Brechend volle Strände, feiernde Menschen in Restaurants und Bars und kilometerlange Staus der Reiserückkehrer von den Urlaubsorten an der Küste in Richtung der Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro: Ungeachtet der weiterhin grassierenden Corona-Pandemie mit circa 40.000 Neuinfektionen pro Tag haben sich viele Brasilianer nach entbehrungsreichen Monaten mit Quarantänemaßnahmen und Maskenpflicht den feriadão, d.h. das aufgrund des Nationalfeiertags zur Unabhängigkeit verlängerte Wochenende, nicht vermiesen lassen.[1] Angesichts der 131.625 Todesopfer, die das Land zu beklagen hat sowie der mit deutlich über vier Millionen nach den USA und Indien höchsten Zahl an Covid-19-Infektionen weltweit (Stand 14.09.2020), scheint es geradezu unglaublich und doch könnten die Ereignisse vom Wochenende ein Indiz dafür sein, dass sich mehr und mehr Brasilianer mit der äußerst fragwürdigen Haltung zur Corona-Pandemie anfreunden können, die ihr Präsident Jair Bolsonaro bereits seit Monaten vertritt. Ähnlich wie in anderen Ländern sind es vor allem junge Menschen, die sich massenhaft über weiterhin bestehende Verbote wie das Verweilen an Stränden oder die Maskenpflicht im öffentlichen Raum hinwegsetzen. Aber auch vielen oftmals auf engem Raum zusammenlebenden Familien fällt es zunehmend schwer, auf Freizeitaktivitäten außerhalb der eigenen vier Wände zu verzichten.
Den Präsidenten – seinerseits nach überstandener Corona-Infektion wie gewohnt ohne Mund-Nasen-Schutzmaske bei der Parade zum Unabhängigkeitstag in Brasilia auf Tuchfühlung zu seinen Anhängern – stört dies mit Sicherheit keineswegs, im Gegenteil. Bolsonaro scheint auf eben jenen nun verstärkt einsetzenden Effekt der „Coronamaßnahmen-Müdigkeit“ bei seinen Landsleuten gesetzt zu haben. Noch vielmehr profitiert er jedoch von der Zustimmung all derer, die aufgrund schierer Notwendigkeit und zum Zwecke der eigenen Existenzsicherung die von ihm geforderte schnelle Rückkehr zur Normalität befürworten. Statistiken zufolge arbeiten etwa 40 Prozent der Brasilianer im informellen Sektor. Gerade in dieser Gruppe sind während der Krise Einnahmen oftmals komplett weggebrochen. Darüber hinaus sind in 13 der untersuchten 17 Hauptstädte der Bundesstaaten die Grundnahrungsmittelpreise zuletzt gestiegen. So kostete die cesta básica, d.h. die Grundnahrungsmittelversorgung eines Erwachsenen über den Zeitraum eines Monats, in der teuersten Stadt des Landes, São Paulo, im August 539,95 Reais, was 48,85 Prozent eines brasilianischen Nettomonatsmindestlohns entspricht.[2] Aber nicht nur Strand- und Straßenverkäufer, Hausangestellte und Tagelöhner hat die Krise hart getroffen. Auch die beispielsweise alleine in Rio de Janeiro geschätzten bis zu 200.000 Fahrer von Taxis sowie dem in Brasilien beliebten Fahrdienstleister Uber warteten in den vergangenen Monaten meist ebenso vergeblich auf Kunden wie die Beschäftigten im Tourismus- und Gastgewerbe.
