde Geschlossenheit der Partei. Für die Parteiführung ist es mühsam mit einer klaren inhaltlichen Linie voranzugehen, da eine Vielzahl von parteiinternen Interessengruppen und ad hoc-Zusammenschlüssen eigene Politik betreibt. Deutlich war dies auf dem Parteitag im Oktober in Manchester zu sehen, wo neue Gruppierungen wie z.B. die „New Conservatives“ oder die „Conservative Growth Group“, die hauptsächlich aus Unterstützern der Vorgängerregierungen bestanden, die mediale Berichterstattung zum Teil bestimmten. Die sich deutlich abzeichnende Kampfansage durch die Innenministerin Suella Braverman zwang Sunak aber zum Handeln.
Der Rausschmiss von Suella Braverman
Rishi Sunak und Suella Braverman eint das gleiche Alter (43) und die Tatsache, dass beide im Jahre 2015 neu in das britische Parlament gewählt wurden. Doch klar ist, dass die stramm konservative Braverman und der smarte wirtschaftsliberale Sunak unterschiedliche Visionen für die Partei vertreten. Während Sunak nach dem Chaos der Regierungszeit mit Johnson und Truss als verlässlicher Technokrat auftrat, galt Braverman seit jeher als Frontfrau des nationalkonservativen Flügels der Partei. Sunak verfolgt im Gegensatz zu Braverman eine Strategie, welche das Politikangebot an die 2019 errungenen „Red Wall“-Wahlkreise im Norden Englands mit jenen in den von den Liberal Democrats bedrohten „Blue Wall“-Wahlkreise im Süden des Landes balancieren soll. Mit seinem fulminanten Wahlsieg im Jahre 2019 ist es Boris Johnson gelungen, zahlreiche Wahlkreise im traditionell von der Labour Party dominierten Gebieten in den Midlands und im Norden Englands, der sogenannten „Red Wall“, zu gewinnen. Vor allem war es das Versprechen, dass der Vollzug des Brexits diesen strukturschwachen und industriell geprägten Landesteilen zugutekommt. Dies stellte einen bemerkenswerten Wandel in der parteipolitischen Landschaft Englands dar, da bisher der eher wohlhabende Süden das Tory-Kernland war – daher die Bezeichnung „Blue Wall“.
Braverman und ihre Verbündeten scheinen die Ansicht zu vertreten, dass sich in der britischen Politik ein „Realignment“ vollzogen habe und das Tory-Kernland in der „Red Wall“ liege. Die Wähler und Wählerinnen in der „Red Wall“ seien wegen ihrer sozial-konservativen Werte eine verlässlichere Basis für die Partei als die im eher liberalen Süden des Landes. Um die „Red Wall“ auch dauerhaft an die Tories zu binden, dürfe sich die Partei vor dem Kulturkampf und entsprechend harter Rhetorik nicht scheuen. Die Wählerschichten in der „Bue Wall“ im Süden fühlen sich von solcher Rhetorik eher abgestoßen, da sie tendenziell kosmopolitischer, pro-europäischer und liberaler eingestellt sind als ihre Nachbarn in den Midlands und im Norden. Trotz dieser stilistischen und substanziellen Unterschiede entschied sich Sunak jedoch bei Amtsantritt, Braverman mit an Bord zu nehmen. Er wollte den grundlegenden Fehler seiner Vorgängerin Liz Truss vermeiden und die unterschiedlichen Flügel der Partei in seine Regierung integrieren. Zu jener Zeit schätzte Sunak die Einbeziehung Bravermans in das Kabinett als das geringere Übel ein.
