Flüchtlinge als Hauptthema
Im Zentrum der Partei steht ganz klar ein Thema: Flüchtlinge in der Türkei. In der türkischen Gesellschaft ist die Stimmung hoch angespannt. Die Türkei beherbergt nach konservativen Schätzungen 4.2 Millionen Flüchtlinge, die zum größten Teil aus Syrien und Afghanistan stammen. Angesichts der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und drohenden Migrationsbewegungen über und aus dem Iran wird nun, anders als zum Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges und den Folgejahren, fast unisono aufgrund der bereits vorhandenen Flüchtlinge im Land eine Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen abgelehnt. Verstärkt durch die schlechte wirtschaftliche Lage, die vor kurzem aufgetretenen Waldbrände und Flutkatastrophen sowie Desinformationen über die Flüchtlingslage in den sozialen Medien ist der Diskurs extrem polarisiert. Immer häufiger wird von Übergriffen auf Flüchtlinge berichtet. Zuletzt hatte Anfang August in Altındağ, einem Stadtteil von Ankara, ein Mob bestehend aus hunderten Menschen, Flüchtlinge und ihre Geschäfte und Häuser angegriffen nachdem ein junger Türke nach einem Streit mit einem syrischen Flüchtling zu Tode gekommen war. Hilfsorganisationen und NGOs berichten in verschiedenen Stadtteilen von Ankara und Istanbul mittlerweile von Einschüchterungsversuchen und der Tatsache, dass sie nur noch eingeschränkt operieren können, um sich und die Flüchtlingsfamilien zu schützen. In Altındağ, eigentlich eine Hochburg der regierenden AK Partei, die bei der letzten Kommunalwahl 2019 64 Prozent der Stimmen gewann, ist wie in vielen anderen Orten in der Türkei die Stimmung gegenüber Flüchtlingen gekippt.
Die Unzufriedenheit mit der Flüchtlingsthematik und die Forderung, keine neuen Flüchtlinge aufzunehmen und vorhandene Flüchtlinge abzuschieben, zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und Regionen. In der Politik kommt Kritik und das Schüren von Ressentiments vor allem aus der parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition und beschränkt sich dort nicht nur auf die rechten Parteien.
Zuletzt behauptete Ümit Özdağ, dass "90 Prozent der türkischen Nation sagt, dass die Syrier nach Syrien zurückkehren sollten”. Bei der aktuellen Stimmungslage in der Türkei liegt Özdağ mit Aussagen wie diesen gar nicht so weit von der Realität entfernt. Aktuelle Umfragen zeigen, dass gerade in den letzten Monaten die Stimmung in der gesamten türkischen Bevölkerung massiv gekippt ist.
Polarisierte Gesellschaft
Zuletzt gab es in den 1990er Jahren eine populäre nationalistische Welle, in der die MHP gerade bei den Jugendlichen und Erstwählern Sympathien geweckt hat und nach den Parlamentswahlen 1999 mit fast 20 Prozent der Stimmen Teil der Regierung wurde. Aufgrund der Folgen der COVID-19-Pandemie, der seit 2018 schwelenden Rezession und zuletzt wegen der Folgen der Naturkatastrophen, ist ein Großteil der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger unzufrieden mit der aktuellen Regierungsführung.
Die neugegründete Zafer Partisi versucht nun die Gunst der Stunde zu nutzen und sich mit Anti-Flüchtlings-Ressentiments zu profilieren und die anderen Parteien zu übertrumpfen. Die MHP und ihr Parteivorsitzender Bahçeli verhalten sich aufgrund ihrer Koalition mit Recep Tayyip Erdoğans AK Partei bei dieser Thematik vergleichsweise zurückhaltend. Özdağ hingegen nutzt seine Popularität und vertritt öffentlich die Ansicht, dass die kulturellen Werte der Türkei durch die Migrationsbewegungen zerstört würden und daher diese umgehend gestoppt werden müsse. In den letzten Jahren machte Özdağ vor allem mit seiner offenkundigen Abneigung gegenüber Flüchtlingen auf sich aufmerksam.
Wer ist Ümit Özdağ?
Noch ist wenig bekannt über die Ziele der Partei, aber anhand der Äußerungen vom Parteigründer lässt sich feststellen, dass die Partei sich an das Erbe und die Ideologie der pantürkisch-turanischen Bewegung anlehnt, welche in den 1930- 40ern Jahren noch eng mit der offiziellen nationalen Ideologie der noch jungen türkischen Republik verbunden war. In Fernsehauftritten und Interviews stellt er die neue Zafer Partisi und seine im März 2021 gegründete Ayyildiz-Bewegung (deutsch: Mond und Stern) in eine Reihe mit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk und den Gründer der MHP Alparslan Türkeş.
