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Länderberichte

Estland vor den Wahlen

von Marion Reckmann, Elisabeth Bauer

Wer macht das Rennen an der Spitze?

Am 3. März wird in Estland ein neues Parlament gewählt. Die heiße Phase des Wahlkampfs beginnt und überall verheißen Wahlversprechen die Aussicht auf eine bessere Zukunft. Während von allen Seiten die Wirtschafts- und Steuerpolitik diskutiert wird, sorgen rechte Parteien für Provokationen. An der Spitze ist dabei noch nicht die Frage geklärt, wer in Führung gehen wird: Hält die Zentrumspartei ihren Regierungsanspruch oder übernimmt die aktuell oppositionelle Reformpartei?

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Der Kampf um Wählerstimmen in Estland wird enger

Traditionell gilt die Reformpartei (Eesti Reformakond) als stärkste Kraft in Estland seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1991. Nachdem die Partei ihre Regierungsbeteiligung 2016 durch ein Misstrauensvotum an die Zentrumspartei abgeben musste, hat sie dieses Jahr den Wahlsieg im Visier. Obwohl die Umfragewerte in den letzten Monaten gesunken waren und der Abstand zur Zentrumspartei größer wurde, scheint sich das Blatt nun zu wenden und ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen abzuzeichnen. Mit circa 12 200 Mitgliedern stellt sie aktuell die zweitgrößte Partei des Landes und kann bei Umfragen 24% erzielen. Parteivorsitzende Kaja Kallas, die Tochter des früheren Ministerpräsidenten und EU-Kommisars Siim Kallas, der nun wieder für das Parlament kandidiert, setzt auf die Stärken der Partei und legt ihren Fokus auf Schulpolitik, Innovation und insbesondere auf eine Revolution des derzeitigen Steuersystems. Die Regierungspolitik der letzten Jahre sei für den starken Preisanstieg und ungerechte Steuern verantwortlich. Dies soll durch Steuersenkungen und einem Steuerfreibetrag von 500 Euro monatlich geändert und die Mittelschicht gestärkt werden.

Die Zentrumspartei ist jedoch kein leichter Gegner. Mit Premierminister Jüri Ratas, der eine Abkehr vom System um den langjährigen Tallinner Bürgermeister Edgar Savisaar verkörpert, hat sie sich in den letzten drei Jahren nicht nur bei ihrer Stammwählerschaft profilieren können. War es etwa 2011 für andere estnische Parteien unvorstellbar, mit dem Zentrum zu kooperieren, zeigt sich der innerparteiliche Wandel auch in den Zustimmungswerten bei Wählern und Parteien und einer neuen Bereitschaft, mit der Partei zu koalieren. Im Dezember lag sie mit knapp 30% klar in den Umfragen vorne und ist mit knapp 15 000 Mitgliedern derzeit die größte Partei des Landes. Nun zeichnen sich aber Tendenzen ab, dass die Umfragewerte sinken und sich von Zentrums- und Reformpartei näher anpassen. Von ihrer Politik sollen insbesondere Familien zukünftig mehr profitieren, verkündigt Ratas. Zudem sollen die Pensionen steigen, während die Verbrauchersteuern sinken. Aktuell macht die Partei mit ihrem Vorschlag zum Ausbau des kostenlosen Nahverkehrs aufmerksam und fordert, dass alle Bürger des Landes kostenlos in Tallinn die öffentlichen Transportmittel nutzen dürfen.

Fokus der Aufmerksamkeit liegt rechts

Der Kampf um Stimmen findet bei der kommenden Wahl größtenteils im politisch rechten Spektrum statt. Mit Isamaa, Estland 200 und EKRE rechnen sich drei Parteien Erfolgschancen aus, während die aktuell noch im Parlament vertretene konservative Freie Partei voraussichtlich an der 5% Hürde scheitern wird.

Vom engen Kampf der rechten Parteien, kann die konservative Isamaa rund um Vorsitz Helir-Valdor Seeder bislang nicht profitieren. Seit Monaten hängt sie in den Umfragen konstant bei 5%, aber hat bereits in vergangenen Wahlen gezeigt, dass sie am Wahltag stärker hervorgehen kann. Seit 2007 trägt die Partei als Koalitionspartner in den verschiedenen Legislaturperioden Regierungsverantwortung. Wie die anderen Parteien sieht Isamaa dringenden Änderungsbedarf im Steuersystem. Statt wie einer von der Reformpartei geforderte „Steuerrevolution“, soll das aktuelle System lediglich unternehmerfreundlicher umgestaltet werden. Des Weiteren hält man sich an eine konservative Migrations- und Familienpolitik. Ein Verständnis von der Ehe als Zusammenschluss zwischen Frau und Mann soll in die Verfassung aufgenommen werden.