Drei Faktoren könnten Sunak nun dazu bewogen haben, diese Einschätzung zu revidieren und zu handeln. Erstens hatte sich in den letzten Wochen und Monaten der Eindruck verfestigt, dass sich Braverman als „Home Secretary“ und somit hochrangiges Mitglied der Regierung nicht an die gemeinsame Linie des Kabinetts binden ließe. Schon Liz Truss hatte sie wegen mangelnder Disziplin im Umgang mit vertraulichen Informationen gefeuert. Zweitens scheint die Parteibasis nicht in dem Maße hinter Braverman zu stehen, wie sie es gerne suggeriert. Laut dem Portal „ConservativeHome“ steht Braverman lediglich an vierter Stelle und beinahe 30 Prozentpunkte hinter dem beliebtesten Kabinettsmitglied - und das ist der bisherige Außenminister James Cleverly, ihr Nachfolger im Amt. Ihr Weg zur Parteiführung wäre also alles andere als gesichert. Der dritte und wohl ausschlaggebende Faktor scheint jedoch die Tatsache gewesen zu sein, dass in spätestens einem Jahr die Wahlen anstehen und deswegen mit einer parteiinternen Revolte nicht mehr zu rechnen ist.
Die Berufung von David Cameron
Sunak schien daher zur Einschätzung gelangt zu sein, seine parteiinterne Position nach einem Jahr als Premierminister und „Leader of the Conservative Party“ ausreichend konsolidiert zu haben. Selbst Braverman und die ihr zugeneigten Tory-Abgeordneten würden es nicht wagen, die Partei in den entscheidenden Monaten vor den Wahlen zu spalten. Ein Kabinett, welches zwar nicht mehr die Partei in ihrer gesamten Vielfalt abbildet, jedoch zu 100% hinter dem Premierminister steht, ist, so Sunaks Kalkulation, die entscheidende Vorbedingung für einen erfolgreichen Wahlkampf. Der Kontrast zu Bravermans Nachfolger könnte dementsprechend kaum grösser sein: James Cleverly, dessen Professionalität und Ernsthaftigkeit im Außenministerium allgemein anerkannt wurden, rückt nun an Bravermans Stelle an die Spitze des Home Office. Dieser Personalwechsel wäre an sich schon bemerkenswert. Die Ernennung des ehemaligen Premierministers David Cameron zum Außenminister stellte diese Entscheidung jedoch in den Schatten.
Cameron war 2016 nur wenige Stunden nach Bekanntgabe des Brexit-Referendums zurückgetreten, da seine Glaubwürdigkeit nach der verloreneren Referendumskampagne nachhaltig beschädigt war. Während die Einschätzungen in den Medien zur Rückkehr Camerons in das Kabinett eher kritisch bis gemischt ausfallen, ist es unzweifelhaft, dass dem Premierminister mit dieser Personalentscheidung ein Coup gelungen ist. Niemand hatte mit der Berufung des ehemaligen Regierungschefs gerechnet. Er ist damit der erste Außenminister seit Lord Carrington (Amtszeit 1979-1982), der nicht im britischen Unterhaus einen Sitz hat. Um diese Berufung überhaupt zu ermöglichen, ließ Sunak seinen Amtsvorgänger kurzum durch König Charles III in den Adelsstand erheben und zu einem Mitglied des parlamentarischen Oberhauses, dem House of Lords, machen. Die Verantwortung für das destabilisierende Brexit-Referendum wirft ohne Frage einen Schatten auf Camerons Amtszeit. Auch lässt sich an manchen seiner damaligen Entscheidungen in der Außenpolitik im Hinblick auf China, Syrien und Libyen berechtigte Kritik üben. Innenpolitisch wird dem ehemaligen Premierminister von der Opposition vorgeworfen, dass seine Austeritätspolitik die Leistungsfähigkeit des britischen Staates verringert und regionale Ungleichheiten verstärkt habe. Zusätzlich zu diesem Ballast kommt ein Lobbying-Skandal, in welchen er nach Ende seiner Amtszeit verwickelt war. Während Lord Cameron damit ein gewisses Maß an Angriffsfläche bietet, sprechen triftige Gründe für seine Berufung. Als politisches Ausnahmetalent verfügt er über einen Erfahrungsschatz und ein Prestige wie kaum ein anderer lebender Tory-Politiker. Er benötigte keinerlei Einarbeitungszeit für sein neues Amt im „Foreign, Commonwealth and Development Office“. Seine ersten Dienstreisen in die Ukraine und den Nahen Osten vollzog er in einer Art und Weise, als wäre er nie weg gewesen.
