Venezuelas Exodus entwickelt sich zusehends zu einer ernstzunehmenden Bedrohung für die Stabilität der gesamten Region. Nicht nur die Nachbarstaaten wie Kolumbien und Brasilien, sondern mittlerweile auch Ecuador, Peru und andere Länder verzeichnen einen rasanten Anstieg bei den Zahlen von venezolanischen Migranten und Flüchtlingen. Währenddessen verschärfte das sozialistische Regime in Caracas die politische Überwachung und die damit einhergehende Repression und Verfolgung von Oppositionellen, Menschenrechtsaktivisten, Studenten und allgemein der kritischen Zivilgesellschaft. So hatte der Tod des Oppositionspolitikers Fernando Albán (Primero Justicia) im Oktober 2018 zu großer Trauer und Bestürzung in und außerhalb Venezuelas geführt. Albán wurde vor seinem Tod direkt nach seiner Rückkehr von einer Reise nach New York vom Geheimdienst Sebin festgenommen. Er wurde beschuldigt, an dem „mutmaßlichen“ Attentat gegen Präsident Maduro im August 2018 beteiligt gewesen zu sein. Die staatlichen Behörden behaupteten, dass Albán Selbstmord begangen und sich aus dem 10. Stock des Geheimdienstgebäudes gestürzt habe. Die gesamte Opposition zweifelt an dieser Version, da sich unterschiedliche offizielle Stellen widersprüchlich äußerten. Es wird allgemein davon ausgegangen, dass Albán während des Verhörs zu Tode kam und die Regierung diese Tatsache vertuschen will. Viele Regierungen weltweit forderten eine transparente Aufklärung, so auch die Bundesregierung. Das Regime reagierte sofort und ermahnte die deutsche Kanzlerin, die staatliche Souveränität Venezuelas nicht in Frage zu stellen. Auch der Menschenrechtsrat der UN übte scharfe Kritik. Der venezolanische Staat sei seiner Verpflichtung, die Sicherheit von Inhaftierten zu gewährleisten, nicht nachgekommen. Seit bereits mehr als zwei Monaten ist auch der Abgeordnete der venezolanischen Nationalversammlung Juán Requesens (Primero Justicia) in Haft. Ihm wird ebenfalls vorgeworfen, am „mutmaßlichen“ Attentat beteiligt gewesen zu sein. Seine Immunität als Abgeordneter wurde aufgehoben. Nach seiner Verhaftung wurden Videos veröffentlicht, die stark darauf hindeuten, dass er gefoltert wurde. Die anhaltende Wirtschaftskrise sowie interne Zerwürfnisse im Führungszirkel tragen dazu bei, dass das Regime in einer Verstärkung der Repression den einzigen Weg zur Machterhaltung sieht.
Das sozialistische Regime in Caracas negiert stets die dramatische humanitäre Krise und verhöhnt damit Millionen Venezolaner, die sich zurzeit auf der Flucht bzw. auf der Suche nach einer besseren Zukunft in ganz Lateinamerika, den USA und Europa befinden. Ohne eine Kursänderung innerhalb der Regimeführung wird es extrem schwierig für die internationale Gemeinschaft sein, humanitäre Hilfe zu leisten. Doch der Druck wächst und die Entwicklungen der letzten Tage sind das Resultat. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sowie die UN-Generalversammlung haben das Thema auf die aktuelle Agenda gesetzt. Eine Koalition von lateinamerikanischen Staaten (Argentinien, Chile, Kolumbien, Paraguay, Peru, Costa Rica) plus Kanada verfolgt die Strategie, den Machthaber Nicolás Maduro wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen. Während der internationale Druck wächst, kann das angeschlagene Regime aber weiter auf wichtige Verbündete in Russland, China, Iran und der Türkei sowie Bolivien, Mexiko und Kuba zählen.
