Mauretanien ist ein Wüstenstaat am westlichen Land der Sahelregion, der selten internationale Schlagzeilen macht. Doch in den letzten Monaten besuchten erst EU-Kommissionspräsident Ursula von der Leyen und dann der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez das Land, um die Zusammenarbeit zu stärken und Hilfen für das verarmte Land anzubieten. Weitere Besucher werden in Kürze erwartet, um die Kooperation zu vertiefen. Die EU sagte bereits 210 Millionen Euro an Hilfen für Entwicklungsprojekte und Hilfen für die Küstenwache zu. Spanien will zudem mehr Arbeitsvisa für Saisonarbeiter aus Mauretanien ausstellen und damit Menschen von der gefährlichen Überfahrt abhalten. Auch beim Abfangen von Booten hilft Madrid, das sehr besorgt ist wegen steigender Ankünfte auf die Kanarischen Inseln, einem Außenposten der EU im Atlantik. Im Hafen von Nouadhibou im äußersten Norden Mauretaniens waren bei einem Besuch des Autors zwei spanische Patroullienboote zu sehen, die die Küstenwache unterstützen.
Mauretanien ist ein idealer Abfahrtsort: Von der Hafenstadt Nouadhibou an der Grenze der von Marokko kontrollierten Westsahara-Region sind es dann noch rund 800 Kilometer auf die spanischen Inseln. Von Marokko ist es noch näher, allerdings ist das Königreich besser in der Lage, seine Küste zu schützen, als das dünnbesiedelte Mauretanien. Die meisten der knapp fünf Millionen Einwohner leben in zwei Städten an der Küste, der Rest ist unbewohnte Wüste. Die Route auf die Kanarischen Inseln ist deutlich gefährlicher und dreimal so lang wie der Seeweg von der libyschen Westküste auf die italienische Insel Lampedusa, der klassischen Mittelmeerroute für Armutsmigranten und Flüchtlinge. Viele Boote kentern im stürmischen Atlantik, aber wer es geschafft hat, ist in der EU angekommen: Anders als auf der Mittelmeerroute von Niger müssen sich Migranten nicht erst durch Libyen durchkämpfen, wo Folter, Zwangsarbeit und Haft durch Milizen drohen.
Mali-Konflikt
Diplomaten und Experten machen verschiedene Gründe für den sprunghaften Ansprung der Bootsabfahrten aus. Die Kanarischen Inseln waren schon immer eine wichtige Route, insbesondere für Menschen aus dem Senegal und westafrikanischen Küstenländern wie Gambia oder Côte d’Ivoire. Senegalesen machen traditionell die Mehrheit auf den Booten aus. Sie brauchen kein Visum für Mauritanien, und viele arbeiten ohnehin im Nachbarland etwa als Fischer. Die Fischereigebiete in Mauritanien sind nicht so stark überfischt durch europäische oder chinesische Schiffe wie im Senegal. Im Stadtbild von Nouadhibou sind vielfach Senegalesen zu sehen, die sich mit ihrem Werkzeug als Tagelöhner anbieten. Kommt man mit ihnen ins Gespräch, werden die Fluchtabsichten schnell klar.
Neu ist, dass der Konflikt und die Armut im Nachbarland Mali die Flüchtlingszahlen ansteigen lassen. Nach Angaben des VN-Flüchtlingswerkes UNHCR sind 181.000 Malier nach Mauretanien geflohen, inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 200.000 aus. Die allermeisten leben in einem Flüchtlingscamp im Süden an der Grenze zu Mali. Alleine 2023 sind 55.000 Malier geflohen, fast fünfmal so viel wie im Vorjahr. Sie fliehen vor allem aus Zentralmali, wo die malische Armee zusammen mit russischen Söldnern verstärkt gegen Dschihadisten vorgeht. Viele Malier kommen aus der Gruppe der Fulbe, die häufig über eine Stigmatisierung klagen. Die Fulbe sind vielfach in der Viehwirtschaft tätig und ziehen – angesichts hoher demografischer Wachstumsraten – im Konflikt mit Bauern um Zugang zu Wasser und Land häufig den Kürzeren. Viele arbeitslose Fulbe haben sich daher Dschihadisten angeschlossen – Zivilisten klagen seitdem über pauschale Anschuldigungen und Racheakte der Armee sowie der mit Bauern verbündeten „Selbstverteidigungsmilizen“. Malische Soldaten und Söldner der Wagner-Gruppe töteten bei einer Anti-Terror-Operation in dem Fulbe-Ort Moura im März 2022 nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 500 Menschen. Mali hat die Anschuldigungen zurückgewiesen und sagt, dass nur „Terroristen“ und keine Zivilisten umgekommen seien. Unterstützer der malischen Militärregierung verweisen auch darauf, dass die Armeeoperationen Teile des Zentrums sicherer gemacht hätten.
