Das französische Gesundheitssystem am Tropf
Schon vor dem Ausbruch der Corona-Krise hing das französische Krankensystem am Tropf. Bereits seit mehreren Monaten streikte das medizinische Personal gegen die Sparpolitik der französischen Regierung, die nach Meinung der Arbeitnehmer die Behandlungsqualität und Sicherheit der Patienten gefährde. In der Kritik stand insbesondere der Mangel an Pflegekräften und die damit verbundenen zahlreichen Überstunden, die dem vorhandenen Personal abverlangt werden. Zwar war das Gesundheitsbudget 2019 von 80 auf 82 Milliarden Euro aufgestockt worden; die Gewerkschaften schätzen jedoch, dass mindestens drei bis vier Milliarden Euro nötig wären, um die akuten Personalengpässe zu beseitigen. Am 28. Januar 2020 nahmen erstmals seit 1974 alle Krankenhausgewerkschaften und -verbände gemeinsam an den frankreichweiten Streiks und Demonstrationen teil. Allein in Paris gingen 15.000 Menschen auf die Straße.
Mit der zunehmenden Ausbreitung des Corona-Virus wandte sich der Blick auf den Bereich der Krisenprävention und der Intensivmedizin. Was die Anzahl an Intensivbetten betrifft, liegt Frankreich im OECD-Vergleich nur knapp über dem Durchschnitt von 15,9 Betten pro 100.000 Einwohner. Mit 16,3 Intensivbetten weist die Französische Republik nur halb so viele Betten wie Deutschland auf (33,2).
In der Kritik steht derzeit insbesondere der Mangel an Masken und Schutzkleidung. Gesundheitsminister Olivier Véran gab am 19. März bei der Fragestunde in der Nationalversammlung an, dass der französische Staat 150 Millionen chirurgische Schutzmasken, jedoch keine FFP2-Atemmasken vorrätig habe. Die oppositionellen „Républicains“ erinnerten daran, dass die damalige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot im Jahr 2009 in Vorbereitung auf eine mögliche H1NA-Pandemie rund eine Milliarde chirurgische Masken, sowie 700 Millionen FFP2-Masken erworben hatte. Kostenpunkt dieser Krisenprävention: 150 Millionen Euro für den Einkauf von Masken. Da eine Pandemie ausblieb, wurde Bachelot vom französischen Rechnungshof gerügt und vom politischen Gegner Geldverschwendung vorgeworfen.
Unter Präsident Francois Hollande kam es ab 2013 zu einer Änderung der Vorsorgepolitik: Die Lager wurden geräumt, das Material sukzessive an Krankenhäuser verteilt. Schutzkleidung und Masken werden seither nicht mehr auf nationaler Ebene besorgt und vorgehalten, sondern dezentral und bedarfsgerecht durch die jeweiligen Arbeitgeber eingekauft. Diese Linie rächt sich jetzt bitter. Es ist davon auszugehen, dass der Maskenmangel zentrales Thema eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses sein wird, der ab Herbst den Umgang der Regierung mit der Corona-Krise evaluieren soll.
Hinsichtlich der Todesfälle durch das Corona-Virus liegt Frankreich nach aktuellen Zahlen der Johns-Hopkins-Universität mit knapp 15.000 Toten im weltweiten Vergleich derzeit auf Platz 4 (Stand 14. April) – und damit hinter Italien, den USA und Spanien. In den besonders betroffenen Gebieten, dem Elsass und dem Großraum Paris, ergaben sich schnell Versorgungsengpässe, so dass Patienten per Flugzeug, Helikopter oder medizinisch umgerüsteten TGV-Zügen in weniger betroffene Regionen verlegt werden mussten. Rund 130 französischen Intensiv-Patienten wurden in deutsche Krankenhäuser gebracht. Zur zusätzlichen Entlastung hat die Armee ein Feldlazarett in Mülhausen aufgebaut.