Neues Kapitel im Machtpoker eröffnet
Nun stellt die Opposition in Venezuela offen die Machtfrage. Der Präsident des von Maduro entmachteten, aber legal gewählten venezolanischen Parlaments, Juan Guaidó hat sich am 23. Januar 2019 zum Interimspräsident des Landes erklärt und zahlreiche Staaten Lateinamerikas (Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Ecuador, Kolumbien, Guatemala, Panama, Paraguay und Peru), die USA, Kanada, die Führung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) haben ihn als neues Staatsoberhaupt bereits anerkannt. Die Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der Venezolanischen Bischofskonferenz erklärte ebenfalls, dass die Nationalversammlung „durch die freie und demokratische Wahl des venezolanischen Volkes gewählt wurde und „derzeit das einzige Organ der öffentlichen Gewalt mit der Legitimation ist, ihre Befugnisse mit Souveränität auszuführen.“ Auch das Parteienbündnis der christdemokratischen und bürgerlichen Parteien in Lateinamerika (Organización Demócrata Cristiana de América - ODCA) unterstützt die Opposition. EU-Ratspräsident Donald Tusk gab via Twitter seiner Hoffnung Ausdruck, dass Europa gemeinsam für die Unterstützung der demokratischen Kräfte eintrete und bekräftigte, dass die Nationalversammlung einschließlich Juan Guaidó im Gegensatz zu Maduro über ein demokratisches Mandat der venezolanischen Bürger verfüge. Die EU-Außenbeauftrage Federica Mogherini hat zu Neuwahlen in Venezuela aufgerufen und der Opposition die Unterstützung der EU versichert. Regierungssprecher Steffen Seibert hat über Twitter für die Bundesregierung „freie und glaubwürdige Wahlen“ für Venezuela gefordert. Und der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, schreibt in einer Pressemitteilung: „Der Präsident der venezolanischen Nationalversammlung, Juan Guaidó, ist der einzige legitime Vertreter des venezolanischen Volkes. Er verfügt aus den Parlamentswahlen vom Dezember 2015 und den Rückhalt im Parlament über volle demokratische Legitimation. Die venezolanische Verfassung stellt eindeutig fest, dass er als Übergangspräsident die Staatsgeschäfte lenkt, solange es keinen demokratisch gewählten Präsidenten gibt. Diktator Maduro muss endlich abtreten und eine Rückkehr Venezuelas zur verfassungsmäßigen Ordnung ermöglichen, damit schnellstmöglich freie, faire und demokratische Präsidentenwahlen stattfinden können und die humanitäre Krise beendet werden kann.“
Zehntausende gingen am Mittwoch, 23.1.2019, auf die Straße, um gegen das Regime Maduro zu demonstrieren und ihre Unterstützung für den Interimspräsidenten Guaidó zu bekräftigen. Venezuela sah die größte Massenmobilisierung seiner Geschichte. Anders als häufig in der Vergangenheit beschränkten sich die Proteste nicht auf die Hauptstadt Caracas, sondern weiteten sich auf das ganze Land aus. Diese gewaltige Mobilisierung ist schon jetzt ein Erfolg für die Opposition und Juán Guaidó. Denn sie zeigt, dass auch in der chavistischen Basiswählerschaft die Zustimmung für Nicolas Maduro extrem abgenommen hat.
Die Nationalversammlung und ihre Legitimation
Juan Guaidó beruft sich bei seiner Ernennung zum Interimspräsidenten auf die Bolivarianische Verfassung von 1999 (§ 233), die besagt, dass der Parlamentspräsident übergangsweise die Exekutivgewalt übernehmen kann, wenn der Präsident sein Amt nicht wahrnimmt. Maduro hatte sich vor zwei Wochen für eine zweite Amtszeit vereidigen lassen, was von vielen Staaten nicht anerkannt wurde, weil seine Wiederwahl im Mai 2018 unter undemokratischen Verhältnissen durchgeführt worden war.
Die Asamblea Nacional (Nationalversammlung) wurde mit der Verfassung 1999 eingeführt und löste damals das Zweikammersystem ab, das es bis dahin gab (der Kongress setzte sich aus Senat und Abgeordnetenversammlung zusammen).
Die Wahlen zur Nationalversammlung hatten am 6. Dezember 2015 stattgefunden, aus denen die Opposition (das Wahlbündnis Mesa de Unidad Democrática/ MUD) mit 109 Sitzen (von 167) als klare Siegerin hervorging. Allerdings erfolgte nicht der lang ersehnte Aufbruch hin zu einem politischen Wechsel. Stattdessen hat das Regime Maduro mehrere Schritte hin zu einem diktatorischen System unternommen, um das Parlament zu entmachten. In erster Linie sind hier die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes zu nennen, der bis auf eine der über vierzig Gesetzesinitiativen alle für nichtig erklärte. Ferner verordnete Maduro Dekrete in Bereichen, die in der Kompetenz des Parlaments liegen. Zudem wurden die Abgeordneten der Opposition von regierungstreuen Anhängern physisch bedroht und verletzt. Das Finanzministerium überwies dem Parlament nicht die notwendigen Mittel, um Gehälter und Parlamentsbetrieb finanzieren zu können.
