Gesetzentwurf der Opposition
Am 03. Oktober 2022 veröffentlichte der CHP-Vorsitzende und Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu ein Video auf seinem Twitter-Kanal, in dem er ankündigte einen Gesetzesentwurf zur „Kopftuchfreiheit“ in das türkische Parlament einzubringen. In diesem Video sagte er:
„Ab morgen (4. Oktober) werden wir den Schritt tun, der diese Wunde für immer schließen wird. Gleich nach der Fraktionssitzung der CHP werden wir dem Parlament unseren Gesetzentwurf vorlegen. Die CHP-Fraktion wird voll und ganz, ohne Wenn und Aber und mutig hinter diesem Gesetz stehen.“1
Mit dem Einzug von religiös-konservativen Parteien in die türkische Politik, nahm die Frage des Kopftuchverbots in den 1990er und frühen 2000er Jahren einen wichtigen Platz in der öffentlichen und politischen Debatte in der Türkei ein. Während in Deutschland und Europa um die Einführung eines Kopftuchverbotes debattiert wurde, hob die regierende AK Partei unter dem damals noch als Premierminister regierenden Recep Tayyip Erdoğan das seit 1923 bestehende Kopftuchverbot für Studentinnen an Universitäten im Jahr 2010 und für Angestellte im öffentlichen Dienst im Jahr 2013 auf.
Seit jeher hat sich die AK Partei und insbesondere Präsident Erdoğan als Verteidiger des Glaubens präsentiert und regelmäßig erklärt, dass ohne sie die neugewonnene Religionsfreiheit in der Türkei in Gefahr sein würde.
Nun hat die CHP am 04. Oktober 2022 nach Beginn des neuen parlamentarischen Jahres dem Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der das Recht auf das Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit schützen soll.2
Interessanterweise kommt der Vorstoß von Kılıçdaroğlu, dem Parteichef der einzigen nicht dezidiert konservativen Partei im Sechs-Parteien-Oppositionsbündnis, bestehend aus der CHP, Iyi Parti, Saadet Partisi, Demokrat Parti, DEVA und Gelecek Partisi. In der letzten Kopftuchdebatte Anfang der 2000er Jahre war die CHP noch die Partei, die das Verbot des Kopftuchtragens für Frauen in staatlichen Berufen und Universitäten verteidigt hat.
Die Debatte um religiöse Freiheiten ist zurück im türkischen Wahlkampf
Es ist einer von vielen politischen Schachzügen der Opposition in einem Wahlkampf der schon im vollen Gange ist. Die Angst von Konservativen und Religiösen in der Türkei ist groß, dass im Falle eines Wahlsieges der Opposition im nächsten Jahr, Eingriffe in die religiösen Freiheiten, insbesondere in Bezug auf die Kleidung von Frauen, vorgenommen werden würden. Der Gesetzentwurf der CHP soll diesen Menschen nun im Falle eines Wahlsieges einer Nicht-AK Partei-Regierung Rechtssicherheit geben. Sollte der CHP-Entwurf von der regierenden Volksallianz aus AK Partei und MHP angenommen werden, wäre dies die erste gesetzliche Regelung der Türkei, die die religiöse Kleidungsfreiheit rechtlich absichert.
Schon im letzten Jahr überraschte Kılıçdaroğlu mit einer Rede in dem er ankündigte „das Land zu versöhnen“. Er sprach Unrechtmäßigkeiten gegenüber Einzelpersonen, Volksgruppen und religiösen Minderheiten an und kündigte eine Zeit der „Heilung und Versöhnung“ an (helalleşmek). In dieser Zeit bat er außerdem öffentlich um Vergebung für die Fehler der CHP in der Vergangenheit.3
Die Annäherung der CHP an die konservativ-religiösen und die Bekräftigung, dass es keine Rückkehr zum strengen Laizismus der konservativ-traditionellen Bevölkerung geben würde, ist eine Antwort auf das Narrativ, die CHP weiterhin auf der alten säkular-autoritären Linie darzustellen.
Die Nationale Allianz richtet sich an neue Wählergruppen
Das Sechser-Oppositionsbündnis beinhaltet mit der islamistischen Millî Görüş–nahestehenden Saadet Partei und den konservativen Parteien der früheren AK Partei Minister Ali Babacan (DEVA) und Ahmet Davutoğlu (Gelecek Parti) drei Parteien die offen zu ihren religiösen Wurzeln stehen.
