Ein zermürbender Wahlkampf voller Überraschungen
Die einzige Gewissheit, die man aus dem Wahlkrimi der letzten Monate ableiten kann, ist die, dass in Argentinien politisch alles möglich ist. Nach einer empfindlichen Abstrafung der peronistischen Regierung bei den parlamentarischen Zwischenwahlen 2021 war man sich in dem etablierten Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio, bestehend aus den Parteien Propuesta Republicana (PRO), Unión Cívica Radical (UCR) und Coalición Cívica (CC) des Sieges bei den Präsidentschaftswahlen 2023 gewiss. So gewiss, dass der interne Machtkampf um die Kandidatur erbittert und mit allen Mitteln bis zu den Vorwahlen im August 2023 ausgefochten wurde. Man hatte den exzentrischen Außenseiter Javier Milei klar unterschätzt und über die internen Querelen die Außenwirkung sträflich vernachlässigt. Bei den Vorwahlen kämpfte sich Milei überraschend auf den ersten Platz, gefolgt von Juntos por el Cambio (Patricia Bullrich) und Unión por la Patria (Sergio Massa). Die Wähler schienen sich klar für einen Wandel und gegen die amtierende peronistische Regierung ausgesprochen zu haben; umso überraschender setzte sich dann Sergio Massa durch die Mobilisierung der gesamten peronistischen Maschinerie bei den Wahlen am 22. Oktober durch. Nicht wenige sahen ihn schon als sicheren Sieger und somit blieb der Wahlausgang bis zum letzten Moment ungewiss und der Wahlkampf hoch spannend.
Doch wer ist der zukünftige Staatspräsident Javier Milei und wie schaffte es der politische Newcomer, dem mächtigen Peronismus eine der schlimmsten Wahlniederlagen in seiner Geschichte zu bescheren?
Javier Milei: vom exzentrischen Außenseiter zum Staatspräsidenten
Der sich selbst als Anarcho-Kapitalist bezeichnende Javier Milei hat viele Gesichter und eine schillernde Vergangenheit. Der 53-jährige Volkswirt bestritt seinen Lebensunterhalt in den letzten Jahrzehnten auf ganz unterschiedliche Weise, u.a. als Rocksänger, Stand-Up-Comedian, Schauspieler, Tantra-Sex-Coach, aber auch als Wirtschaftskommentator in Talk-Shows und Wirtschaftsberater eines bedeutenden Unternehmers. In die Politik ging er erst 2021 mit der Gründung seiner Partei La Libertad Avanza (LLA), für die er bei den parlamentarischen Zwischenwahlen 2021 ein Abgeordnetenmandat errang. Seine Anhänger begeisterte der Mann mit der wilden Mähne bis August bei Auftritten in Lederjacke mit Kettensäge zu Rockmusik. Die Privilegien des politischen Establishments, von ihm als Kaste bezeichnet, wolle er ausmerzen, die Zentralbank abschaffen und die Wirtschaft dollarisieren. Milei gelang es, innerhalb kürzester Zeit zum Sprachrohr der Politikverdrossenen des Landes zu avancieren.
Der Rechtspopulist brachte sich jedoch auch durch deutlich polemischere Aussagen ins Gespräch. So trat er für eine Liberalisierung des Organhandels und des Waffenrechts ein, forderte die Abschaffung des Rechts auf Abtreibung, leugnete die menschliche Verantwortung für den Klimawandel und bezeichnete den argentinischen Papst Franziskus als Vertreter des Bösen auf Erden. Seine zukünftige Vizepräsidentin Victoria Villarruel, Tochter eines Militärs, forderte eine neue Erinnerungskultur, in der nicht nur der zivilen Opfer in der Militärdiktatur, sondern auch den Opfern von linkem Terrorismus in Kreisen des Militärs gedacht werden soll – eine viel kritisierte Position in einem Land, das unter der brutalen Militärdiktatur sehr gelitten hat. Milei – wohl selbst nach den Vowahlen von der Möglichkeit des eigenen Sieges überrascht – mäßigte seinen Diskurs seither spürbar. Der Politiker, der für seine Wutausbrüche z.B. gegenüber Journalisten berüchtigt ist und oft als verrückt bezeichnet wird, trat vor allem in den letzten Wochen vor der Stichwahl zurückhaltender und bei der letzten Präsidentschaftsdebatte fast schon demütig auf.