Der 1961 in Tokio geborene Özdağ ist der Sohn von Hauptmann Muzaffer Özdağ, einem der Offiziere, die 1960 am Putsch gegen den damaligen Premierminister Adnan Menderes beteiligt waren und Teil des „Komitee der Nationalen Einheit (türkisch: Millî Birlik Komitesi, MBK)“ war. Muzaffer Özdag gehörte zu den 14 Offizieren um den späteren Gründer der MHP Alparslan Türkeş, die sich gegen die anderen Putschisten stellten und deswegen für zwei Jahre als Militärattachés ins Exil geschickt wurden. Nach der Rückkehr aus dem japanischen Exil wuchs Özdağ in der Türkei auf und studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft auf Deutsch an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Nach einem Aufbaustudium in der Türkei schlug er eine akademische Laufbahn ein und wurde später Professor an der Gazi Üniversitesi in Ankara.
Der Politikwissenschaftler und Mitgründer und ehemaliger Direktor des dem türkischen Militär nahestehenden Think Tanks Center for Eurasian Strategic Studies (ASAM) hat sich während seiner akademischen Karriere vor allem mit geopolitischen Fragen und der Rolle der Türkei in seiner Nachbarschaft beschäftigt. 2004 beschrieb er die Problematiken in der türkischen Nachbarschaft bis hin nach Afghanistan und argumentierte, dass der „erweiterte Nahe Osten für die nächsten dreißig Jahre die Hauptgefahr für den Westen“ darstelle aufgrund von Terrorismus, Menschen- und Drogenhandel sowie politischer Instabilität. Als überzeugter Atatürkist vertritt er die Meinung, dass diesen Herausforderungen begegnet werden könne, wenn der Türkei innerhalb der NATO als Frontstaat besondere Bedeutung zugesprochen bekäme.
Politisch trat er in die Fußstapfen seines Vaters und engagierte sich schon früh in der MHP, dessen stellvertretender Vorsitzender und Abgeordneter er wurde. Özdağ ist vor allem ein Rebell, der sich gegen die MHP und deren Kurs unter dem langjährigen Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli stellt. Nach zwei gescheiterten Versuchen die Führung der MHP zu übernehmen, wurde er 2016 aus der Partei ausgeschlossen und trat Meral Akşeners İYİ-Partei bei. Mitte November 2020 wurde Özdağ auch aus der İYİ-Partei entlassen. Im März 2020 trennten sich die Wege, nachdem er der Parteiführung vorgeworfen hatte, das wahre Türkentum verraten und die Partei von den Atatürk-treuen Nationalisten „gesäubert“ zu haben und sich "als Satellit der CHP entpuppt" habe. In einem Interview kritisierte er außerdem die Mitgliedschaft der İYİ-Partei im Oppositions-Wahlbündnis „Nationale Allianz“.
Die Liste der Gründungsmitglieder der Zafer Partisi, die in den Medien kursiert, besteht vor Allem aus alten MHP-Kadern, die 2017 mit Meral Akşener zur İYİ-Partei gegangen sind und nun aufgrund eines weiteren Richtungsstreites die Partei wieder verlassen haben. Enge Vertraute der Parteivorsitzenden Meral Akşener und Abgeordnete der Partei stehen ebenso auf der Gründungsliste wie ihr Schwager Hasan Basri Akşener, der schon die Ayyildiz-Bewegung mit Özdağ mitgegründet hat sowie der Parlamentsabgeordnete für Adana İsmail Koncuk. Weitere Gründungsmitglieder sind ehemalige Parlamentsabgeordnete, Gründungsmitglieder der İYİ-Partei wie Ali Dinçer Çolak sowie Vertreter der Idealisten-Bewegung wie Feridun Yıldız und İsmail Türk.
Ideologisch gibt es zwischen allen drei Parteien wenig Unterschiede. Letztendlich sprechen alle Parteien eine ähnliche Klientel an und verfolgen die gleichen Ziele. Der Hauptunterschied ist das Wie. Während die MHP unter Bahçeli das Präsidialsystem in der Türkei bevorzugt und durch ihre Koalition mit der Regierungspartei unter Recep Tayyip Erdogan versucht Einfluss zu nehmen, halten Meral Akşener und die İYİ-Partei an der parlamentarischen Demokratie fest und bewegen sich zunehmend in die politische Mitte. Die Zafer Partisi unter Özdağ hingegen wünscht sich einen nationalistischeren Kurs und ein deutlicheres Bekenntnis zu den Idealen Mustafa Kemal Atatürks.