Die „Rishification“ der Conservative Party
Mit Lord Cameron im Foreign Office, James Cleverly im Home Office und dem ebenso erfahrenen Jeremy Hunt als Schatzkanzler hat Premierminister Sunak nun ein verlässliches Team um sich versammelt, um den anstehenden Wahlkampf zu bestreiten. Gleichzeitig versprechen alle Inhaber dieser „great offices of state“, sich in der jetzigen schwierigen Situation als Teamplayer hinter Sunak zu versammeln und ihn zu unterstützen. Innenminister Cleverly wird bei der Bekämpfung illegaler Migration und im Umgang mit der gesellschaftlichen Polarisierung in Folge des Krieges im Nahen Osten reichlich von seiner Erfahrung im Außenministerium Gebrauch machen können, zumal heute die Grenze zwischen Außen- und Innenpolitik volatiler denn je ist. Und Schatzkanzler Jeremy Hunt bewies bei der jüngsten Präsentation des „Autumn Statement“, trotz begrenztem fiskalischen Spielraum mit neuen finanziellen Entlastungen für die Menschen die richtigen Signale zu setzen. Eine spontane Umfrage von YouGov nach dem „Autumn Statement“ ermittelte ein Plus von vier Prozent bei der Unterstützung der Tories. Auch wenn dies natürlich nur eine Momentaufnahme ist, zeigt sich doch, wie hilfreich die Persönlichkeit des Schatzkanzlers ist, der gleich neben dem Premierminister in 11 Downing Street seinen Sitz hat.
Die jüngste Kabinettsumbildung nutzte Sunak auch dazu, um im weiteren Regierungsumfeld wichtige Positionen mit vertrauten Personen zu besetzen. Vor allem sind es jene Frauen, die erst 2019 in das Unterhaus gewählt wurden und mit einer beruflichen Erfahrung als politische Beraterinnen und kommunikativem Talent ausgestattet sind. Zu nennen sind hier vor allem Claire Coutinho (38, ehemalige enge Beraterin von Sunak im Schatzamt, jetzt Energieministerin), Laura Trott (38, die bereits für David Cameron gearbeitet hat und jetzt den einflussreichen Posten des „Chief Secretary to the Treasury“ bekommen hat) sowie Laura Farris (45, die in den USA für Hillary Clinton gearbeitet hat und nun Parlamentarische Staatssekretärin für Opferschutz und Gewaltprävention ist). Das einflussreiche konservative Wochenmagazin „The Spectator“ schrieb in diesem Zusammenhang von einer „Rishification“ der Regierungspartei. Es verdeutlicht auch, dass es Sunak in den Monaten vor den Wahlen verständlicherweise nicht nur um das Einlösen von politischen Versprechungen geht, sondern auch um das bessere „Verkaufen“ der Regierungsarbeit.
In Westminster, wo sich die gesamte Politik in der britischen Hauptstadt versammelt, überwiegt die Analyse, dass Sunak vor allem aus zwei Motiven zu dieser Kabinettsumbildung mit der Berufung David Camerons entschlossen war. Zum einen wollte er mit der Ernennung eines derart prominenten Außenministers sich selbst Raum verschaffen, um sich vor allem der Wirtschafts- und Innenpolitik zu widmen. Und das werden wahrscheinlich auch die entscheidenden Themen des kommenden Walkampfes werden. Zum andern interpretieren viele die Berufung von Cameron als ein Hinweis darauf, dass er im Wahlkampf die Auseinandersetzung mit den Liberal Democrats um die Wahlkreise in der „Blue wall“ im Süden England strategisch in den Mittelpunkt setzen wird. Aufgrund des britischen Direktwahlsystems könnte das zu einem mitentscheidenden Faktor werden. Politiker wie Sunak, Hunt, Cleverly und Cameron verkörpern diesen traditionellen „conservative mainstream“, der im eher wohlhabenden und südlichen Teil des Landes gut ankommt. Es ist ein Politikstil, der zwar hart in der Sache ist, aber eben mit Anstand und die Grenze zum rechten Populismus nicht überschreitet (so wie es in Teilen der Conservative Party aber noch der Fall ist). Es gibt sogar Stimmen, die so weit gehen und behaupten, dass Sunak mit der Berufung Camerons den Norden und die Midlands für die Tories bei diesen Wahlen aufgegeben hat.