Der gewählte Präsident, dessen Partei LLA im neuen Nationalkongress mit 38 von 257 Sitzen im Abgeordnetenhaus und mit 8 von 72 Sitzen im Senat nur relativ kleine Fraktionen stellen wird, versuchte in den letzten Wochen, den Wandel vom Anti-System-Rebell zum Staatsmann zu vollziehen, um für eine Mehrheit der Argentinier wählbar zu werden und den Boden für die Unterstützung seiner Projekte durch andere Parteien zu bereiten. So wäre der Wahlsieg ohne die öffentliche Unterstützung durch Mauricio Macri und Patricia Bullrich wohl kaum möglich gewesen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass auch diese Verhandlungen mitausschlaggebend für die Mäßigung seiner Positionen waren, was aber auch auf Kritik bei den eigenen Parteifreunden stieß, die eine Einbindung von Politikern der „Kaste“ kritisch bewerten.
Nachdem Sergio Massa seine Wahlniederlage bereits früh am Wahlabend eingeräumt und Milei gratuliert hatte, hielt dieser seine Siegesrede erst gegen 21.45 Uhr in ruhigem Ton und wohl durchdacht. Milei betonte, dass der letzte Tag der Dekadenz des argentinischen Systems gekommen sei und ab sofort der Wiederaufbau beginne, um an den Glanz vergangener Zeiten anzuschließen. Er forderte von der scheidenden Regierung eine geordnete und verantwortungsvolle Transition und lud alle ein, am liberalen Wandel Argentiniens mitzuarbeiten. Gleichzeitig betonte er, dass das Land sich in der tiefsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte befinde und eine bessere Zukunft nur durch harte Arbeit erreichbar sei.
Peronistische Niederlage trotz virtuosem Wahlkampf
Dass der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister Sergio Massa bei den verheerenden Wirtschaftsdaten überhaupt eine reelle Chance auf den Sieg haben könnte, hätte noch vor wenigen Monaten niemand für möglich gehalten. Doch nach den für ihn selbst und den Peronismus enttäuschenden Vorwahlen bespielte der Wirtschafts- und Finanzminister und erfahrene Politiker Massa die gesamte peronistische Klaviatur. Sämtliche Gewerkschaften, soziale Bewegungen, dem Peronismus nahestehende Unternehmer und Politiker auf allen Ebenen wurden erfolgreich für den Wahlkampf mobilisiert. Im Mittelpunkt der Strategie stand eine Kampagne der Angst: Milei wurde als psychisch unzurechnungsfähig dargestellt und den Menschen wurde erläutert, welche Privilegien bei einem Sieg von Milei auf dem Spiel stünden, darunter Subventionen von Gas, Wasser, Strom und dem öffentlichen Personennahverkehr, kostenlose Bildung und Gesundheit. Dafür setzte das Wahlkampfteam von Massa auch gezielt von künstlicher Intelligenz produzierte Bilder ein, darunter z.B. das Gesicht von Milei in Szenen aus den Filmen Clockwork Orange und Fear and Loathing in Las Vegas und ein Deepfake, in dem Milei seine Ideen für die Liberalisierung des Organhandels erläutert.
Seit den Vorwahlen am 13. August setzte der Minister Massa knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für finanzielle Erleichterungen für bestimmte Wählergruppen und somit zugunsten des Kandidaten Massa ein. Eine derart schamlose Kooptation staatlicher Ressourcen für einen Wahlkampf ist selbst in der bewegten argentinischen Geschichte beispiellos. Massa hinterlässt der zukünftigen Regierung somit ein Land mit leeren Kassen und ohne Devisenreserven.
Da der Staatspräsident Alberto Fernández seit mehr als einem Jahr kaum mehr in Erscheinung tritt, ist Sergio Massa derzeit das prominenteste Gesicht der peronistischen Regierung. Überraschenderweise verstand er es im Wahlkampf virtuos, sich von dieser zu distanzieren und sich vielmehr als eine Art Kontrollinstanz für die extremistischen Ideen Mileis zu inszenieren. So gelang es ihm, den Gegenkandidaten beim Fernsehduell eine Woche vor der Stichwahl in die Ecke zu drängen und wie in einem Verhör zu seinen polemischsten Aussagen zu befragen und Rechenschaft zu fordern. Milei, der von dieser Taktik völlig überrumpelt zu sein schien, sah neben dem versierten Berufspolitiker Massa so verschreckt und unbedarft aus, dass sich viele Zuschauer mit ihm als Opfer solidarisierten. Massa hatte den Bogen klar überspannt. Schließlich war er es, der Rechenschaft für die verheerenden Wirtschaftsdaten hätte ablegen müssen und die Arroganz und Überheblichkeit gegenüber Milei stand ihm nicht gut zu Gesicht. Selbst in der peronistischen Hochburg par excellence, der Provinz Buenos Aires, schnitt Massa enttäuschend schlecht ab und lag nur 1,5% vor Milei. Es ist anzunehmen, dass die Skandale der letzten Wochen um die Korruptionsstrukturen im Parlament der Provinz Buenos Aires, die persönliche Bereicherung eines hochrangingen peronistischen Politikers und der Skandal um illegale Spionage in den Kirchner-Regierungen doch nicht spurlos an Massa vorübergegangen sind.