Klar ist aber auch, dass die vielen malischen Flüchtlinge ein Leben in einem überfüllten Camp einer Heimkehr vorziehen. Diese Menschen sind Opfer der mit Wagner gestarteten Militäroffensive und haben Angst, zurückzukehren. Als Mali sich die russischen Söldner im Dezember 2021 ins Land holte, hatten westliche Diplomaten vermutet, dass ihre Vorgehensweise wie in Moura als Nebeneffekt Flüchtlingsbewegungen auslösen könnte – dies dürfte Russland nicht ganz ungelegen kommen, um der EU zu schaden. Moskau hat in anderen Regionen wie an der Grenze zu Finnland oder mit Hilfe des Verbündeten Belarus an der Grenze zu Polen und Litauen Migration als Waffe eingesetzt, indem es Flüchtlinge dorthin schleust. Viele Malier bleiben im Grenzgebiet zu Mauretanien, andere zieht es weiter. Nach den letzten Zahlen der EU-Grenzschutzbehörde Frontex vom September 2024 gehören Malier inzwischen neben Senegalesen und Marokkanern zu den Top 3 Nationalitäten der Ankömmlinge auf den Kanarischen Inseln. Das war letztes Jahr noch nicht der Fall.
Route gefährlicher aber weniger bewacht
Ein weiterer Grund für den Anstieg der Bootsabfahrten von Mauretanien dürfte sein, dass Tunesien und Libyen dank EU-Unterstützung ihre Küsten besser überwachen. Auch Ägypten und selbst der Libanon erhalten Hilfen von der EU, um die Lebensbedingungen in den Ländern und die Zusammenarbeit in der Migrationsbekämpfung zu verbessern. Insbesondere die von Italien und der EU stark unterstützte libysche Küstenwache stoppt derzeit bis zu 90 Prozent der Boote Richtung Italien. Die Mittelmeerroute blieb zwar in den ersten acht Monaten mit 41.250 Ankünften laut Frontex die am stärksten befahrene Route, allerdings fielen die Zahlen im Jahresvergleich um 64 Prozent. Danach folgt die östliche Mittlemeerroute mit 37.163, an dritter Stelle bereits mit rund 25.000 (bis Ende August) die Westafrika-Route, die auch Bootsfahrten von anderen Ländern wie Senegal, Gambia oder Marokko einschließt.
Im September sind die Zahlen auf der Route zu den Kanarischen nach Angaben von VN-Vertretern und NGO-Mitarbeitern nochmals stark gestiegen. Experten in Mauretanien beobachten zwei Trends, die darauf hindeuten, dass professionelle Schmuggler die Atlantik-Route immer mehr ins Visier nehmen. Zum einen wurden vereinzelt Syrer, Somalis und Pakistanis bei den Bootsabfahrten registriert – das sind nur Einzelfälle, die aber zeigen, dass die Route auch für internationale Netzwerke interessant wird. Zum anderen werden verstärkt Minderjährige unter den Ankömmlingen gezählt – das ist eine Taktik, die man auf der Balkanroute beobachten konnte. Familien schicken gerne mit Hilfe von Schleusern Minderjährige, die in der Regel nicht abgeschoben werden können, um danach Familienangehörige nachzuholen.
Spannungen mit Mali
Mauretanien lässt bisher seine Grenze für Flüchtlinge insbesondere aus Mali offen, aber der Konflikt im Zentrum des Nachbarstaates belastet die Beziehungen. Mauretanien hat mehrfach russichen Söldnern vorgeworfen, Mauretanier beim Grenzübertritt als vermeintliche Dschihadisten erschossen zu haben. Mali hat das zurückgewiesen. In Bamako beschuldigen viele Mauretanien, mit den Dschihadisten einen inoffiziellen Nichtangriffspakt geschlossen zu haben. Nouakchott bestreitet dies entschieden, aber in Mali wundert man sich, warum es seit über einem Jahrzehnt keinen Anschlag mehr in Mauretanien gegeben hat, trotz einer fast 2,300 Kilometer langen Grenze mit Mali.