Einbruch der brasilianischen Wirtschaft
Dementsprechend fielen die vom Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística, IBGE) veröffentlichen Wirtschaftsdaten für die Krisenmonate April, Mai und Juni noch schlechter aus, als von Analysten vorausgesagt worden war. Im Vergleich zum 1. Quartal ging die Wirtschaftsleistung um satte 9,7 Prozent zurück. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) im 2. Quartal des Vorjahres, betrug der Einbruch gar 11,4 Prozent. Laut dem IBGE, welches zudem auch die Daten für das 1. Quartal 2020 nachträglich von -1,5 Prozent auf -2,5 Prozent im Vergleich zum Vorquartal korrigieren musste, handelt es sich um den schlimmsten Wirtschaftseinbruch des Landes seit der Datenerfassung durch selbiges Institut im Jahr 1996.[3]
Sowohl im industriellen als auch im Servicesektor wurden jeweils historische Rückgänge von 12,3 bzw. 9,7 Prozent verzeichnet. Da das verarbeitende Gewerbe sowie Dienstleistungen zusammen für 95 Prozent der brasilianischen Wirtschaftskraft stehen, konnte die leicht positive Entwicklung im Agrarsektor von + 0,4 Prozentpunkten dank der gestiegenen Produktion von Kaffee und Soja diese Verluste nicht einmal annähernd kompensieren. Mit einem BIP von 1,653 Billionen Reais im 2. Quartal des Jahres 2020 bewegt sich Brasilien aktuell wieder auf dem Niveau des Jahres 2009, als die Folgen der globalen Finanzkrise der Ökonomie des Landes schwer zugesetzt hatten.[4] Auch der seit der Corona-Krise geradezu rasante Verfall der Landeswährung Real setzte sich nach einer kurzen Erholung Anfang Juni in den vergangenen Wochen fort, was Importe massiv verteuert. Nachdem der brasilianische Real zu Beginn des Jahres im Vergleich zum Euro noch bei etwa 1 zu 4,5 gelegen hatte, erreichte der Wechselkurs Mitte August mit 1 zu 6,6 ein neues Allzeithoch, was aktuell nur leicht unterschritten wird.[5] Die Zahl der Arbeitslosen ist im Zeitraum seit Beginn der Pandemie in Brasilien um 3 Millionen auf insgesamt 12,9 Millionen gestiegen. Dies entspricht einer Arbeitslosenquote von 13,7 Prozent.[6]
Allerdings gibt es auch in Brasilien Grund für vorsichtigen Optimismus, da mit zunehmenden Lockerungen, der Wiederaufnahme der Produktion in den Betrieben und dem Wegfall von Restriktionen für Geschäfte die Talsohle mittlerweile durchschritten sein sollte. Auch internationale Touristen dürfen seit Anfang August wieder nach Brasilien einreisen. Die meisten Ökonomen rechnen daher mit einem leichten Wachstum im 3. Quartal. Die Verluste des katastrophalen ersten Halbjahres werden jedoch im Jahr 2020 nicht mal annähernd aufzuholen sein, weshalb die Brasilianische Zentralbank von einem Jahresminus in Höhe von 5 Prozent ausgeht, welchem im kommenden Jahr 2021 ein Wachstum von 4 Prozent folgen könnte.[7]
Regierung verzeichnet Rekordzustimmungswerte und die Spaltung des Landes verfestigt sich
Trotz dieser Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft sowie kontinuierlich steigender Infektions- und Opferzahlen überraschte das Umfrageinstitut Datafolha Mitte August mit der Nachricht, dass die Regierung von Präsident Bolsonaro über die höchsten Zustimmungswerte seit Amtsantritt im Januar 2019 verfüge. Waren es im Juni noch 32 Prozent der Befragten, die die Arbeit der Regierung mit „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten, so stieg dieser Wert im August auf 37 Prozent. Zugleich macht der nahezu ebenso große Anteil derjenigen, die der Regierung ein „schlechtes“ oder „sehr schlechtes“ Zeugnis ausstellen deutlich, dass sich die Spaltung des Landes in Befürworter und Gegner des Präsidenten weiter verfestigt. Dieser Wert sank allerdings seit der letzten Umfrage um volle 10 Punkte von 44 Prozent auf nun nur noch 34 Prozent.