Die historische Wahlschlappe wird auch Folgen für die Machtverhältnisse innerhalb des Peronismus haben. Größtenteils unbeschadet ging lediglich der Gouverneur der Provinz Buenos Aires Axel Kicilof aus der Wahl hervor, der mit deutlichem Abstand wiedergewählt wurde. Dass die 16-jährige Kirchner-Ära ihrem Ende zugeht, kann wohl als gesichert gelten. Es ist durchaus möglich, dass gemäßigte Vertreter des föderalen Peronismus in den nächsten Jahren an Einfluss gewinnen können. So hatte der der föderale Peronist und Gouverneur von Córdoba, Juan Schiaretti, bei den Wahlen am 22. Oktober stolze 7% der Stimmen erzielt. Massa war es nicht gelungen, die Wähler von Patricia Bullrich und Juan Schiaretti in der Stichwahl signifikant für sich zu mobilisieren. Während Javier Milei in der Stichwahl um ca. 26% zulegte, konnte Sergio Massa nur etwas mehr als 7% hinzugewinnen.
Nichtsdestotrotz wird der Peronismus auch in den kommenden Jahren politisch eine bedeutende Rolle spielen, da er in beiden Kammern des Nationalkongresses die größten Fraktionen stellt und über mindestens 9 Gouverneure verfügen wird.
Große Herausforderungen in bewegten Zeiten
Für jede politische Kraft hätte die Regierungsübernahme in diesen vor allem wirtschaftspolitisch schweren Zeiten eine enorme Herausforderung dargestellt. Die scheidende Regierung hinterlässt ein Land mit knapp 143% Inflation, einer leeren Staatskasse und ohne Devisenreserven. In Argentinien, das vor 100 Jahren zu den reichsten Ländern der Welt gehörte und das über Erdöl, Erdgas, Lithium, zahlreiche Bodenschätze und ein enormes Potential in der Landwirtschaft verfügt, leben derzeit über 40% der Bevölkerung in Armut, 10% in extremer Armut. Die Nettoreserven der Zentralbank sind negativ und die verschiedenen staatlich festgesetzten Dollarkurse und der Schwarzmarktkurs driften auseinander. Die Geldpolitik fördert die Importe und verteuert die Exporte, so dass kaum Produktionsanreize für die internationalen Märkte gesetzt werden. Gründe für die verheerende Entwicklung sind ein aufgeblähter Staatsapparat, ein chronisches Haushaltsdefizit, aber auch die im System tief verankerte Korruption und Vetternwirtschaft. Nachdem die an der Börse in New York gehandelten Aktien argentinischer Unternehmen am Tag nach der Wahl einen Sprung nach oben gemacht haben, bleibt in Argentinien die Sorge der Instabilität auf den Finanzmärkten bis zur Übergabe der Regierungsgeschäfte am 10. Dezember. In seiner Rede am Wahlabend betonte Sergio Massa, ab sofort trage Javier Milei die Verantwortung für die Wirtschaftsentwicklung des Landes. Dieser konterte jedoch sofort, dass er von der Regierung ein verantwortungsvolles Handeln bis zur Übergabe der Regierungsgeschäfte in knapp drei Wochen erwarte.
Bei einer Abschaffung von Privilegien bestimmter Gruppen ist mit Straßenprotesten vor allem von den starken argentinischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu rechnen, die bereits der Regierung Mauricio Macri große Schwierigkeiten bereitet hatten. Bereits in seiner Siegesrede sendete Milei eine klare Botschaft. Er werde mit aller Härte des Gesetzes gegen die vorgehen, die die Regeln nicht achteten.