Mauretanien litt bis 2012 unter Anschlägen von Dschihadisten, dann hat die Regierung mit einer Kombination aus militärischer Stärke und einem Aussteigerprogramm reagiert. Viele Dschihadisten wurden seitdem wieder in die Gesellschaft integriert. Zudem ist der Staat in Mauritanien anders als in Mali viel präsenter in ländlichen Regionen und an der Grenze – doch in Bamako halten sich Vermutungen über angebliche Absprachen mit Dschihadisten, dass sie ihre Familien in dem Camp in Mauretanien zurücklassen, während die Kämpfer sich auf Mali konzentrieren. Mauretanien bestreitet dies. Im Zentrum Malis haben Dschihadisten wie im Norden in einigen Regionen damit begonnen, einen Parallelstaat mit eigenen Gerichten und Steuerabgaben aufzubauen – daher auch Malis militärische Offensive mit den Russen. Hohe Opferzahlen wie in Mourea dürften den Konflikt aber eher anheizen, weil sich Überlebende dann Dschihadisten anschließen, um sich vor der Armee oder Milizen zu schützen.
Mauretanien hat bewusst das Verhältnis zu Mali trotz der wiederholten Vorwürfe nicht eskaliert. Die Regierung hält Kanäle nach Bamako offen, um auch nach dem Aus des G5-Sahel-Bündnises weiter mit dem Nachbarn zusammenzuarbeiten. Die Militärregierungen von Mali, Niger und Burkina Faso hatten G5 verlassen, weil sie dies als Erfindung der unbeliebten Kolonialmacht Frankreich sahen. G5 Sahel war 2015 auf Initiative von Paris gegründet worden, damit die drei Länder mit dem Tschad und Mauretanien grenzüberschreitend besser militärisch kooperieren, um Dschihadisten zu bekämpfen. Nouakchott hatte das Ende von G5 ausdrücklich bedauert, weil es wegen des Mali-Konflikts sehr besorgt ist (und das Sekretariat des Bündnisses in der eigenen Hauptstadt angesiedelt war).
Neuer Fokus der EU
Die EU arbeitet mit Mauretanien enger zusammen, weil sich die Beziehungen mit Mali, Burkina Faso und Niger deutlich verschlechtert haben. Die drei Länder arbeiten eng mit Russland zusammen und haben sich in einem Bündnis zusammengetan, das sich als anti-westliche Allianz versteht. Insbesondere in Niger hat die EU keinen Einfluss mehr. Die dortige Militärregierung hatte nach einem Putsch im Juli 2023 die Hauptmigrationsroute nach Libyen wieder aufgemacht – unter dem Druck der EU hatte Niamey diese 2015 im Gegenzug für zu einer Milliarde Euro an Hilfen offiziel geschlossen. Seitdem brummt dort das Schmugglergeschäft wieder: In den ersten vier Monaten 2024 zog es mehr als 160.000 Menschen via den Schmugglerhub Agadez nach Algerien und Libyen. Die meisten waren Saisonarbeiter aus Niger, aber darunter sind auch Nigerianer und Sudanesen, die es nach Europa ziehen dürfte. Neuere Zahlen gibt es von der VN-Migrationsagentur IOM nicht.
Die engere EU-Zusammenarbeit mit Mauretanien macht Sinn, da das Land bitterarm ist und es hier auch noch eine gewählte Regierung gibt. Trotzdem könnte Europa mit seiner verstärkten Koperation ungewollt Spannungen anheizen. In Mauretanien gibt es seit der Unabhängigkeit ein Wohlstandsgefälle von arabisch-stämmigen Bürgern (sogenannten Mauren), die Staat und Wirtschaft kontrollieren, und schwarzen Mauretaniern und ehemaligen Sklaven, die über Benachteiligung, Armut und Arbeitslosigkeit klagen. Migranten aus anderen afrikanischen Ländern sind seit längerem eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, weil sie sich billiger etwa als Tagelöhner anbieten. Ein Migrationsexperte in Nouadhibiu sagte, dass Mauren in letzter Zeit vermehrt Migranten wie Malier oder Senegalesen als Hausangestellte oder Bauarbeiter anstellen. Wenn jetzt dank der Kooperation mit der EU mehr Menschen im Land bleiben, dürften soziale Spannungen eher noch zunehmen. Insofern ist es richtig, dass Spanien nicht nur die mauretanische Küstenwache stärken will, sondern auch Arbeitsvisa für Saisonkräfte etwa in der Landwirtschaft ausstellt. Dies dürfte schwarzen Mauretaniern zugute kommen, da die Mauren oftmals körperlich Arbeit verschmähen. Die EU sollte aber aufpassen, dass sie nicht zuviel Druck auf Mauretanien ausübt, Boote zu stoppen, weil sich auch bei den Mauren Widerstand gegen mehr Migration regt – sie fürchten um ihre eigene Vormachtstellung, wenn zu viele Schwarzafrikaner ins Land kommen. Augenmaß ist gefordert, da Mauretanien ein fragiles Land ist, in dem in der Vergangenheit auch immer wieder Militärs geputscht haben.
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