Lohnenswert ist an dieser Stelle ganz besonders der Blick auf die Entwicklung der Zustimmungswerte nach Region und den potentiellen Grund für diese Veränderung. Es fällt auf, dass die Regierung Bolsonaro insbesondere in der strukturschwachen Region des Nordostens, einer traditionellen Hochburg der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) und derer ehemaligen Präsidenten Lula und Dilma Rousseff, nun deutlich besser dasteht als noch zu Beginn der Corona-Krise. Zurückführen lässt sich dies mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auf den entscheidenden Faktor des auxílio emergencial, eine von der Regierung beschlossene Krisensoforthilfemaßnahme in Höhe von 600 Reais pro Monat. Seit April wird diese finanzielle Unterstützung im Gegenwert von ca. 100 Euro monatlich an Kleinunternehmer, Beschäftige im informellen Sektor sowie auch an während der Krise arbeitslos gewordene Brasilianer ausbezahlt.[8] Da der Anspruch auf diese Covid-19-Unterstützungsleistung beim Überschreiten definierter Schwellenwerte wie einem persönlichen Einkommen über dem brasilianischen Monatsmindestlohn erlischt, ist davon auszugehen, dass überproportional viele Menschen in den ärmeren Bundesstaaten des Nordostens profitiert haben. Da sowohl die Antragstellung als auch die Ausbezahlung für hiesige Verhältnisse relativ unbürokratisch und unkompliziert abliefen, scheinen sich tatsächlich viele Brasilianer, darunter zahlreiche Familien, insbesondere während des Höhepunkts der Corona-Krise in den Monaten April bis Juni dank dieser Sozialleistung über Wasser haben halten können. Die Dankbarkeit für die Unterstützung und eine gewisse Zufriedenheit mit diesem rein monetären Krisenmanagement wird – den meisten Interpretationen der Umfragewerte zufolge – nun der Regierung in Brasilia entgegengebracht. So sank im Nordosten die Zahl derjenigen, die die Regierung Bolsonaro als „schlecht“ oder „sehr schlecht“ einstufen von 52 Prozent auf 37 Prozent und bei den als „sehr arm“ klassifizierten Befragten von 44 Prozent auf 31 Prozent.[9]
Die Rolle der Abgeordnetenkammer in der Krise
Ironischerweise waren es in Wahrheit die Parlamentarier in der brasilianischen Abgeordnetenkammer, die sich ursprünglich für eine Erhöhung des auxílio emergencial eingesetzt hatten, wohingegen die Regierung lediglich 200 Reais in Aussicht gestellt hatte. Da die Beliebtheitswerte des Kongresses nun jedoch sogar sanken, beschlossen die Abgeordneten, ihre Kommunikationsstrategie grundlegend zu überarbeiten und Veränderungen am jeweils parlamentseigenen TV- und Radio-Kanal vorzunehmen. Dadurch soll es den Abgeordneten, aber auch Journalisten und Experten ermöglicht werden, Gesetzesvorschläge des Parlaments öffentlichkeitswirksamer zu diskutieren.[10] Genug Zeit zur Umsetzung dieser Strategie gemäß dem brasilianischen Sprichwort „Ein gutes Huhn gackert, wenn es ein Ei legt“ (Galinha boa cacareja quando bota ovo) bleibt definitiv, da die Regierung erst kürzlich beschlossen hat, bis zum Jahresende voraussichtlich vier weitere Tranchen an Corona-Unterstützungsgeld an Berechtigte auszahlen zu wollen. Von Ende September an soll der Betrag jedoch auf 300 Reais sinken.[11]
Generell waren es in den letzten eineinhalb Jahren seit dem Amtsantritt von Staatspräsident Bolsonaro und seiner Regierung die beiden Kongresskammern als Bestandteile der Legislative, die immer wieder eine konstruktive Rolle zu spielen vermochten. Trotz schwieriger Voraussetzungen und einer Vielzahl repräsentierter Parteien konnten Abgeordnetenhaus und Senat situativ vom Präsidenten initiierte Dekrete entscheidend abändern oder stoppen und neben dem erwähnten Beispiel der Corona-Hilfsmaßnahmen beispielsweise auch auf die Ausgestaltung der Rentenreform Einfluss nehmen. In einer zunehmend polarisierten Gemengelage mit einem schwer berechenbaren Präsidenten ist es durchaus bemerkenswert, wie es der fragmentierte Kongress bisher schafft, den Interessenausgleich zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und eine gewisse Balance in der Gesetzgebung für das Land zu gewährleisten. Eine Schlüsselrolle hierbei fällt zweifelsohne dem Präsidenten der Abgeordnetenhauskammer Rodrigo Maia (DEM – Democratas) zu.