Unrealistische Versprechen von EKRE

Derweilen starken Zuspruch enthält die national-konservative Estnische Volkspartei (EKRE) rund um Parteivorsitzenden Mart Helme und seinen Sohn Martin Helme. Beide treten in der Öffentlichkeit gemeinhin im Doppelpakt auf. Im Kern wird weiterhin ein Europa-kritischer Kurs und eine Asyl-feindliche Politik vertreten. So soll das EU Quoten-System zur Flüchtlingsverteilung nicht weiter akzeptiert und Estlands Souveränität innerhalb der EU gestärkt werden. Zusätzlich zu einer klaren Definition von Ehe in der Verfassung, soll das geltende Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare abgeschafft werden. EKRE zeigt sich in ihren Forderungen unrealistisch und gar gefährlich. In den Umfragen liegt die Partei bei über 20%. Für stärkere Grenzsicherung und militärische Unterstützung sollen die USA eine Million Euro bereitstellen. Versprechen nach diversen Steuersenkungen werden ohne konkrete Pläne gestreut. Für Aufregung sorgt ebenfalls Ruuben Kalep, Vorsitzender des jungen Parteiflügels. Er hat zugegeben mit gefälschten Accounts und unter Pseudonymen in den sozialen Netzwerken Beiträge zu verfassen und verweist auf weitere Mitglieder der Partei, die auch so handeln. Die Positionierung am rechten Rand wird von den anderen im Parlament vertretenen Parteien nicht geduldet und es haben bereits die Reformpartei (wiewohl mit kontroversen Stimmen), die Zentrumspartei, die Sozialdemokraten und Estland 200 angekündigt, unter keinen Umständen mit ihr zu kooperieren. Bedenklich ist, dass EKRE mittlerweile ein breites Netzwerk in den Medien hat und die Demonstrationspolitik auf wenig Widerstand stößt. Das liegt auch an der geringen Verankerung in der Zivilgesellschaft.

Viel Trubel um Estland 200

Die neugegründete Partei Estland 200, die sich selbst als politisches Start-up sieht, zeigt sich ebenfalls im rechten Spektrum gestärkt. Bei aktuellen Umfragen der letzten Monate hält sie sich stabil bei etwa 7 % und ein erstmaliger Einzug in das Parlament gilt als sehr wahrscheinlich. 125 Kandidaten stehen auf ihrer Parteienliste und circa 90% treten zum ersten Mal für einen Sitz im Parlament an. Die Partei erhält ihre Unterstützung von einigen Unternehmern, die für einen schlanken Staat eintreten. Vorsitzende und Spitzenkandidatin Kristina Kallas zeigt sich optimistisch und stark und die Mitgliederzahl steigt täglich. Derweilen sorgt ein bestimmter Neuzutritt in die Partei für besondere Schlagzeilen. Um Mitglied bei Estland 200 zu werden, gibt Lauri Hussar seinen Posten als Chefredakteur bei der größten estnischen Tageszeitung, Postimees, ab. Weitere Schlagzeilen macht die Partei mit einer provokanten Plakataktion. An einer zentralen Bahnhaltestelle in Tallinn forderten Plakate die Reisende auf, sich in zwei Wartebereiche aufzuteilen: eine Seite für Estnisch-stämmige und die andere für russisch-stämmige Personen. Während Parteivorsitzende Kristina Kallas darauf verweist, dass die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen öffentlich diskutiert werden müssen, zeigen sich andere Parteien bestürzt über die Aktion.

Ermüdeter Wahlkampf?

Von verschiedenen Seiten zeichnet sich jedoch Unzufriedenheit mit dem aktuellen Wahlkampf aus. So fehle es an substantiellen Diskussionen und es gebe keinen klaren Fokus. Wichtige Themen werden zwar angeschnitten, aber verlaufen sich danach wieder im Sand. Dabei gibt es durchaus viele Themen, die die junge Republik beschäftigen. Die Diskussion über den UN Migrationspakt hat Ende des Jahres 2018 die Regierung zeitweise in eine Krise gestürzt, da der Isamaa-Justizminister Urmas Reinsalu deutlich sein Nein bekundete. Da die Sozialdemokraten den Pakt unterstützten, aber sich Isamaa dagegenstellte und auch die Zentrumspartei zerstritten war, wurde zunächst keine Zustimmung für das UN Vorhaben gegeben. Als sich allerdings das Parlament deutlicher für den Pakt positionierte und eine Mehrheit erzielte, schwenkte Premierminister Jüri Ratas seinen Kurs um. Schließlich stimmte Estland doch zu und sendete einen Vertreter zur UN Konferenz nach Marrakesch.

