Unmittelbar nach dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine rückte der Nahe Osten und Nordafrika erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Abermals befürchtete man umwälzende Krisen in der Region, nicht wegen innerer Spannungen und Konflikte, sondern wegen der großen regionalen Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten der Kriegsparteien Russland und Ukraine. Nahrungsmittelsicherheit, ein bis dato randständiges Konzept der Fachliteratur, rückte ins Zentrum des Interesses regionaler und globaler Akteure. Die Befürchtung kam auf, Europa müsse neben den Herausforderungen des konventionellen Staatenkrieges an seiner östlichen Flanke auch die Folgen einer erneuten Stabilitätskrise in seiner südlichen Peripherie adressieren.
Die Realität ist indes eine andere. Die häufig von Missmanagement, Korruption oder gar Dysfunktionalität geprägten Staaten der Region konnten der Herausforderung mit unterschiedlichem Erfolg begegnen und die großen Krisen blieben (vorerst) aus. Die Staaten der Region konnten nicht zuletzt wegen einer diplomatischen Flexibilität und Neutralität auf die Krise reagieren. Zwar verurteilen viele Staaten der Region die russische Aggression; andererseits hindert sie diese Ablehnung nicht, weiterhin mit sowohl Russland als auch der Ukraine Handel zu betreiben, die dadurch gewonnene Zeit zu nutzen und Wege der Diversifizierung zu eruieren.
Einige Staaten spüren die Folgen des Krieges deutlicher als andere. Das Bürgerkriegsland Libyen konnte paradoxerweise dem Nachbarn Tunesien Nahrungsmittelhilfe gewährleisten, dessen strukturelle Krisen sich auch in der Nahrungsmittelversorgung niederschlagen. Auch die Phänomene dysfunktionaler oder fehlender Staatlichkeit im Libanon treten offener zutage – der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wirkt dabei nur als Katalysator. Staaten wie Ägypten oder Marokko reagierten pragmatisch auf die Krise und versuchten, durch Verhandlungen, ihre Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen.
Wie hat sich der Ukraine-Krieg nach eineinhalb Jahren auf die Nahrungsmittelversorgung der Länder ausgewirkt? Haben die Länder der Region Strategien einer langfristigen Diversifizierung ihrer Nahrungsmittelquellen verfolgt? Woher beziehen die Länder nun alternativ ihre Getreidelieferungen? Welche Auswirkungen sind vom kürzlichen Ende des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine zu erwarten? Mit diesen Fragen richten sich die Blicke dieser Zusammenstellung auf Ägypten, Libanon, Libyen, Marokko und Tunesien. Diese Länder galten als besonders gefährdet von Nahrungsmittelkrisen. Abschließend fasst eine regionale Perspektive die Trends regional zusammen und zeigt mögliche Lösungsansätze auf.
Der Fall Marokko
Der Preisanstieg für Lebensmittel in Marokko ist seit Monaten deutlich spürbar und verschlimmert die Lage vor allem für die ärmere Bevölkerung, da diese einen deutlich höheren Anteil ihres Budgets für Lebensmittel ausgeben. Vor allem während des Fastenmonats Ramadan im April 2023 war die Unzufriedenheit in der Bevölkerung groß. Preise für Grundnahrungsmittel wie Eier und Tomaten haben sich verdoppelt, bei Öl und Kartoffeln sind die Preise zum Teil um das Dreifache gestiegen. War Fleisch früher auch bei ärmeren Familien erschwinglich, ist dies für viele nicht mehr bezahlbar. Die Inflationsrate im Februar 2023 lag laut Angaben der Regierung bei etwas über 10%. Die Gründe für die gestiegenen Kosten sind vielschichtig und lassen sich auch auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine zurückführen.
Marokko leidet seit einigen Jahren unter einer anhaltenden Dürre, welches sich nicht nur auf die Trinkwasserversorgung, sondern auch auf die Landwirtschaft auswirkt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich ein Teil der Unternehmer in der Landwirtschaft auf mehr profitbringende Exportprodukte wie Datteln, Wassermelonen, Avocados und rote Früchte umgestellt haben. Im Vergleich zu den Produkten für den lokalen Markt benötigen diese mehr Wasser. Aber auch der zunehmende Export von lokalen Produkten, wie Tomaten und Zwiebeln in andere afrikanische Länder treibt den Preis auf den marokkanischen Märkten in die Höhe. Verlorenes Kapital und geringeres Einkommen aufgrund der Covid-19 Pandemie haben die Situation im Land seit 2020 verschärft.
Hinsichtlich der Auswirkungen des Angriffskrieges Russlands in der Ukraine haben sich in erster Linie die gestiegenen Kosten für Kraftstoffe, Pestizide, Medikamente und Maschinen auf das marokkanische Preisniveau ausgewirkt. Bis auf Phosphat verfügt Marokko über wenig Bodenschätze und ist daher vor allem bei Benzin vom Weltmarkt abhängig.
Weizen gehört zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln in Marokko und deckt einen großen Anteil an der Kalorienversorgung der Bevölkerung. Da die lokale Produktion vor allem in den Frühlings- und Sommermonaten nicht ausreicht, importiert das Königreich Weizen aus verschiedenen Ländern. Wichtigster Lieferant ist Frankreich und bisher gefolgt von Russland (25%) und der Ukraine (11%). Aufgrund ausreichender Reserven konnte Marokko eine kurzfristige Lebensmittelkrise aufgrund des eingeschränkten Handels der Ukraine und Russlands vermeiden. Da der Preis für Brot vom Staat subventioniert wird, spürte die Bevölkerung keinen Preisanstieg. Jedoch sind die Auswirkungen auf den Staatshaushalt gravierend. Mittel- und langfristig hat die marokkanische Regierung folgende Strategien entwickelt. Als am 27. und 28. Juli 2023 der zweite Russland-Afrika Gipfel in Sankt Petersburg stattfand und Putin den Neokolonialismus in Afrika sowie die "ungerechten" Sanktionen gegen Russland verurteilte, war auch der marokkanische Regierungschef Aziz Akhannouch anwesend. Ob es zu Zusagen für mehr russischen Weizen in Marokko kam, ist nicht bekannt, man unterstrich allerdings die strategische Partnerschaft zwischen den beiden Ländern. Hierbei geht es vor allem um eine Neutralität Russlands hinsichtlich des Konflikts um die sogenannte Westsahara, gegenüber der Unabhängigkeitsbewegung Polisario und dem benachbarten Algerien.
Weiterhin hat die Regierung ein Exportverbot für die einheimische Weizenproduktion verhängt, um den lokalen Markt und die Reserven zu schützen. Zudem gibt es positive Wirtschaftsprognosen in den Bereichen Phosphate, Textilien und Automobile für das kommende Jahr. Da China aufgrund des Eigenbedarfs und Russland aufgrund von verhängten Sanktionen als bisher große Exportnationen im Bereich Phosphate galten, hat das Königsreich aufgrund seiner hohen Vorkommen große Chancen für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die marokkanische Regierung gibt sich daher zuversichtlich, dass die vorhandenen Weizenreserven und die wirtschaftlichen Mittel eine Knappheit verhindern können.
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Auslandsbüro Marokko
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