Offiziell sieht das Gesetz, wie auch im Falle des Staatspräsidenten in Brasilien, lediglich eine Möglichkeit zur Wiederwahl vor, die Maia im Jahr 2018 nach zweijähriger erster Amtszeit bereits genutzt hat. Obgleich Maia selbst öffentlich nie die Absicht geäußert hat, ein drittes Mal kandidieren zu wollen, stellt sich die aktuelle Situation in Bezug auf seine Wiederwahl bzw. Nachfolge ab dem 1. Februar 2021 als äußerst komplex dar. Einige Abgeordnete drängen Maia nämlich dazu, ein Gesetz einzubringen, welches die Wiederwahl möglich machen soll. Paradoxerweise geht es jenen Abgeordneten um Arthur Lira (Progressistas, PP) keinesfalls darum, Maia im Amt zu halten. Vielmehr soll gemäß ihrer Auffassung das Parlament selbst jenen einzubringenden Gesetzesvorschlag ablehnen, um in einer Abstimmung deutlich zu machen, dass man die Begrenzung auf zwei Amtszeiten befürwortet. Dementsprechend könnte die Legislative mit diesem Gesetzesakt ihre eigenen Spielregeln festlegen und müsste sich nicht wie bisher den ausschließlich von Gerichten beschlossenen Vorgaben fügen. Es handelt sich jedoch um ein äußerst riskantes Vorgehen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass letztlich eine Mehrheit der Abgeordneten für die Amtszeitverlängerung stimmen könnte. Parallel zu dieser sonderbaren Debatte ist freilich das Schaulaufen der potentiellen Nachfolgekandidaten Maias in vollem Gang. Während sich die PP wohl noch zwischen dem genannten Arthur Lira und seinem Parteigenossen Aguinaldo Ribeiro auf einen dann aussichtsreichen Kandidaten wird einigen müssen, werden auch Baleia Rossi (Movimento Democrático Brasileiro, MDB) gute Chancen eingeräumt.[12] Beide Parteien werden in der relativ unübersichtlichen brasilianischen Parteienlandschaft dem sogenannten centrão, d.h. einem Konglomerat weitgehend ideologiefreier und programmatisch breit aufgestellter Parteien der politischen Mitte, zugeordnet.
Politisches Chaos in Rio de Janeiro
In Rio de Janeiro herrscht derweil in weiten Teilen der Bevölkerung Fassungslosigkeit angesichts der gravierenden Anschuldigungen gegen den Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaates Wilson Witzel sowie den Bürgermeister der Stadt am Zuckerhut Marcello Crivella. Witzel wird vorgeworfen, in ein ausgedehntes System korrupter Machenschaften im Zusammenhang mit der Abzweigung von Geldern verstrickt zu sein, welche eigentlich für das öffentliche Gesundheitswesen vorgesehen waren. So soll der Politiker des evangelikal-fundamentalistischen Partido Social Cristão (PSC) bei der Auftragsvergabe an Produzenten öffentlicher Gesundheitsgüter und für Zahlungen an soziale Organisationen über die Anwaltskanzlei seiner Ehefrau Schmiergelder im Wert von insgesamt 500.000 Reais kassiert haben. Am 28. August wurde Witzel auf Anweisung des Obersten Gerichtshofs (Superior Tribunal de Justiça, STJ) seines Amtes enthoben.[13]
Unmittelbar danach, Anfang September, wurden die Einwohner Rios Zeugen eines weiteren grotesk anmutenden Polit-Thrillers. So soll der Bürgermeister Crivella (Republicanos) eine Art „Abschreckungstrupp“ finanziert haben, der in der Stadt verteilt an den Eingängen von Krankenhäusern positioniert wurde. Die Aufgabe der „Guardiões do Crivella” genannten Truppe bestand darin, Journalisten und Bürger regelrecht abzuwimmeln und daran zu hindern, dem Krankenhauspersonal, Ärzten und Krankenschwestern, potentiell unangenehme Frage zur Covid-19-Situation in der Stadt allgemein oder spezifisch zur Überlastung bestimmter Kliniken zu stellen. Die Bestürzung darüber, dass ein solch dreister Vertuschungsversuch auch noch mit öffentlichen Geldern aus der Stadtkasse finanziert worden sein soll, ist groß. Dennoch hatte der Eklat für den amtierenden Bürgermeister, der sich überdies bei den Kommunalwahlen im November zur Wiederwahl stellen möchte, bislang keine Folgen, da sich in dem von Crivellas Anhängern dominierten Gemeinderat der Stadt Rio de Janeiro keine Mehrheit für die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens fand.[14]
Die Situation im Amazonasgebiet – Weiterhin zähes Ringen um Brasiliens Kurs in der Umweltpolitik
Im Bereich der Umweltpolitik waren die letzten Monate geprägt von wechselvollen Nachrichten aus dem In- und Ausland sowie von widersprüchlichen Signalen von der Regierungsseite. In der brasilianischen Wirtschaft und konkret selbst bei dem beim Thema Naturschutz naturgemäß als wenig progressiv bekannten brasilianischen Landwirtschaftsverband (Associação Brasileira do Agronegócio, Abag) schien sich langsam aber sicher die Erkenntnis durchzusetzen, dass ein schlechtes Image des Landes und seiner Produkte letztlich auch schlecht für das Geschäft sein könnte.[15] Nachdem internationale Investoren vermehrt damit gedroht hatten, Gelder aus Brasilien abzuziehen, lenkte am 16. Juli auch der Staatspräsident vorerst ein. Bolsonaro, unterzeichnete nahezu exakt zum Beginn der Trockenzeit einen Erlass, der jegliche Art der Brandrodung im Amazonas-Regenwald für die Dauer von vier Monaten untersagt.[16]
Bolsonaro muss zusehen, dass die Wirtschaft wieder in die Gänge kommt und es gilt nun für die Regierung, die mit dem Versprechen von wirtschaftlicher Entwicklung, Öffnung und Wachstum angetreten war, neue Investoren für Brasilien zu begeistern. So sieht man in Brasilia die zunehmend kritische Haltung vieler europäischer Staaten in Bezug auf das EU-Mercosul-Abkommen durchaus mit Sorge. Die Regierung Bolsonaro steht dem Handelsabkommen grundsätzlich positiv gegenüber, auch um eine noch stärkere handelspolitische Abhängigkeit von China zu vermeiden.
