Wie vermutet benötigte die Regierungsbildung längere Zeit als sonst, gute drei Monate. Und das ist gut zu verstehen, angesichts der bestehenden Möglichkeiten. Denn obwohl Sebastian Kurz nach einem fulminanten Wahlsieg am 29. September 2019 die Wahl zwischen drei möglichen Partnern hatte, so war doch keineswegs ein ‚natürlicher‘ Partner dabei. Die Sozialdemokraten (SPÖ), als zweitstärkste Partei aber mit hohen Verlusten aus der Wahl hervorgegangen, waren so oft mit der ÖVP in einer Regierung, dass schließlich gar keine Gemeinsamkeiten mehr, sondern nur abgrundtiefe Abneigung zueinander übriggeblieben sind. Zudem ist die Partei derzeit aufgrund von schwelenden Führungsstreitigkeiten vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Freiheitlichen (FPÖ) sind die Verursacher des vorzeitigen Endes der ersten Kurz-Regierung. Eine erneute Koalition mit der FPÖ nach all den schwererträglichen Vorgängen durch FPÖ-Vertreter hätte sich nur sehr schwer kommunizieren lassen. Daran ändert auch der zwischenzeitliche Rauswurf des ehemaligen Parteivorsitzenden Straches nichts, der als ‚Hauptdarsteller‘ im Ibiza-Video auftrat und einen sehr freien Umgang mit Spesengeldern pflegte. So wie Strache es geschafft hatte, der FPÖ zu hohen Zustimmungsraten zu verhelfen, so hat er letztlich den Absturz der Partei um fast zehn Prozent zu verantworten. Trotz allem schaffte sie es mit gut 16 Prozent zur drittstärksten Partei. Es blieben also die Grünen – die viertstärkste Partei nach den Wahlen, aber neben der ÖVP Gewinner. Im Wahlkampf gab es mehrfach die Beteuerung, mit der ÖVP auf keinen Fall zusammenregieren zu wollen. Es gäbe zu viel Trennendes, die beiden kämen aus verschiedenen Welten. Nun also doch – ein Novum.
Allerdings war schon die Vorgängerregierung ein Novum. Für sieben Monate war eine technokratische Regierung unter der ersten Bundeskanzlerin im Amt. Das Kabinett von Frau Bierlein arbeitete geräuschlos und erwarb sich schnell Respekt. Die dritte Besonderheit: Die Regierung bestand zur Hälfte aus Frauen. Diese Besonderheit teilt sie nun allerdings mit der neuen Regierung, in der sogar neun der 17 Mitglieder Frauen sind. Ebenfalls ist das jetzige Kabinett nochmals jünger als das vorhergehende.
Wer hat sich durchgesetzt?
Angesichts der ungewohnten Konstellation sind die Verhandlungen mit großer Spannung verfolgt worden. Es kann als erster Achtungserfolg gesehen werden, dass trotz großer Beteiligung von Mitgliedern der jeweiligen Partei kaum etwas von den Verhandlungen nach außen gelangte, keine Indiskretionen oder unlautere Forderungen, die ein Bündnis hätten erschweren können. Dass viele Mitglieder eingebunden wurden, war klug, denn auf beiden Seiten gab es Skepsis. Nur durch Gespräche und Offenheit wurde das nötige Vertrauen in den Parteien geschaffen. Innerhalb der letzten drei Monate hat sich in beiden Parteien die Haltung zu türkis-grün verändert – von breiter Ablehnung hin zu mehrheitlicher Zustimmung. Der Bundeskongress der Grünen, der der Koalition und den Vereinbarungen zustimmen musste, stimmte sogar mit über 93 Prozent für die Koalition mit der ÖVP – wobei das nicht zuletzt ein Vertrauensbeweis gegenüber dem grünen Parteivorsitzenden Kogler ist, der die Partei durch das außerparlamentarische „Tal der Tränen“ wieder zurück in den Nationalrat geführt hat. Aber auch in der Bevölkerung insgesamt gibt es inzwischen für ein türkis-grünes Bündnis eine Mehrheit.
Wie viel türkis und wie viel grün steckt nun im Regierungsprogramm? In der Präambel werden acht Ziele genannt, auf die die Koalition hinarbeiten möchte:
1. Eine spürbare Entlastung für arbeitende Menschen
2. Die Bekämpfung des Klimawandels und die Einhaltung der Klimaziele von Paris
3. Einen nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstandort
4. Die soziale Sicherheit und Armutsbekämpfung
5. Ein konsequenter Kurs im Bereich Migration und Integration
6. Die beste Bildung für alle
7. Nachhaltige Finanzen, notwendige Investitionen und ein ausgeglichener Haushalt
8. Mehr Transparenz im öffentlichen Bereich
Grob gesprochen könnte man die Ziele als sich abwechselnde Herzensanliegen der beiden Partner bezeichnen: Entlastung des Faktors Arbeit, Stärkung des Wirtschaftsstandortes, klarer Kurs bei Migration und nachhaltige Finanzen als türkise Themen und Bekämpfung des Klimawandels, soziale Sicherheit, Bildung und Transparenz als ureigene grüne Themen. Somit dürften sich beide Parteien gleichermaßen in den Vereinbarungen wiederfinden. Das entspricht einem Stück weit dem Verhandlungsprinzip, das der neue Bundeskanzler Kurz in Interviews so beschreibt: Man schleift sich nicht mühsam in Kompromissen jegliches Profil ab, sondern die beiden Parteien übernehmen für ihre jeweiligen wichtigsten Themen so etwas wie Alleinverantwortung. Ganz so parallel dürfte es im Regierungshandeln allerdings nicht zugehen, Gesetze müssen am Ende gemeinsam beschlossen werden.