Sunaks „five priorities“
Mit höchstens einem Jahr bis zu den Wahlen brauchen Rishi Sunak und die britischen Konservativen in der Tat eine Strategie, um das Ruder vielleicht doch noch herumzureißen. Unter konservativen Politikern und Beratern wird viel diskutiert, was ein sogenannter „game changer“ sein könnte und wo im Kern die „dividing line“ zur oppositionellen Labour Party liegen müsse. Zwei Versuche Sunaks, ein derartiges Startsignal zu setzen, sind bereits verpufft. Weder seine Parteitagsrede im Oktober entfachte Wirkung, in welcher er sich überraschend als ein Kandidat des epochalen Wandels positionierte („the 30 year status quo I am here to end“), obwohl er selbst und seine Partei seit vielen Jahren das Land regieren - noch die Verkündung des Regierungsprogramms im Rahmen der „King’s Speech“ mit seiner Vielzahl von Gesetzesinitiativen, der aber das überwölbende politische Narrativ fehlte.
Premierminister Sunak wird als Technokrat wahrgenommen. Dementsprechend will er sich weniger an seinem (fehlenden) Charisma, sondern an seiner Leistung messen lassen. Die gute Nachricht für ihn ist, dass sein Herausforderer, Labour Leader Keir Starmer, ebenso wenig charismatisch ist. Während Starmer jedoch den Vorteil hat, als Oppositionsführer an seinen Worten gemessen zu werden, zählen für Sunak und die regierenden Tories zuallererst konkrete Ergebnisse. Bereits im Januar dieses Jahres hat er demzufolge die „five priorities“ verkündet – fünf politische Ziele, an denen er sich persönlich und die gesamte Regierungsarbeit messen lassen will ("I fully expect you to hold my government and I to account on delivering those goals"). Er kündigte an, dass seine Regierung die Inflation halbieren, die Wirtschaftsleistung vergrößern und die Schuldenlast des Landes abbauen wolle. Auch sollten die Wartezeiten für Patienten im Nationalen Gesundheitsdienst NHS verkürzt und die illegale Migration mit Schlauchbooten über den Ärmelkanal gestoppt werden. Die Bilanz nach einem Jahr ist durchwachsen: Auf der Habenseite steht, dass die Inflation von 10,7% auf jetzt 4,6% bereits halbiert ist. Bei der Wirtschaftsleistung und dem Schuldenabbau sieht es nicht so eindeutig aus, die definitiven Zahlen gibt es erst im nächsten Jahr. Auch die Wartezeiten im NHS sind immer noch sehr hoch, im September warteten allein in England 7,7 Millionen Menschen auf ihre Behandlung. Bei der illegalen Migration kommuniziert die Regierung, dass alles nach Plan läuft. Im gesamten Jahr 2022 haben 45.755 Menschen die gefährliche Flucht über den Ärmelkanal unternommen, in 2023 sind es Stand Oktober bisher 27.284, ein Drittel weniger als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr. Das von der Regierung im Juli verabschiedete „Illegal Migration Bill“ hat dazu aber wohl weniger beigetragen. Der Kern des Gesetzespakets, der die Abschiebung der illegalen Flüchtlinge per Flugzeug nach Ruanda vorsieht, wurde bereits vom Supreme Court als unrechtmäßig einkassiert.
Es ist davon auszugehen, dass im Wahlkampf die wirtschaftliche Entwicklung und die Kostenbelastungen der breiten Bevölkerung eine dominierende Rolle spielen werden. Daher ist eine positive Bilanz bei den drei wirtschaftspolitischen Prioritäten nicht unwichtig. Gleichwohl brauchen die Tories im Wahlkampf ein-zwei weitere Themen, die sich als sogenannte „wedge issues“ eignen – kontroverse Themen, mit denen sie einen klaren Kontrapunkt zu Labour oder auch den Liberal Democrats setzen können.