Große Fragezeichen ergeben sich auch bezüglich der außenpolitischen Orientierung der neuen Regierung. Der gewählte Präsident betonte wiederholt, er wolle intensiv mit der freien Welt kooperieren, jedoch lehne er die Zusammenarbeit mit Kommunisten ab. Wiederholt kritisierte er den sozialistischen Präsident Lula des Nachbarlandes Brasilien massiv. Den im August beschlossenen BRICS-Beitritt Argentiniens lehnt Milei ab. Die Privatwirtschaft könne frei entscheiden, mit wem sie Geschäfte machen wolle, jedoch würde er keine offiziellen Beziehungen zu bestimmten Staaten pflegen. Dies birgt vor allem daher Sprengstoff, da Brasilien und China Argentiniens wichtigste Handelspartner sind und nur durch wiederholte Währungs-Swaps mit China in den letzten Monaten überhaupt der IWF-Kredit bedient werden konnte. Es wird sich voraussichtlich sehr bald die Frage stellen, ob sich die neue Regierung eine Außenpolitik nach einem schematischen Freund-Feind-Denken überhaupt leisten kann.
Die Ablehnung des Status Quo hat über die Angst vor dem Unbekannten gesiegt
Die jubelnden Mengen auf den Straßen von Buenos Aires am Wahlabend und der Sieg Mileis mit doch deutlichem Vorsprung vor Massa dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der zukünftige Präsident in einer sehr schwachen Ausgangslage befindet. Milei ist es gelungen, in der Stichwahl 26% zuzulegen. Diese Wähler sind jedoch keine Stammwähler, sondern sie haben ihre Stimme im Oktober Patricia Bullrich oder Juan Schiarretti gegeben. Sie haben nicht in erster Linie für Javier Milei, sondern gegen Sergio Massa und den Peronismus kirchneristischer Prägung gestimmt. Die Mehrheit der argentinischen Wähler stützt keine rechtspopulistischen Positionen, sondern fordert eine Liberalisierung der Wirtschaft. Ohne die Unterstützung von Mauricio Macri und Patricia Bullrich sowie der Mitglieder der PRO in der Überwachung der Wahllokale hätte Milei die Wahl wohl kaum gewinnen können. Vielen ist der verrückte, exzentrische und teils auch extremistische Milei bis zuletzt fremd geblieben. Trotzdem hatte Sergio Massa mit seiner Kampagne der Angst keinen Erfolg. Die Angst vor dem „weiter so“, vor der fortschreitenden Dekadenz der argentinischen Wirtschaft und Gesellschaft war größer als vor dem Sprung ins Ungewisse. Das ist ein verheerendes Urteil für die Politik der vergangenen Jahrzehnte.
Die Erwartungen an Javier Milei sind dementsprechend hoch und die Ausgangsbedingungen, diesen Erwartungen auch gerecht werden zu können, denkbar schlecht. Selbst wenn es dem zukünftigen Präsidenten gelingen sollte, für seine Projekte auf die Unterstützung der PRO zählen zu können, wäre das für Mehrheiten im Parlament nicht ausreichend. Sogar die gesamte Fraktion von Juntos por el Cambio würde Milei nicht die nötigen Mehrheiten im Nationalkongress beschaffen. Das Oppositionsbündnis ist jedoch über die Frage nach der Unterstützung Mileis oder Massas bereits zerbrochen. Die Coalición Cívica gab noch am Abend der Wahl Mileis den Austritt aus dem Bündnis bekannt. Die UCR, die sich vor der Wahl neutral verhielt, scheint bisher keine gemeinsame Position gefunden zu haben und selbst die PRO ist gespalten. Somit ist damit zu rechnen, dass die Wahlen zu einer tiefgreifenden Umwälzung und Neukonstellation der argentinischen Parteienlandschaft führen werden.
Dem neu gewählten Präsidenten kommt jetzt die schwierige Aufgabe zu, Vertrauen aufzubauen, um die Finanzmärkte unter Kontrolle zu halten und die Grundlage für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu schaffen. Die argentinische Demokratie hat in den turbulenten Wahlprozessen der letzten Monate ihre Stabilität und Institutionalität unter Beweis gestellt. Aufgrund der Ergebnisse der demokratischen Wahlen und der dadurch geschaffenen Mehrheitsverhältnisse wird der Staatspräsident Milei sich in ständigen Aushandlungsprozessen mit den im Parlament vertretenen Parteien befinden. Es ist zu hoffen, dass dadurch extreme Positionen abgeschwächt werden und ein für die Mehrheit der Argentinier gangbarer Weg beschritten wird. Argentinien ist ein wichtiges Land mit großem Potential und Europa sollte an einer engen Zusammenarbeit mit einem demokratischen, stabilen Argentinien großes Interesse haben.Bereitgestellt von
Auslandsbüro Argentinien
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