Dazu kommt die nationalistische Iyi Partei, deren Parteivorsitzende von Meral Akşener nicht nur in nationalistischen Kreisen, sondern auch bei den religiös-konservativen Teilen der Gesellschaft an Popularität gewinnt. Anders als früher, kokettiert sie offen mit ihrer Herkunft aus der konservativen „Partei des Rechten Weges“ und ihrem Glauben, den sie als Säkulare allerdings strikt von der Politik trennt. Seit der Abspaltung von der MHP versucht sie ihre Partei in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren. Ihr Verständnis von Nationalismus ist urbaner, moderner und inklusiver als der der MHP oder AK Partei und daher kompatibler mit der CHP. In traditionell CHP-nahen und geführten Stadteilen finden sich zunehmend auch Plakate und Graffitis für Meral Akşener und die Iyi Partei.
In einem Werbespot der Partei aus dem letzten Jahr wird Meral Akşener in eine Reihe mit Fatih Sultan Mehmet, Mustafa Kemal Atatürk, Süleyman Demirel, Necmettin Erbakan, Bülent Ecevit, Alparslan Türkeş und Turgut Özal gestellt und die Iyi Partei als Kontinuität der Mitte der Gesellschaft dargestellt.4
Kritik aus Regierung und den eigenen Reihen
Der Vorstoß und die Äußerungen des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu haben indessen eine Kontroverse ausgelöst.
Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, die mit der AK Partei die Volksallianz bildet, sagte, es sei sinnlos, das Kopftuch unter dem Vorwand des "gegenseitigen Verzeihens" zu missbrauchen.5
Vertreter der AK Partei kritisierten den Vorstoß der CHP währenddessen als Wahlkampfaktion und verurteilten eine Politisierung des Kopftuches.6 Verschiedene Abgeordnete der AK Partei erklärten, dass es in der Türkei kein „Kopftuchproblem“ gebe und die AK Partei „die erste politische Bewegung, die für Rechte und Freiheiten gekämpft hätte“ sei.7
Auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte am 05. Oktober in einer Fraktionssitzung der AK Partei auf den Gesetzesentwurf. Er verwies auf die Tatsache, dass vor der AK Partei Abgeordnete von der Tribüne verwiesen worden seien, weil sie das Parlament mit Kopftuch betreten hatten. Laut ihm „stehe das Kopftuchproblem in der Türkei nicht mehr auf der Tagesordnung“. Ferner erklärte er, dass „die Frage der Kleiderordnung im Allgemeinen und des Kopftuchs im Besonderen […] ein natürliches Recht [sei], das weder Gegenstand eines Gesetzes noch der Verfassung sein sollte."
Dennoch führte er aus, dass der Gesetzesentwurf der Opposition weit davon entfernt sei, das „Problem in all seinen Dimensionen zu erfassen und in der gewünschten Weise zu lösen“ und sprach sich für eine Verankerung der Kleiderfreiheit in der Verfassung aus.8
Der türkische Analyst Prof. Dr. Ahmet K. Han erläuterte hierzu, dass mit solch einer Verfassungsänderung, die Türkei das erste Land sein würde, das eine Verfassungsklausel darüber erlasse, wie sich die Menschen kleiden können und eine Kleiderfreiheit verfassungsmäßig garantieren würde, im Gegensatz zu Ländern wie dem Iran und Saudi-Arabien, wo es hingegen Kleidereinschränkungen gibt. Dies zeige allerdings auch, dass die Politik [in der Türkei] eher an Symbolen als an der wirklichen Tagesordnung interessiert sei.9
Eines ist bereits klar: auch wenn noch nicht abzusehen ist, wie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Jahr ausgehen werden, hat die AK Partei in den über 20 Jahren ihrer Regierung die Türkei und ihre Gesellschaft so konsequent verändert und beeinflusst wie keine andere Regierung seit Atatürk zuvor.
1https://twitter.com/kilicdarogluk/status/1576995553208143890?s=20&t=rtxBW5sE3wixNRWDf2CJnA
2https://www.trthaber.com/haber/gundem/chp-basortusu-teklifini-meclise-sundu-tepkiler-gecikmedi-713479.html
3https://www.dw.com/tr/k%C4%B1l%C4%B1%C3%A7daro%C4%9Flundan-yeni-helalle%C5%9Fme-a%C3%A7%C4%B1klamas%C4%B1/a-59835688
4https://www.youtube.com/watch?v=f7vtD_KWtpY
5https://www.milliyet.com.tr/siyaset/basortusu-hamlesine-bugun-yanit-geliyor-6835754
6https://www.gazeteduvar.com.tr/aile-bakani-yanik-chp-basortusu-ve-inanc-ozgurluguyle-alakali-sicilini-temize-cekmek-istiyor-haber-1583471
7https://twitter.com/omerrcelik/status/1577164706481344512?s=20&t=C82sMK61bYlOl43-78dwUg
8https://twitter.com/RTErdogan/status/1577603261082779648?s=20&t=c8bkK5UR9NZcHEAimTFAiw
9https://twitter.com/Ahmet_K_Han/status/1577609669874532352?s=20&t=c8bkK5UR9NZcHEAimTFAiw
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