Den vollständigen Länderbericht lesen Sie in der Anlage
Politischer Stillstand in Bagdad
Drei Monate nach den Parlamentswahlen herrscht in Bagdad weiterhin politischer Stillstand. Dies gründet zum einen in dem überraschenden Wahlergebnis, welches die bisherigen politischen Kräfteverhältnisse im Land erschüttert hat. Bei den Wahlen am 12. Mai gewann die Sairoun-Bewegung des populären schiitischen Predigers Muqtada as-Sadr überraschend die Wahlen vor der Iran-nahen Conquest-Allianz des Anführers der Volksmobilisierungskräfte (al-Haschd asch-Scha‘bi), Hadi al-Ameri, während der amtierende Ministerpräsident Haider al-Abadi mit seiner Victory-Allianz nur auf dem dritten Rang landete. Für al-Abadi, der keinen der Wahldistrikte mit schiitischer Bevölkerungsmehrheit gewinnen konnte, ist dieses Abschneiden ein herber Rückschlag. Noch vor einem Jahr ließ er sich nach der Rückeroberung Mossuls vom IS (Juli 2017) als siegreicher Feldherr feiern und inszenierte sich nach der Rückgewinnung Kirkuks von den kurdischen Peschmerga (Oktober 2017) als Bewahrer des irakischen Staates.
Zum anderen behindern Vorwürfe über Wahlbetrug und Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe den verfassungskonformen Regierungsbildungsprozess. Über 1.500 Beschwerdeanträge gegen das Wahlergebnis hatten im Nachgang der Wahlen dazu geführt, dass der Oberste Gerichtshof des Irak eine manuelle Neuauszählung der Stimmen anordnete und einer Neubesetzung der Independent High Electoral Commission (IHEC) mit neun parteilosen Richtern stattgab. Am 6. August erklärte die IHEC die Neuauszählung der Wählerstimmen in den angefochtenen Wahlstationen für abgeschlossen. Am 10. August wurde das Ergebnis bekanntgegeben, das jedoch keine wesentlichen Veränderungen des Wahlausgangs zur Folge hat. Lediglich al-Ameris Conquest-Allianz verbuchte einen zusätzlichen Sitz und stellt nun 48 Abgeordnete. Erst mit der noch ausstehenden Bestätigung dieser Ergebnisse durch den Obersten Gerichtshof kann sich jedoch das neue Parlament konstituieren und die Regierungsbildung formal beginnen. Es ist unklar, wann dies erfolgen wird.
Seit den Wahlen bemühen sich die politischen Akteure in Bagdad im Hintergrund um eine Koalitionsbildung. Diese gestaltet sich jedoch angesichts der neuen Kräfteverhältnisse als äußerst schwierig. Muqtada as-Sadr verkündete Übereinkünfte mit verschiedenen Parteien, darunter mit dem geschäftsführenden Ministerpräsidenten Hai-der al-Abadi und dem Anführer der Volksmobilisierungskräfte Hadi al-Ameri. Diese Vereinbarungen sind bislang jedoch von keiner klaren Programmatik geprägt, die über Bekenntnisse zu einer konfessionsübergreifenden, inklusiven Regierung und dem gemeinsamen Kampf gegen die Korruption hinausgehen. Ebenso wenig dürften diese öffentlich angekündigten Übereinkünfte eine finale Bedeutung haben, sondern sollten viel mehr als taktische Absprachen in einem lange andauernden Regierungsbildungsprozess verstanden werden.
Zum jetzigen Zeitpunkt zeichnet sich damit noch keine stabile Regierungskoalition ab. Vieles dürfte in den nächsten Wochen davon abhängen, welche Rolle externe Akteure im Regierungsbildungsprozess einnehmen werden. Vor allem der Iran ist bestrebt, das gute Abschneiden der verbündeten schiitischen Kräfte bei den irakischen Parlamentswahlen in politischen Einfluss zu übersetzen. Auf der anderen Seite zielen die Vereinigten Staaten darauf ab, ihre Interessen in Bagdad durch die Installierung eines pro-westlichen und Saudi-Arabien positiv gesinnten Ministerpräsidenten zu behaupten.
Aufgrund der komplexen Kräfteverhältnisse gilt es als wahrscheinlich, dass die politischen Lager im Irak eine Regierung der nationalen Einheit bilden werden, welche die Interessen der Vereinigten Staaten und des Iran im Irak auszubalancieren vermag. Dies dürfte zur Folge haben, dass die zukünftige Regierung auf einer nur sehr dünnen inhaltlichen und programmatischen Basis stehen wird.
Soziale Unruhen im Südirak
Darüber hinaus erschweren soziale Unruhen, die im Juli vor allem im schiitischen Kernland im Südirak aufgeflammt sind, die Regierungsbildung. Die Proteste brachen in Basra, der zweitgrößten Stadt des Irak, aus und weiteten sich im Verlauf des Monats auf acht weitere Provinzen sowie auf die Hauptstadt Bagdad aus. Primärer Auslöser war die mangelhafte Elektrizitätsversorgung, die in den diesjährigen Sommermonaten vielerorts massive Einschränkungen erlebt hat. Aufgrund der schlechten Wartung der Infrastruktur, niedriger Flussstände im Bereich von Wasserkraftwerken, der Einstellung der Stromzulieferungen aus dem Iran und Kraftstoffmangel hat das irakische Elektrizitätsnetz in den vergangenen Monaten knapp 2.500 Megawatt an Leistung eingebüßt. Als Folge lieferte das öffentliche Netz in Basra beispielsweise Anfang Juni nur rund 16 Stunden Strom pro Tag.