Der lange Weg bis zur Ausgangssperre
Knapp zwei Monate liegen zwischen der Meldung über erste Corona-Patienten in Frankreich (24. Januar 2020) und der Verordnung der Ausgangssperre (16. März 2020). Diese zwei Monate waren durch mehrere Kehrtwende in der Krisenkommunikation geprägt. Nach dem Bekanntwerden der ersten Corona-Fälle auf französischem Boden schätzte die damalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn das Pandemie-Risiko als sehr gering ein. Auch nachdem am 9. Februar fünf weitere Fälle im Ski-Ort Contamines-Montjoie in den französischen Alpen gemeldet wurden, warnte Buzyn vor einer „Ansteckungspsychose“. Zu diesem Zeitpunkt ist die deutlichste Spaltung zwischen der staatlichen Risikoeinschätzung und der tatsächlichen Verunsicherung in der französischen Bevölkerung abzulesen. Nach Zahlen des Meinungsforschungsinstituts IFOP gab bereits am 9. Februar 2020 einer von vier Franzosen an, aus Angst vor einer Ansteckung nicht an den im März anstehenden Kommunalwahlen teilnehmen zu wollen. 26 Prozent der Befragten gaben an, sich bereits Anfang Februar mit Nudeln, Reis, Öl und Klopapier eingedeckt zu haben.
Mitte Februar fand die erste Kehrtwende in der Krisenkommunikation des französischen Gesundheitsministeriums statt. Nach der Einberufung eines Expertenrats am 15. Februar 2020, trat eine Woche später der sogenannte Plan ORSAN in Kraft. Es handelt sich um einen Notfallplan für Gesundheitskrisen, der seit 2014 existiert und zum Beispiel die Möglichkeit der Verschiebung von nicht lebensnotwendigen Operationen sowie eine Aufstockung von Krankenwägen vorsieht.
Auf den Notfallplan ORSAN folgten sukzessive neue Risikoeinschätzungen, die schließlich zur definitiven Ausgangsperre führten. Nachdem am 28. Februar 57 Corona-Fälle in Frankreich registriert worden waren, davon allein 18 im Département Oise nördlich von Paris, rief Frankreich die Sicherheitsstufe 2 aus. Erste Großveranstaltungen wie die Pariser Landwirtschaftsmesse wurden abgebrochen, der Pariser Halbmarathon kurzfristig abgesagt. Die Region Grand Est, die am stärksten von der Pandemie betroffen ist, traf Anfang März erste Sonderreglungen und rief eine „verstärkte Sicherheitsstufe 2“ aus, nachdem eine extrem schnelle Verbreitung des Virus nach der Gebetswoche einer evangelikalen Gemeinde in Mülhausen festgestellt wurde. In der elsässischen Stadt wurden die Schulen geschlossen und im gesamten Département Haut-Rhin Veranstaltungen und Versammlungen von mehr als 50 Personen verboten.
Die Einstufung von Covid-19 als Pandemie durch die WHO am 11. März 2020 führte auch auf nationaler Ebene zu strikten Maßnahmen wie der Schließung von Kitas, Schulen und Universitäten in ganz Frankreich. Die Ausrufung der Sicherheitsstufe 3 führte ab dem 15. März zur vorläufigen Schließung aller Restaurants, Cafés und Bars sowie aller weiteren Geschäfte außer Apotheken und Lebensmittel- sowie Tabakanbietern.
Trotz dieser drastischen Maßnahmen wurde der erste Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März durchgeführt, was in der Folge für scharfe Kritik an der Regierung sorgen sollte. Bereits einen Tag nach den Wahlen verkündete der Staatspräsident die frankreichweite Ausgangssperre, die vorerst für 15 Tage galt und dann um weitere 15 Tage verlängert wurde. Am Ostermontag kündigte Macron eine weitere Verlängerung bis zum 11. Mai an. Die Ausgangssperre, die Macron als Kriegsfeldzug gegen die Pandemie deklarierte, öffnete ein politisches Handlungsvakuum. Aktuell sind alle Reformvorhaben inklusive der stark kritisierten Rentenreform ausgesetzt. Auch der zweite Wahlgang der Kommunalwahlen ist verschoben worden.
