Die Suche nach einem Nachfolger des am 31. August zurückgetretenen Generaldirektors der WTO, Roberto Azevêdo, geht in die nächste Runde: Am 18. September wurde nach Konsultationen mit den Mitgliedstaaten der WTO der Kandidatenkreis von acht auf fünf reduziert. Das Zwischenergebnis war für einige Beobachter durchaus überraschend. Ob – wie vorgesehen – bis Anfang November eine Einigung auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin gelingt, ist jedoch noch offen. Die vergangenen Monate zeigten nochmal deutlich, dass auf die künftige WTO-Spitze eine Herkulesaufgabe wartet.
Hintergrund
Im Mai kündigte der Generaldirektor der WTO, der Brasilianer Roberto Azevêdo, überraschend ein Jahr vor dem eigentlichen Ablauf seines Mandats seinen Rücktritt zum 31. August an. Offiziell nannte er private Gründe für sein Ausscheiden. Gleichzeitig argumentierte Azevêdo, dass durch die Verschiebung der wichtigen, für Juni 2020 in Kasachstan vorgesehenen WTO-Ministerkonferenz auf 2021 und aufgrund des Stillstands bei wichtigen Verhandlungsdossiers in Folge der COVID-19-Krise sein vorzeitiger Abschied ein Gelegenheitsfenster für eine rechtzeitige Neuaufstellung der Organisation eröffne. Diese Einschätzung stieß im multilateralen Genf nur begrenzt auf Verständnis; für Stirnrunzeln sorgte auch sein Wechsel zum Getränkekonzern Pepsi unmittelbar nach dem Ende seiner Amtszeit. In der Folge hinterlegten vom 8. Juni bis zum 8. Juli insgesamt acht Kandidaten ihre Bewerbung für die Nachfolge Azevêdos. Darunter war – obwohl verschiedene Namen wie der damalige EU-Handelskommissar Phil Hogan (EVP) gehandelt worden waren – letztlich kein Vertreter aus der EU. Hingegen wurden gleich drei Kandidaten vom afrikanischen Kontinent vorgeschlagen: der Ägypter Abdel-Hamid Mamdouh, Ngozi Okonjo-Iweala (Nigeria) und Amina Mohamed (Kenia). Bis zum 8. September konnten alle acht Kandidaten[1] bei den Mitgliedstaaten für sich werben. Anfang November soll eine Einigung auf einen Nachfolger erzielt werden. Die Konsultationen mit den Mitgliedstaaten werden von dem Vorsitzenden des Allgemeinen Rats der WTO, dem neuseeländischen Botschafter David Walker, sowie seinen Botschafterkollegen aus Island (Harald Aspelund) und Honduras (Dacio Castillo) geführt.
Ziel ist es, einen Nachfolger im Konsens zu finden. Sollte dies nicht gelingen, bliebe durchaus noch die Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung. Dies wird jedoch eher als theoretische Notlösung angesehen: Denn offener Dissens bei der Wahl wäre ein schlechtes Vorzeichen und würde dem neuen Generaldirektor eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit allen Mitgliedstaaten erheblich erschweren.
Stand des Kandidatenrennens: von acht auf fünf
Am 18. September verkündete das Vermittlertrio einen ersten Zwischenstand: Tudor Ulianovschi (Republik Moldau), Abdel-Hamid Mamdouh (Ägypten) und Jesús Seade Kuri (Mexiko) sind aus dem Rennen ausgeschieden. Damit besteht das Kandidatenfeld aus drei Frauen – Ngozi Okonjo-Iwaela (Nigeria), Amina Mohamed (Kenia) und Yoo Myung-hee (Republik Korea) – und zwei Männern, dem Kandidaten Saudi-Arabiens (Mohammad Maziad Al-Tuwaijri) sowie dem Briten Liam Fox.
Es war erwartet worden, dass die drei Frauen dem Kandidatenfeld weiter angehören würden. Überraschend ist für viele Beobachter hingegen, dass weder Mamdouh noch Seade Kuri in die zweite Runde kamen. Beide galten als exzellente Fachleute. Bei dem ein oder anderen langjährigen Beobachter galt einer der beiden auch als möglicher Geheimfavorit oder zumindest Kompromisskandidat auf die WTO-Spitzenposition. Nimmt man jedoch politische Erfahrung als entscheidenden Faktor, ist die Auswahl weniger erstaunlich: Beide waren zwar fachlich hochqualifiziert, jedoch gleichzeitig die einzigen Kandidaten ohne ministerielle Erfahrung. Die Kandidatur des jüngsten aller Kandidaten, Tudor Ulianovschi, galt trotz seiner Zeit als Außenminister von vornherein als aussichtslos.
Die Auswahl mag ein Fingerzeig dafür sein, dass die Mitgliedstaaten nicht allein fachliche Exzellenz, sondern noch mehr politisches Gewicht und Erfahrung als wichtig erachten. Angesichts des oft sehr politischen Charakters vieler der aktuellen Herausforderungen der WTO bedarf es wohl tatsächlich einer Person, die auf Augenhöhe mit Ministern und Regierungschefs sprechen kann. Aus EU-Sicht ist das Zwischenergebnis des Rennens zufriedenstellend: Von den vier im Rahmen der Sondierungsgespräche der letzten Wochen von der EU vorgeschlagenen Kandidaten (Mohamed, Okonjo-Iweala, Myung-hee, Mamdouh) haben es drei in die nächste Runde geschafft.