Diese jüngsten Signale und vorsichtige Anzeichen einer Kehrtwende in der Umweltpolitik rücken aktuell angesichts schockierender Zahlen zum Thema Brandrodung im Regenwald aber schon wieder in den Hintergrund. Laut den Zahlen des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais, INPE) loderten seit Beginn der Datenerhebung im Jahr 1998 nie mehr Feuer im Bundesstaat Amazonas als im August 2020. Neben den nun gezählten 7.766 Bränden erschreckt auch, dass die Zahl der Brände dort im ersten Halbjahr des Jahres um über 50% im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen ist.[17] Als seien die Fakten nicht schon ernüchternd genug, warf diese Woche auch ein irreführender Post des brasilianischen Umweltministers Ricardo Salles in den sozialen Medien die Frage auf, ob es die Regierung Bolsonaro mit dem Umweltschutz tatsächlich ernst meint. Salles teilte ein Video, auf dem Regenwald zu sehen ist und kommentierte provokant: „Riecht irgendjemand Rauch? Natürlich nicht, weil Amazonien nicht abermals brennt!“. Zum Verhängnis wurde Salles und seinem angeblichen Beweisvideo ausgerechnet ein Goldenes Löwenäffchen. Da jenes im Video gut zu erkennende Säugetier lediglich im Atlantischen Regenwald, primär im Bundesstaat Rio de Janeiro, zu Hause ist, erwiesen sich Salles Kommentare letztlich doch als (Schall und) Rauch.[18]
Fazit und Ausblick
Brasilien hat es weiterhin mit einer Art „Dreifachkrise“ zu tun. Die Infektionszahlen sind lokal leicht gesunken, verharren im landesweiten Durchschnitt aber seit Wochen auf einem hohen Niveau, so dass von Entwarnung keine Rede sein kann. Im Schnitt der letzten 14 Tage steckten sich täglich 27.659 Personen an[19], wobei aufgrund der geringen Testkapazitäten von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgegangen werden kann.
Immer deutlicher sichtbar werden die dramatischen wirtschaftlichen Folgen der Krise und trotz bewilligter Soforthilfen und Unterstützungsmaßnahmen bis Jahresende ist zu befürchten, dass die ärmeren Bevölkerungsschichten in den kommenden Monaten in besonderem Maße unter dem Wirtschaftseinbruch und daraus resultierenden sozialen Verwerfungen leiden werden.
Der Blick der politischen Beobachter in Brasilien richtet sich bereits auf die für den 15. November geplanten landesweiten Kommunalwahlen. Während manche Experten den besonderen Charakter von Kommunalwahlen und deren lokal sehr unterschiedliche Konstellationen und Entscheidungsfaktoren hervorheben, melden sich auch Stimmen zu Wort, die in den Kommunalwahlen potentiell eine Art Volksabstimmung über die Politik Jair Bolsonaros nach zwei Jahren im Amt sehen. Fest steht, dass sich Bolsonaros Versuch einer Parteineugründung mit landesweiter Strahlkraft als Fehlschlag erwiesen hat. Seine Aliança pelo Brasil hat es verpasst, genügend Unterschriften für eine Aufnahme ins Parteienregister zu sammeln und tritt bei den Kommunalwahlen nicht an. Kandidaten anderer rechtspopulistischer und evangelikal geprägter Parteien können jedoch oftmals auf die Unterstützung des Staatspräsidenten zählen. So suchte beispielsweise der bereits erwähnte, stark unter Druck stehende Bürgermeister von Rio de Janeiro Marcello Crivella in den vergangenen Wochen immer wieder die Unterstützung Bolsonaros.[20]
Beunruhigend sind auch die anhaltenden Verbalattacken des Präsidenten gegen demokratische Institutionen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs).[21] So sprach der Präsident Anfang September in den sozialen Medien davon, dass er „es nicht schaffe das Krebsgeschwür namens NGOs zu vernichten, welches im Amazonasgebiet präsent sei“.[22] Es bleibt abzuwarten, ob es sich hierbei lediglich um eine deplatzierte Abwehrreaktion auf den wachsenden internationalen Druck sowie eine Botschaft an den fanatischen Teil der Anhänger Bolsonaros handelte oder ob in Zukunft gar weitere Eskalationsschritte erfolgen werden.