Krisenbewältigung als demokratischer Drahtseilakt
Die Frage nach der Geltung von Grundrechten in Ausnahmesituationen stellt sich in Frankreich nicht zum ersten Mal. Über zwei Jahre lang galt der in Folge der Terror-Anschläge vom 13. November 2015 ausgesprochene und mehrfach verlängerte Ausnahmezustand, der im Alltag der Franzosen etwa Zutrittskontrollen zu Kirchen, Kinos und Kaufhäusern mit sich brachte. Er wurde am 31. Oktober 2017 in das „Gesetz zur Stärkung der Inneren Sicherheit und zum Kampf gegen den Terrorismus“ überführt. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg musste Frankreich nachweisen, dass der Rechtsstaat zu keinem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt wurde und zentrale Kontrollinstanzen wie der Verfassungsrat in die Entscheidungen eingebunden waren.
Auch die Corona-Krise wird zunehmend zu einem Drahtseilakt für die französische Demokratie. Die Verschärfung der Sicherheitsstufe fiel mit dem ersten Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März zusammen. Der Präsident befand sich in einer prekären Situation: Eine Absage wäre ihm von der Opposition angesichts der wenig verheißungsvollen Umfragewerte seiner Bewegung La République en Marche als verfassungswidriger Eingriff in ein elementares Grundrecht ausgelegt worden. Die Entscheidung für eine Durchführung des ersten Wahlgangs wird ihm hingegen auch über die Corona-Krise hinaus nachhängen, da mehrere Wahlhelfer, Kommunalpolitiker und Bürgermeister am Virus erkrankt sind und gegen den Staat klagen wollen. Auch wenn die Verschiebung des zweiten Wahlgangs rechtlich grundsätzlich möglich ist, stellen Verfassungsrechtler den zeitlichen Abstand zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang in Frage. Sollte nun der gesamte Wahlprozess in den Herbst verschoben und die Ergebnisse vom 15. März annulliert werden, ist mit weiteren Klagen zu rechnen.
Die von Staatspräsident Emmanuel Macron angekündigte Ausgangssperre wurde im Rahmen des von Senat und Nationalversammlung votierten Gesundheitsnotstands bestätigt. Auch die weiteren Verschärfungen der Ausgangssperre, so zum Beispiel die zeitliche Einschränkung von Aktivitäten außerhalb der Wohnungen auf eine Stunde (19. März 2020), bleiben nicht ohne parlamentarische Kontrolle, sondern werden derzeit im Rahmen der Fragerunden an die Regierung diskutiert. Alle getroffenen Maßnahmen werden derzeit im Sinne der von Staatspräsident Emmanuel Macron ausgerufenen nationalen Einheit durch einen speziellen Informationsausschuss des Parlaments begleitet. Da der Staat sich aktuell im akuten Krisenmanagement befindet, soll ein überparteilicher Untersuchungsausschuss im Herbst die getroffenen Maßnahmen sachgerecht evaluieren.
Insbesondere in vier Bereichen sind weitreichende rechtsstaatliche Fragen zu erwarten:
1. Die Missachtung der gegenwärtig in Frankreich geltenden Ausgangssperre wird mit einem Bußgeld von 135 Euro geahndet. Da es dem kontrollierenden Polizeibeamten unterliegt, das Bußgeld auszusprechen, wurde in den sozialen Medien bereits eine weitreichende Debatte über den hohen Ermessensspielraum der häufig streng auftretenden Polizisten losgetreten.
2. Trotz der zentralstaatlichen Organisation der Maßnahmen, unterliegt es derzeit den Präfekturen, weiterführende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ihrer Départements vorzunehmen. Diese Sonderreglungen schlugen sich bisher in kompletten nächtlichen Ausgangssperren zum Beispiel in Mülhausen oder einer geplanten Maskenpflicht in Nizza nieder. Viele Franzosen werden jedoch zunehmend ungeduldiger und ungehaltener, wenn sie sich konkret in ihren verbleibenden Betätigungsmöglichkeiten eingeschränkt fühlen. So wird ein Jogging-Verbot zwischen 10 Uhr und 19 Uhr in Paris eher als Einschränkung der Bewegungsfreiheit denn als notwendige Schutzmaßnahme wahrgenommen.