Parteienfinanzierung

Mit Abschluss des Jahres sind ebenfalls die Finanzen der Parteien öffentlich dargelegt worden. Anders als bei den Umfragewerten, liegen hier andere Parteien vorne. Mit 800 000 Euro steht Isamaa an der Spitze und erzielt das höchste Nettoeinkommen, gefolgt von der Freien Partei mit einem Einkommen von 449 000 Euro und von EKRE mit 208 000 Euro. Deutlich dahinter liegt die Reformpartei mit lediglich 16 000 Euro. Zudem gibt es einige Parteien, die finanzielle Verluste hingenommen haben. Die Sozialdemokraten liegen mit 4000 Euro und die Zentrumspartei sogar mit 135 000 Euro im Minus. Das Nettogehalt setzt sich aus den Mitgliedsbeiträgen, Spenden und einem staatlichen Betrag, gemessen am Wahlerfolg der Partei, zusammen. Die immensen Unterschiede zwischen den Parteien können damit zusammenhängen, inwiefern im vergangenen Jahr bereits für Kampagnenmaterialien ausgegeben wurde und mit wie hohen Einnahmen durch die Wahlergebnisse gerechnet wird.

Am Rande der Aufmerksamkeit

Neben den Parteien, die derzeit unterhalb der 5% Hürde liegen, steht insbesondere das links-liberale Spektrum nicht im öffentlichen Fokus. So sind die Sozialdemokraten zwar aktuell noch Regierungspartner, müssen aber auch mit Verlusten bei der anstehenden Wahl rechnen und liegen laut aktuellem Trend bei 12%. In ihrem Programm fokussieren sich auf Bildungspolitik, die Weiterentwicklung des E-Staats und eine grüne Ökonomie.

Umweltbewusstsein und digitale Lösungen sind auch der Kern der neugegründeten Biodiversitätspartei (Elurikkuse Erakond), die mittlerweile den Namen Reichtum des Lebens trägt und eine Absplitterung der Freien Partei ist. Anders als Estland 200 liegt sie mit 1% noch weit unter der 5% Hürde. Gründer Artur Talvik hat die Partei mittlerweile verlassen und Mihkel Kangur hat die Führung übernommen.

Nach der Wahl ist vor der Wahl

In diesem Jahr werden die estnischen Bürger für zwei wichtige Wahlen aufgefordert: Auf nationaler und auf europäischer Ebene. In vielen Ländern innerhalb der EU werden die Wahlen zum europäischen Parlament als „second order“ nachrangig eingestuft und erzielen eine geringere Wahlbeteiligung als nationale Wahlen. Hierbei macht Estland keine Ausnahme und daher richtet sich die aktuelle Aufmerksamkeit primär auf den 3. März 2019 als bedeutenden Wahltag. Allerdings liegen in diesem Jahr nur zwei Monate zwischen estnischen und europäischen Wahlen, sodass die Kampagnen für die Europa-Kandidaten ebenfalls beginnen. Das ist für die Parteien insbesondere bezüglich der Regulierung der öffentlichen Wahlkampagnen von Bedeutung. Anders als in Deutschland, wo es erst einige Wochen vor der Wahl erlaubt ist, große Wahlwerbung auf den Straßen zu platzieren, gibt es in Estland einen Stichtag für diese Art von Wahlkampf. Zehn Tage vor der Wahl ist es nach estnischem Wahlgesetz verboten, Außenwerbung zu betreiben. Andere Kanäle wie die Sozialen Netzwerke oder allgemein die Medien dürfen weiterhin genutzt werden. Von diesem Gesetz ist allerdings nur die nationale Wahl betroffen und nicht Material bezüglich der Europawahl. Einige Parteien haben somit indirekt die Möglichkeit, öffentlich zu werben. Kandidaten, die unabhängig sind oder einer Partei angehören und sich nicht für den Einzug in den Riigikogu, sondern nur für das Europäische Parlament aufstellen lassen, dürfen weiterhin Plakate auf den Straßen positionieren.

Wahlkampf bleibt somit das dominierende Thema in Estland für die erste Jahreshälfte 2019. In der Vergangenheit hat sich oft gezeigt, dass die tatsächlichen Ergebnisse am Wahltag einige Parteien deutlich stärker oder schwächer dastehen lassen, als vorher vermutet. Es kann also noch einiges passieren. Ein wichtiger Faktor ist die Wahlbeteiligung, die in Estland trotz der Möglichkeit des e-voting vergleichsweise niedrig ausfällt. Die wichtige Frage ist, ob die von EKRE forcierte Radikalisierung verfängt und die Gesellschaft auch in Estland spaltet.

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