Was vordergründig wie eine Schwächung der İYİ-Partei erscheint, wird wohlmöglich vor allem zu einer Schwächung Devlet Bahçelis und seiner MHP führen. In nationalistischen und nationalkonservativen Kreisen wird schon seit Jahren ein Führungswechsel gefordert. Seit der Koalition der MHP mit der AK Partei steht Bahçeli zunehmend unter Beschuss. Das klassische MHP-Klientel fühlt sich von der MHP nicht mehr repräsentiert und zunehmend auch nicht mehr von der İYİ-Partei, da diese verstärkt die politische Mitte für sich zu gewinnen versucht. Die Zafer Partisi positioniert sich daher rechts der MHP. Viele vermuten, dass in einer Zeit nach Devlet Bahçeli ein Großteil der alten Kader, die sich jetzt in der İYİ-Partei oder eben der neuen Zafer Partisi engagieren, zurück zur MHP kehren könnten, wenn diese wieder ihrer alten Ausrichtung folgt. Bis dahin könnten schon wenige Prozentpunkte, die nicht an die MHP gehen, am Ende ausschlaggebend für deren Wiedereinzug ins Parlament sein, falls diese nicht über eine gemeinsame Liste mit der AK Partei antritt. Indirekt könnte damit auch die Position Recep Tayyip Erdoğans geschwächt werden, der zurzeit (noch) auf die MHP als Koalitionspartner im Rahmen der sogenannten „Volksallianz“ zählt.
Alternative zur MHP?
Es ist zu früh die Bewegung zu bewerten, aber ebenso wie die „Mutterpartei“ MHP und ihre „Schwesterpartei“ İYİ beruht ihr politisches Verständnis auf populistischem und organischem Denken der Nation sowie der klaren Priorisierung des türkischen Staates und Volkes. Aufgrund der aktuellen Umstände kann die Zafer Partisi wohlmöglich kurzfristig die Lücke füllen, die die aktuelle MHP unter Devlet Bahçeli hinterlässt. Trotzdem wird es darauf ankommen, ob Özdağ es schafft sich als echte Alternative zur MHP und zur mittlerweile sehr populären İYİ-Partei zu positionieren. Aufgrund der 10%-Hürde im türkischen Parlament, ist aber zu erwarten, dass die Zafer Partisi nur eine weitere Kleinstpartei ist, die keine Chance hat in das türkische Parlament einzuziehen. Wohlmöglich kann sie aber den ohnehin schon hochpolarisierten Diskurs in der Gesellschaft maßgeblich mitprägen und hierdurch die Ausrichtung der anderen nationalistischen Parteien verschieben.
Zu beobachten waren in den letzten Jahren immer wieder neue Parteigründungen in Folge von Abspaltungen von charismatischen und bekannten Politikern der etablierten Parteien. Zu nennen sind in diesem Kontext neben der İYİ-Partei, die Demokrasi ve Atılım Partisi (DEVA - Partei der Demokratie und des Aufschwungs), die Partei des ehemaligen AK Partei Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan und die Gelecek Partisi (Zukunftspartei) des ehemaligen AK Partei-Premierministers Ahmet Davutoğlu sowie die Memleket Partisi (Heimatpartei) des ehemaligen CHP-Präsidentschaftskandidaten Muharrem İnce. Bis auf die mittlerweile etablierte İYİ-Partei rangieren die anderen Parteien in Umfragen zwischen 0.5 und 1 Prozent. Was fehlt ist oft der Unterbau in den Parteistrukturen und weitere Führungspersönlichkeiten neben den Parteivorsitzenden.
Mythische Symbolik und Rhetorik
Der Tag der Parteigründung am 26. August 2021 wurde nicht ohne Grund gewählt. Es jährt sich die Schlacht von Malazgirt 1071, welche den Einzug der Türken (in Form der türkischen Seldschuken) nach Anatolien markiert. Am 30. August feiert die Türkei den Zafer Bayramı – den Tag des Sieges. Dieser Tag symbolisiert in der Türkei den Tag, an dem die Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk und seine Truppen befreit wurde. Für diesen Tag hat Ümit Özdağ die erste Sitzung des neuen Parteivorstandes angekündigt. Die Symbolik und Wortwahl Özdağ zeigt, dass die Zafer Partisi wieder stärker an die alte türkische Mythologie und turanische Symbolik anknüpfen möchte – beides Dinge, welche unter Devlet Bahçeli im Zuge der Neuausrichtung der MHP verloren gegangen sind. Es bleibt bei einer gewissen Ironie, dass in der Region, wo der Großteil der afghanischen Flüchtlinge und Migranten ankommt, der Beginn der türkischen Herrschaft in Anatolien begann.
Zuletzt warnte Özdağ bei Sputnik Türkiye vor einem internen Konflikt in Form einer bewaffneten Auseinandersetzung in der Türkei, welche im Interesse ausländischer „Imperialer Mächte“ sei. Die Migration und die Steuerung von Flüchtlingen in die Türkei würde einzig diesem Zweck dienen Das Narrativ von Spaltungsversuchen durch ausländische Mächte bleibt eine mächtige Kraft in der türkischen Politik. Ümit Özdağ weiß zu polarisieren und auch die Gefühle und den Zeitgeist der Türken anzusprechen. Laut Özdağ findet "jeder, der kein Atatürk-Anhänger ist, einen Weg in die Hölle" Wie bei so vielen Parteien zuvor, ist abzuwarten, ob es bei populistischen Äußerungen bleibt oder eine tiefergehende Programmatik folgt.
Über diese Reihe
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