3. Das Thema Maskenpflicht könnte in Frankreich insbesondere in Hinblick auf das geltende Verschleierungsverbot für weitreichende rechtliche Debatten führen. Einen ersten Hinweis darauf hat der erste Wahlgang der Kommunalwahlen am 15. März gegeben. Da zur Überprüfung der Identität des Wählers das Gesicht nach französischem Wahlrecht klar erkennbar sein muss, gab Innenminister Christophe Castaner per Dekret am 20. Januar die Anweisung an Wahlhelfer, Wähler darum zu bitten, Schutzmasken im Wahllokal abzusetzen.
4. Auch in Frankreich bereitet das Thema Tracking Datenschützern Sorge. Für erste Unruhe sorgte der digitale Passierschein, den die Franzosen nun auf dem Handy mitführen können, wenn sie ihre Wohnungen verlassen und auf dem neben Name und Wohnort auch Ausgehzeit und –grund anzugeben sind. Innenminister Christophe Castaner musste in einer Pressekonferenz dementieren, dass diese Daten gespeichert und anderweitig genutzt werden. Aktuell wird die Nutzung einer App diskutiert, die die Franzosen auf freiwilliger Basis nutzen können und die darauf abzielt, Sozialkontakte zu erfassen, um bei Erkrankung schneller informieren zu können.
Im Fall Frankreichs hat sich gezeigt, dass die Krisenkommunikation die Königsdisziplin der politischen Kommunikation ist. Gerade zu Beginn der Ausgangssperre wurde der Regierung ein intransparenter, teils diffuser Stil vorgeworfen; die Anweisungen des Staatspräsidenten als zu direktiv wahrgenommen. Ende März kam es zu einer klaren Kehrtwende in der Krisenkommunikation. Premierminister Edouard Philippe und Gesundheitsminister Olivier Véran stellten sich erstmals einer fast zweistündigen Pressekonferenz und versuchten mit Statistiken und Graphiken der französischen Bevölkerung das Krisenmanagement der Regierung zu erklären.
Hilfspakete für Wirtschaft und Arbeitnehmer
Was auch immer es koste, so lautet die derzeitige Marschrichtung des französischen Wirtschafts- und Finanzministeriums. Die im Notstandsgesetz vorgesehenen wirtschaftlichen Maßnahmen zielen darauf ab, zum Schutz von Unternehmern, Arbeitnehmern und Selbstständigen „radikale und massive“ Hilfspakete zu schüren. Geleitet und begleitet wird der Maßnahmenplan durch eine speziell vom Minister Bruno Le Maire eingerichtete „Kommission für wirtschaftliche Kontinuität“.
Konkret legt der französische Staat eine Startsumme von 45 Milliarden Euro auf den Tisch. Hinzu kommen staatliche Garantien in Höhe von 300 Milliarden Euro. Kleine und mittlere Unternehmen können so bei nachgewiesenen Schwierigkeiten eine Bürgschaft für bis zu 90 Prozent der Liquiditätsdarlehen beim Staat beantragen. Das milliardenschwere Unterstützungsprogramm spaltet sich in steuerliche Maßnahmen für Unternehmen und Lockerungen von Regelungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen auf.