Mit einer Ausnahme: dem Thema Migration. Dieses wurde als größtes Problem für eine Einigung gesehen. Die Grünen haben sehr mit der klaren und restriktiven Haltung des Bundeskanzlers Kurz im Bereich Migration gehadert. Dass dieser nicht bereit war, seinen Kurs nach der Wahl zu verlassen, wurde deshalb als unüberwindbare Hürde gesehen. Sie ist überwunden worden mit einer Vereinbarung, die ihr Beispiel suchen dürfte. Auf Seite 200 des Regierungsprogramms findet sich ein Kapitel mit der Überschrift: Modus zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl. Er räumt im Falle einer Krise (wie beispielsweise im Jahr 2015) bei Nicht-Einigung über ein Gesetzesvorhaben dem initiativen Partner das Recht ein, sein Vorhaben als Initiativantrag in den Nationalrat einzubringen und dafür jenseits der Koalition Mehrheiten zu finden. Angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten ist so ein Krisenfall zumindest nicht ausgeschlossen. Es wird für diesen Fall sehr spannend sein, wie tragfähig so eine Klausel ist.
Im Gegenzug konnten die Grünen das Umweltthema nicht nur zu einem klaren Schwerpunktthema im Regierungsprogramm hineinverhandeln. Vor allem der Zuschnitt des Umweltministeriums, das künftig von der grünen Ministerin Leonore Gewessler geführt wird, zeigt, dass die Grünen einen Bedeutungszuwachs durchsetzen konnten. Neben Umwelt hat das Ministerium auch die Zuständigkeit für Verkehr, Telekommunikation, Energie und Innovation.
Was die sonstige Aufteilung der Ministerien angeht, spiegelt diese die Mehrheitsverhältnisse aus der Nationalratswahl etwa im Verhältnis 1:2,7 wider. Dass die wichtigsten Ministerien in der Hand der ÖVP liegen, wird von manchen Kommentatoren als bewusstes Aufzeigen der Grenzen für die Grünen durch die ÖVP gewertet. Allerdings kommt es eher darauf an, was die einzelnen Ministerinnen und Minister aus den Vorhaben machen. Im Regierungsprogramm sind viele Dinge aufgelistet, die sich erstmal als Wunschliste lesen. Es wird darauf ankommen, diese mit Leben zu erfüllen, was unter anderem auch bedeutet, die jeweilige Finanzierung dafür zu finden. So sind Vorhaben wie die Entlastung im Bereich der Lohnsteuer, eine Erhöhung des Familien-Bonus und Verbesserungen im Pflegebereich angekündigt, wofür es finanzielle Spielräume geben muss. Das dürfte der Grund sein, warum einige Punkte, bei denen ebenfalls durchaus Handlungsbedarf gesehen wird, nicht aufgegriffen wurden - wie eine Reform der Pensionen oder die Abmilderung der kalten Progression.
Die Koalition kann scheitern
Dass es eine türkis-grüne Regierung gibt, ist für sich genommen schon eine Überraschung und erstaunlich – aber das Experiment kann schief gehen. Kulturell bleiben sich die beiden Parteien erst einmal fremd. Was zudem nicht unterschätzt werden darf: Die Grünen waren zwei Jahre nicht im Parlament vertreten. Damit ist viel vom damaligen Knowhow verloren gegangen. Personell muss sich der grüne Klub (die Fraktion) erst festigen. Was noch schwerer wiegt: Die ÖVP bringt jahrelange Regierungserfahrung ein. Für die Grünen ist die Regierungsarbeit Neuland. Nicht nur, dass man in kurzer Zeit verlässliche Experten benötigt. Es ist auch eine Herausforderung, ausreichend Vertrauen zwischen den Koalitionspartnern aufzubauen, damit sich nicht eine Seite wegen vermeintlicher Un-Professionalität genervt und die andere übervorteilt und ausgetrickst fühlt. Welche Rolle das Atmosphärische spielt, hat man an der türkis-blauen Koalition gesehen. Die hohe Popularität kam vor allem aufgrund der fast reibungslosen Zusammenarbeit und dem Ausbleiben des Gezänks, wie es das unter SPÖ-ÖVP Koalitionen gab, zustande.
Die Koalition kann erfolgreich sein
Aber genauso ist es möglich, dass die Koalition erfolgreich sein wird. Gerade in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung kann dieses Bündnis zeigen, dass verantwortungsvolles politisches Handeln verbinden kann. „Mit den Grünen gibt es die Chance, das Beste aus beiden Welten zu vereinen“, so Kurz im ZDF-Interview am 5. Januar. Und es gibt noch andere Gegensätze zu überwinden. So ist es zwingend, Klimaschutz und Wirtschaft, Umweltschutz und Landwirtschaft nicht als unvereinbar zu sehen, sondern sie zusammenzudenken. Gerade vor diesem Hintergrund kann so ein Regierungsbündnis innovativ sein und Wege aufweisen, wie Interessenkonflikte aufgelöst werden können.
Dass beide Seiten Interesse an einem Erfolg haben, kann vorausgesetzt werden. Niemand tritt in eine Regierung ein, um zu scheitern. Gleich im zweiten Absatz der Präambel heißt es: „Die Regierungsarbeit der kommenden fünf Jahre trägt das Bewusstsein, dass die beiden Regierungsparteien unterschiedlich sind, aber trotzdem die Verantwortung gemeinsam schultern.“ Wenn dieses Bewusstsein immer präsent ist, lassen sich Meinungsverschiedenheiten vielleicht überwinden. Wenn das gelingt, wird Österreich zum Vorbild – auch für andere Länder.
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