Klimapolitik mit Augenmaß und Innere Sicherheit
Sunaks Parteitagsrede und die King’s Speech lassen vermuten, dass hierbei die Themen Energie und Klima sowie das Thema Innere Sicherheit die zentrale Rolle spielen könnten. Vor dem Hintergrund hoher Belastungen für Unternehmen und Normalbürger hat Sunak die sehr ambitionierte britische Klimapolitik bereits vorsichtig moderiert. Eine Klimapolitik mit Augenmaß würde in der Tat einen klaren Kontrapunkt zu Labour und Lib Dems setzen. Mit der Ankündigung, wieder zu jährlichen Lizensierungsverfahren von Öl und Gas aus der Nordsee zu kommen, möchte seine Regierung gleichzeitig die eigenen Energiereserven maximal ausnutzen, die Resilienz der Energieversorgung sichern und Verbraucher vor steigenden Energiepreisen schützen. Beim Thema Innere Sicherheit werden die Tories versuchen, Labour als zu zögerlich bei der Bekämpfung von Gewalt, Hass und vor allem der illegalen Migration zu brandmarken. Der Ruf „Stop the boats“, also die Eindämmung der illegalen Schleusung von Flüchtlingen über den Ärmelkanal, ist bereits zu einem zentralen Slogan der konservativen Agenda geworden. Das könnte sich als Bumerang erweisen, weil das Vorhaben der Regierung, illegale Flüchtlinge ohne Verfahren nach Ruanda abzuschieben, gerichtlich untersagt wurde. James Cleverly als neuer Innenminister steht in diesen Tagen bereits enorm unter Druck, einen Plan B vorzulegen. Aber auch Rishi Sunak hat sich diese Angelegenheit sehr zu eigen gemacht - nicht nur, weil sie einer seiner fünf Prioritäten darstellt, sondern auch weil der Erwartungsdruck aus seiner Parlamentsfraktion, hier zu liefern, enorm ist.
Rishi Sunak hat seine Regierung und die Conservative Party nunmehr personell und inhaltlich so aufgestellt, wie er es für richtig hält. Er übernimmt damit die volle Verantwortung für den Wahlausgang im kommenden Jahr. Der von ihm auf dem Parteitag in Manchester gewählte Slogan „Long-term decisions for a brighter future“ unterstreicht den Anspruch, dass seine Tories auch in Zukunft die Geschicke der Nation verantworten wollen. Entschieden wird erst am Wahltag allein durch die Wählerinnen und Wähler in den 650 Wahlkreisen - es deutet aber vieles darauf hin, dass die Conservative Party das demnächst aus der Opposition heraus unternehmen wird. In Westminster wird bereits darüber spekuliert, in welche Richtung die Partei dann personell und inhaltlich gehen wird. Zuerst müsste erneut ein Leader gewählt werden, der dann fünfte innerhalb von nur fünf Jahren. Es wird ein Kampf um die Seele der Partei. Dass sich dann der nationalkonservative Flügel durchsetzen wird, ist aber gar nicht ausgemacht. Der renommierte Parteienexperte Tim Bale wies kürzlich darauf hin, dass Unterstützer Sunaks in einem disproportional hohen Ausmaß zu denen gehören werden, die ihren Parlamentssitz wahrscheinlich behalten werden. Bei der Auswahl der Kandidaten für eine innerparteiliche „leadership election“ spielt die Parlamentsfraktion die ausschlaggebende Rolle. Es wäre daher nicht unwahrscheinlich, dass der neue Leader aus dem jetzigen Kabinett Sunak stammt. Auf lange Sicht entscheidend wird es aber sein, ob die Conservative Party wieder die Kraft und das Potenzial zu jener Anpassungsfähigkeit findet, die sie über viele Jahrzehnte zu eine der erfolgreichsten politischen Partei der westlichen Welt gemacht hat.
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