Das Kurzarbeitergeld, das in Frankreich normalerweise bis zur Höhe des Mindestlohns ausgeglichen wird, soll im Rahmen der Coronavirus-Epidemie zu 100 Prozent vom Staat gedeckt werden. Maximal kann die Entschädigung das 4,5-fache des Mindestlohns (seit 1. Januar 2020 10,15 Euro pro Stunde, entspricht bei 35-Stunden-Woche einem Monatslohn von 1539,42 Euro) betragen. Das Wirtschaftsministerium beziffert den Kostenpunkt dieser Maßnahme bei einer Laufzeit von 2 Monaten auf 8 Milliarden Euro. Rund 35 Milliarden Euro werden nach derzeitigen Schätzungen in die Steuerentlastungen für Unternehmen fließen. Konkret schlüsseln sich diese in folgende Hilfsangebote: eine vereinfachte Stundung der kommenden Zahlungen von Sozialversicherungsabgabe und Steuern, Möglichkeit zur Beantragung einer verlängerten Zahlungsfrist für Sozialabgaben sowie eine beschleunigte Rückerstattung von Mehrwertsteuer und Steuerguthaben an Unternehmen. Fallabhängig geprüft wird der Nachlass der direkten Steuern für Unternehmen, die sich in einer existenzbedrohenden Lage befinden.
Frankreich richtete zu Beginn der Krise zudem einen Solidaritätsfonds von rund 1 Milliarden Euro ein. Der Fonds richtet sich an Kleinstunternehmen, Kleinunternehmen und Selbstständige mit einem Umsatz von weniger als einer Million Euro. Nachzuweisen sind Umsatzeinbußen von über 70 Prozent zwischen März 2019 und März 2020. Bars und Restaurants erhalten eine automatische Direkthilfe von 1500 Euro. Für kleine und mittlere Unternehmen in Schwierigkeiten können Rechnungen (Wasser, Gas, Strom, Miete) vorübergehend ausgesetzt werden.
Mittelfristig schließt die französische Regierung auch Verstaatlichungen nicht aus. Insbesondere mit Blick auf die Fluggesellschaft Air France kündigte das Wirtschaftsministerium mögliche Schritte gegen die Insolvenz von Unternehmen an, etwa in Form einer Kapitalisierung, einer staatlichen Beteiligung oder notfalls auch einer Verstaatlichung. Diese Ankündigung wurde bisher noch nicht in konkrete Handlungsmaßnahmen überführt.
Wirtschaftsminister Le Maire geht von der schlimmsten Rezession seit 1945 aus. Die Wachstumsrate von -2,2 Prozent während der Finanzkrise 2009 dürfte noch deutlich unterschritten werden. Ursprünglich hatte sein Ministerium diese Einschätzung als Referenzwert veröffentlicht, dann jedoch auf -2,9 Prozent korrigiert. Auch das nationale Statistikamt INSEE sieht pessimistisch in die Zukunft. Eine einmonatige Ausgangssperre könnte Frankreich nach aktuellen Berechnungen 3 Prozentpunkte, ein weiterer Monat zusätzliche 3 Prozentpunkte kosten. Der ursprünglich vorgesehenen 45 Milliarden Euro werden angesichts dieser finanziellen Herausforderungen nicht ausreichen. Das Finanzministerium kündigte eine mögliche Aufstockung auf bis zu 100 Milliarden Euro an.
Angriff statt „Nationale Einheit“: Reaktionen der Opposition
Zweimal hat sich Staatspräsident Emmanuel Macron per Fernsehansprache an die Franzosen gewandt –am 12. und am 16. März – und sie im Kampf gegen den Corona-Virus zur nationalen Einheitaufgerufen. Nachdem sich die Opposition in den ersten Tagen nach der Verkündigung derlandesweiten Ausgangssperre hinter die getroffenen Maßnahmen stellte, werden zunehmend Kritik anden Entscheidungen des Präsidenten und seiner Regierung laut.