Im April 2016 hatte die Opposition ein Abberufungsreferendum auf den Weg gebracht, um Neuwahlen zu erreichen. Der von der Regierung kontrollierte Wahlrat verzögerte auf unlautere Art die Durchführung, um das Referendum bis Januar 2017 zu verschieben mit dem Ziel, Neuwahlen abzuwenden und lediglich einen Austausch des Staatspräsidenten durch den Vizepräsidenten herbeizuführen und so einen wirklichen Machtwechsel zu verhindern. Der Unruhe im Volk begegnete die Regierung mit verstärkter Kontrolle und Repression.
Am 18. August 2017 wurde das in den letzten freien Wahlen im Land gewählte und von der Opposition dominierte Parlament entmachtet. Die regierungstreue von Präsident Maduro am 1. Mai 2017 eingesetzte Verfassunggebende Versammlung nahm ein Dekret an, mit dem das Gremium die Aufgaben der Nationalversammlung übernahm. Damit verfügte das vom Volk gewählte Parlament und einzige noch verbleibende legitime Verfassungsorgan über keine Entscheidungsgewalt mehr. Gleichzeitig wurden Ermittlungen gegen den damaligen Parlamentspräsidenten Julio Borges und den Vizepräsidenten Freddy Guevara eingeleitet. Ihnen wurde vorgeworfen, Widerstand gegen Maduro geleistet zu haben, weil die Kongressführung sich geweigert hatte, der Verfassunggebenden Versammlung des Regimes die Gefolgschaft zu schwören. Der Druck auf Borges und Guevara wurde schließlich so groß, dass sie ins Exil gehen mussten.
Wer ist Juan Guaidó?
Juan Guaidó ist 35 Jahre alt, stammt aus dem Bundesstaat Vargas und ist Ingenieur von Beruf. Er startete sein politisches Engagement 2007 als Anführer von Studentenprotesten gegen den damaligen Präsidenten Chavez. 2009 gründete er zusammen mit dem Oppositionspolitiker Leopoldo Lopez die Partei Voluntad Popular. Seit 2001 ist er Abgeordneter der Asamblea Nacional. Zum Vorsitzenden der Partei wurde der junge Vater eines Babys erst kürzlich ernannt, weil alle anderen Alternativen bereits im Exil waren. Im Rotationsverfahren stellen die Parteien in der Nationalversammlung den Vorsitzenden und so traf es eigentlich durch Zufall Guaidó, weil seine Partei am Zuge war.
Guaidó bekam den Druck des Regimes schon vor einigen Tagen zu spüren, als er kurzzeitig vom Geheimdienst Sebin verhaftet wurde. Er blieb unerschrocken und unternahm nun den weitergehenden Schritt, sich zum Interimspräsidenten zu erklären.
Ausblick
Proteste der Opposition werden weitergehen und es bleibt offen, wie sich das Militär verhalten wird. Zwar haben hohe Vertreter der Streitkräfte ihre Unterstützung für Maduro bekräftigt, aber es ist schwer vorherzusagen, wie lange dies hält. Zudem haben die USA Sanktionen gegen den staatlichen venezolanischen Erdölkonzern PDVSA angekündigt, da das Regime von den Einnahmen lebt. Die Sanktionen würden sich dramatisch für die Bevölkerung auswirken, aber das Regime ist wahrscheinlich nur so in die Knie zu zwingen. Die EU wurde von Maduro zur Kooperation aufgefordert, hat aber ihrerseits sehr deutlich klar gemacht, was sie verlangt, nämlich eine Freilassung der politischen Gefangenen, die Anerkennung der Asamblea Nacional und freie Wahlen. Die nächsten 72 Stunden werden entscheidend sein. Das Regime in Caracas hat die US-Diplomaten aufgefordert, das Land binnen 72 Stunden zu verlassen. Es ist jedoch stark anzunehmen, dass die Amerikaner in Venezuela bleiben, um somit ihre volle Unterstützung für Juan Guaidó deutlich zu machen. Beide Seiten stehen vor eingreifenden diplomatischen Entscheidungen. Für Venezuela haben die vielleicht wichtigsten und längsten 72 Stunden seiner Geschichte begonnen. Es ist die Zeit der Hoffnung und Aufbruchsstimmung, aber auch eine Zeit auf dem Pulverfass. Das angeschlagene Regime wird sich mit Sicherheit nicht so einfach geschlagen geben.
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