Chancen der verbliebenen Kandidaten
Vor diesem Hintergrund ist nicht allein aus arithmetischen Gründen die Wahrscheinlichkeit erheblich gestiegen, dass künftig eine Frau an der Spitze der WTO stehen wird: Al-Tuwaijri (Saudi-Arabien) werden nach wie vor nur Außenseiterchancen eingeräumt, Liam Fox (Vereinigtes Königreich) gilt als kontroverser Kandidat – nicht nur bei den meisten EU-Staaten dürfte der Brexit-Hardliner auf Skepsis stoßen. Sollte einer der beiden am 6. Oktober, wenn das Kandidatenfeld auf zwei reduziert wird, noch im Rennen sein, wäre dies eine Überraschung. Eigentlich galten schon zu Beginn des Rennens die beiden afrikanischen Kandidatinnen als (leichte) Favoriten. Es ist jedoch offen, ob es auf ein Duell zwischen beiden hinauslaufen wird. Einige Genfer Beobachter rechnen durchaus mit der koreanischen Kandidatin in der letzten Runde.
Es wird spannend sein, zu beobachten, ob die verbliebenen Kandidaten sich in der zweiten Runde mit kontroverseren Positionierungen aus der Deckung wagen, als es bei bisherigen Anhörungen der Fall war.
Kandidatensuche in schwierigem Umfeld
Wie schwierig das Diskussionsklima ist, lässt sich alleine schon daran ablesen, dass es nicht gelang, für die Zeit nach dem Rücktritt Azevêdos einen der vier stellvertretenden Generaldirektoren der WTO als Interimschef zu benennen. Lange war davon ausgegangen worden, dass es auf den sehr geachteten Deutschen Karl Brauner hinauslaufen würde: Grundsätzlich gab es eine ungeschriebene Regel, dass weder der amerikanische noch der chinesische Vertreter vorgeschlagen würde. Dieser Erwartung mache die US-Regierung mit der Nominierung des (fachlich durchaus respektierten) amerikanischen stellvertretenden Generaldirektors Alan Wolff einen Strich durch die Rechnung. Wie erwartet blockierte u.a. China diesen Vorschlag. Mithin ist die WTO seit dem 1.9. ohne Generaldirektor. Praktisch, so versichern WTO-Beamte, habe dies wenig Auswirkungen. Es ist gleichwohl ein Indikator für das ausgesprochen schwierige Verhandlungsklima und ein weiterer sichtbarer Beleg für die Pattsituation in der Organisation.
Wenige bis keine Fortschritte sind bei der Diskussion wichtiger Verhandlungsdossiers zu vermelden. Zwar finden Arbeitsgruppen wieder (in unterschiedlicher Form) statt, einige Mitgliedstaaten bestehen gleichwohl darauf, dass in diesen nur diskutiert, aber nicht entscheiden werden dürfe. Entsprechend geht es bei zahlreichen Dossiers nicht vorwärts. Auch bei der Diskussion im wohl dringlichsten Dossier, den Fischereisubventionen, melden viele Mitgliedsstaaten Zweifel an, ob eine Einigung bis Jahresende möglich sein wird. Gleichzeitig drängen andere Mitgliedstaaten, zumindest bei den plurilateralen Initiativen (wie etwa zum elektronischen Handel) darauf, nach vorne zu preschen.
Dass ein weiterer Pfeiler der Organisation, die Beilegung von Handelsdisputen, weiterhin eine Baustelle bleibt, wurde letzte Woche nochmals eindrücklich in Erinnerung gerufen: Die Erklärung des WTO-Streitschlichtungsgremiums, dass gegen China verhängte US-Zölle in Höhe von hunderten Milliarden US-Dollar ein Verstoß gegen das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) darstellten, lehnte der US-Handelsbeauftragte Robert Lighthizer umgehend ab. Ein funktionsfähiges Gremium, bei dem Berufung eingelegt werden könnte, gibt es seit Dezember letzten Jahres allerdings nicht mehr, nachdem die USA über Jahre eine Nachbenennung von Mitgliedern der Berufungsinstanz („Appelate Body“) blockiert hatten.
Ausblick und Kommentar
Die letzten Monate verdeutlichten umso mehr, wie wichtig eine Einigung auf einen neuen WTO-Generaldirektor zum vorhergesehenen Termin (Anfang November) wäre:
Angesichts der im genauen Umfang kaum abschätzbaren, aber mit Sicherheit gravierenden wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise, anhaltenden protektionistischen Tendenzen vieler Länder und sich zuspitzender Handelsstreitigkeiten zwischen großen Handelsblöcken, bedarf es mehr denn je einer handlungsfähigen und starken WTO. Die auf Juni 2021 verschobene Ministerkonferenz ist ein wichtiges Momentum, um zumindest einige Dossiers, u.a. Fischerei, elektronischen Handel, Landwirtschaft und Handelserleichterungen voranzubringen. Je länger die Personalsuche dauert, desto weniger Zeit bleibt aber für eine angemessene Vorbereitung dieser Sitzungen.
Hinzu kommt die wachsende Dringlichkeit einer Reform der WTO – einige der Kritikpunkte der USA haben durchaus ihre Berechtigung – und insbesondere einer Lösung für ein neues Streitschlichtungssystem. Kurz: die neue WTO-Leitung erwartet eine Herkulesaufgabe.
Ob es aber Anfang November tatsächlich zu einer Einigung kommt, ist offen: die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass Kompromissbereitschaft bei einigen WTO-Mitgliedern eine begrenzte Ressource ist.
[1] Eine Auflistung aller Kandidaten finden Sie im Anhang der letzten «Genfer Grosswetterlage»
Bereitgestellt von
Multilateraler Dialog Genf
Themen
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.
Bitte melden Sie sich an, um kommentieren zu können.