Les Républicains
Der Generalsekretär der Républicains, Aurélien Pradié, und der Vorsitzende der Fraktion Républicains in der Nationalversammlung, Damien Abad, fordern die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im zweiten Halbjahr 2020, um die Maßnahmen der Regierung zu evaluieren. Die bürgerlich-konservative Partei macht ihre Kritik an drei Punkten fest: der Mangel an Masken, fehlende Tests und die Lage in den Altersheimen. Die Républicains verweisen darauf, dass es in ihrer Regierungszeit bis 2012 im Rahmen der Krisenprävention ausreichend Masken und Schutzkleidung gegeben habe. Jetzt sollte die Regierung den Empfehlungen der WHO zum allgemeinen Gebrauch von Masken folgen und die Verteilung von Masken nicht nur auf Beschäftigte des Gesundheitsbereichs und der Sicherheitsorgane beschränken. Außerdem fordern die Républicains eine zügige Ausweitung der Tests. Eine schwerwiegende Folge des Mangels an Masken und Tests sei die hohe Ansteckungsgefahr der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. In Frankreich ist jeder dritte, am Corona-Virus Verstorbene ein Heimbewohner. Daneben haben die Républicains die Folgen für die Wirtschaft im Blick: Sie fordern stärkere Hilfe für Unternehmen und Selbständige und regen eine Debatte über eine „Aufweichung“ der Ausgangsperre aus wirtschaftlichen Gründen („déconfinement économique“) nach Ostern an.
Rassemblement National
Schon vor der Ausgangssperre hatte Marine Le Pen strikte Maßnahmen zur Krisenvorsorge und Eindämmung des Corona-Virus gefordert. Die Vorsitzende des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) wirft der Regierung vor, schlecht auf die Krise vorbereitet gewesen zu sein und zu spät reagiert zu haben. Sie beklagt, dass in Frankreich Firmen, die Masken und Schutzkleidung hergestellt haben, in den vergangenen Jahren geschlossen worden seien. Letztlich sei die von Staatspräsident Macron propagierte Idee der Arbeitsteilung in einer globalisierten Welt Schuld am gegenwärtigen massiven Mangel an Masken. Mit großer Schadenfreude kommentierte Le Pen entsprechend die von Macron angekündigte Nationalisierung der Maskenproduktion und verwies auf ihr Wahlprogramm von 2017, das einen intelligenten Protektionismus einforderte. Der Europäischen Union wirft sie vor, zu lange untätig gewesen zu sein und die Grenzen nicht rechtzeitig geschlossen zu haben. Zur Bekämpfung des Virus unterstützt Le Pen massiv die Idee des Marseiller Virologen Didier Raoult, infizierten Personen den Anti-Malaria-Wirkstoff Chloroquin zu geben: Alle Hausärzte sollten das Medikament verschreiben dürfen, da jetzt nicht die Zeit sei, das Mittel aufwendig auf Nebenwirkungen zu prüfen. Für die Einführung einer Tracking-App sei es schon zu spät.
Europe Ecologie / Les Verts
Von den französischen Grünen – die beim erste Wahlgang der Kommunalwahlen in zahlreichen Städten sehr gute Ergebnisse eingefahren und deren Kandidaten in Bordeaux, Lyon oder Straßburg die meisten Stimmen erhalten haben – ist derzeit kaum etwas zu hören. Ihr Vorsitzender Julien Bayou fordert, die gegenwärtige Krise zu nutzen, um das geltende Wirtschafts- und Sozialmodell grundsätzlich zu überdenken und die Welt von morgen menschlicher und umweltfreundlicher zu gestalten. Ähnlich wie nach 1945 und nach 1968 sollten sich alle Akteure der Gesellschaft nach der Krise zu einem Pakt über die gemeinsame Zukunft zusammenfinden.
Parti socialiste
Von den Sozialisten ist seit der verheerenden Niederlage von 2017 nur noch wenig zu hören. Das ist auch in der gegenwärtigen Krise nicht anders. Ihr Vorsitzender Olivier Faure fordert die Verstaatlichung der Produktion von Masken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräten. Wie die Grünen sehen auch die Sozialisten in der Krise eine Chance, das Leben nach der Ausgangssperre grundlegend zu verändern.
La France Insoumise
Die Forderungen des Vorsitzenden der linkspopulistischen Partei La France Insoumise sind ebenso klar wie konkret: Jean-Luc Mélenchon fordert die Aussetzung aller Mietzahlungen, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Verstaatlichung der Unternehmen, die strategische Güter wie Masken oder Atem-Gas herstellen. Eine Tracking-App lehnt Mélenchon ab, da diese seiner Meinung nach verfassungswidrig ist.
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