[1] https://g1.globo.com/rj/rio-de-janeiro/noticia/2020/09/07/feriadao-e-marcado-por-aglomeracao-nas-praias-parques-e-bares-do-rio.ghtml.
[2] https://agenciabrasil.ebc.com.br/economia/noticia/2020-09/custo-da-cesta-basica-aumenta-em-13-capitais-em-agosto-diz-dieese.
[3] https://g1.globo.com/economia/noticia/2020/09/01/pib-tem-queda-recorde-de-97percent-no-2o-trimestre-e-brasil-entra-de-novo-em-recessao.ghtml.
[4] https://economia.uol.com.br/noticias/redacao/2020/09/01/pib-brasil-2-trimestre-2020.htm.
[5] https://www1.oanda.com/lang/de/currency/converter/.
[6] Dies sind Zahlen des IBGE, die in der letzten Juliwoche 2020 erhoben wurden.
[7] http://datafolha.folha.uol.com.br/opiniaopublica/2020/08/1988832-aprovacao-a-bolsonaro-cresce-e-e-a-mais-alta-desde-inicio-de-mandato.shtml.
[8] http://www.caixa.gov.br/auxilio/PAGINAS/DEFAULT2.ASPX.
[9] http://datafolha.folha.uol.com.br/opiniaopublica/2020/08/1988832-aprovacao-a-bolsonaro-cresce-e-e-a-mais-alta-desde-inicio-de-mandato.shtml.
[10] https://oglobo.globo.com/brasil/camara-muda-comunicacao-para-melhorar-popularidade-24627090.
[11] https://g1.globo.com/economia/noticia/2020/04/07/como-sera-feito-o-pagamento-do-auxilio-emergencial-de-r-600.ghtml.
[12] Vgl. O Globo (07.09.2020), S.4. „A sucessão de Maia“.
[13] http://correiodopovo-al.com.br/index.php/noticia/2020/08/28/stj-afasta-witzel-do-governo-do-rio-por-suspeitas-de-participar-em-esquema-de-corrupcao-na-saude.
[14] https://g1.globo.com/rj/rio-de-janeiro/noticia/2020/09/03/guardioes-do-crivella-nao-se-identificavam-como-funcionarios-da-prefeitura-ao-abordar-pacientes-e-reporteres.ghtml.
[15] https://www.zdf.de/nachrichten/heute-19-uhr/videos/brasilien-stoppt-abholzung-100.html.
[16] https://g1.globo.com/natureza/noticia/2020/07/15/governo-federal-proibe-queimadas-por-120-dias.ghtml.
[17] https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2020-08/brasilien-amazonas-waldbraende-feuer-regenwald-inpe.
[18] https://epoca.globo.com/guilherme-amado/salles-compartilha-video-negando-fogo-na-amazonia-com-imagens-da-mata-atlantica-1-24631972.
[19] https://g1.globo.com/bemestar/coronavirus/noticia/2020/09/10/casos-e-mortes-por-coronavirus-no-brasil-em-10-de-setembro-segundo-consorcio-de-veiculos-de-imprensa.ghtml.
[20] https://noticias.uol.com.br/politica/ultimas-noticias/2020/08/15/bolsonaro-da-apoio-velado-a-crivella-apos-negar-participacao-no-1-turno.htm.
[21] Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.06.2020, S.5., „Bolsonaros Fanatiker“.
[22] https://noticias.uol.com.br/ultimas-noticias/reuters/2020/09/03/nao-consigo-matar-cancer-chamado-ongs-que-atuam-na-amazonia-diz-bolsonaro.htm.
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