Die Proteste gewannen schnell an Themenvielfalt. Die Demonstranten beklagten die Unfähigkeit des irakischen Staates, eine sichere Energie- und Wasserversorgung zu garantieren, die hohe Arbeitslosigkeit und die grassierende Korruption im Land. Im ölreichen aber von Armut geprägten Basra prangerten die Proteste insbesondere die finanzielle Benachteiligung der Provinz durch die Zentralregierung in Bagdad an, die einen Großteil der Einnahmen aus dem Ölgeschäft einbehält. Vielerorts äußerten die Protestierenden zudem Kritik am Iran, der aufgrund seiner Einflussnahme im Irak als ein Urheber der Probleme im Land gesehen wird. Das von Beginn an harte Vorgehen der irakischen Sicherheitskräfte gegen Teilnehmer der Proteste befeuerte die Demonstrationen zusätzlich.
Die Unruhen stellen eine beispielslose Zuspitzung des öffentlichen Unmuts mit der Lage im Irak dar. Zwar brachen auch in den vergangenen Jahren in den Sommermonaten Proteste im Südirak aus. Während diese Unruhen jedoch überwiegend von etablierten politischen Akteuren gesteuert und instrumentalisiert wurden, sind die jetzigen Proteste weitestgehend unkoordiniert und führerlos. Die öffentliche Unzufriedenheit zielt dabei auf alle politischen Akteure des Irak und sogar den schiitischen Klerus ab. An manchen Orten wie der Stadt Hilla in der Provinz Babil griffen Demonstranten Büros von Muqtada as-Sadr an, der bislang als wichtigstes Sprachrohr der Benachteiligten und Armen galt. Selbst der in der irakischen Gesellschaft hochrespektierte Großajatollah Ali as-Sistani, die wichtigste schiitische Autorität des Landes, wurde ob seiner anfangs passiven Haltungen zu den Forderungen der Proteste kritisiert. Tatsächlich ist das Ausmaß der diesjährigen Unruhen erheblich. Demonstranten brannten vielerorts öffentliche Gebäude und Parteibüros nieder und griffen Regierungsvertreter an; in der Stadt Nadschaf wurde sogar der örtliche Flughafen gestürmt.
Die irakische Regierung hat auf die Proteste mit einer Doppelstrategie reagiert. Zum einen ordnete Ministerpräsident al-Abadi den umfassenden Einsatz der Sicherheitskräfte an, um die öffentliche Infrastruktur und Parteieinrichtungen zu schützen. Vielerorts kam es dabei zu Ausschreitungen, bei denen mehrere Demonstranten getötet wurden. Ebenso schränkten die irakischen Sicherheitsbehörden im Juli in Teilen des Irak wiederholt den Zugang zum Internet ein und blockierten soziale Medien wie Facebook oder Twitter, um eine Ausweitung der Proteste zu verhindern. Internationale Beobachter haben das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte kritisiert.
Zum anderen versucht die irakische Regierung, die Demonstranten durch vage Reformversprechen und Hilfspakete zu beschwichtigen. Mitte Juli entschied das Kabinett, in allen Ministerien und Provinzregierungen sogenannte Crisis Cells einzurichten, die Lösungsansätze für die Forderungen der Proteste erarbeiten sollen. Ebenso kündigte al-Abadi an, knapp drei Milliarden US-Dollar an Soforthilfen für Basra bereitzustellen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um zusätzliche Mittel. Tatsächlich schuldete die Zentralregierung diesen Betrag der südirakischen Stadt bereits seit geraumer Zeit. Ölminister Jabbar al-Luaybi versprach darüber hinaus, dass 10.000 neue Stellen für die Einwohner Basras geschaffen werden; lokale Behörden rechnen mit 400.000 bis 500.000 Bewerbungen.
Vor allem aufgrund des umfassenden und rigorosen Einsatzes der Sicherheitskräfte, insbesondere des Counter Terrorism Service (CTS), ist es der Regierung al-Abadis gelungen, die Unruhen überwiegend einzudämmen.
Ausblick: Der Irak vor einer unsicheren Zukunft
Die strukturellen Probleme und Herausforderungen des Irak sind tiefgründig. Das aktionistische Krisenmanagement des geschäftsführenden Ministerpräsidenten Hai-der al-Abadi hat die sozialen Unruhen kurzfristig, aber keinesfalls nachhaltig unter Kontrolle gebracht. Ein neuerliches Aufflammen von Protesten ist jederzeit möglich. Für die zukünftige Regierung wird daher entscheidend sein, umfassende Reformmaßnahmen in Verwaltung und Wirtschaft umzusetzen und dabei insbesondere die grassierende Korruption zu bekämpfen.
Andernfalls droht sich der Vertrauensverlust der irakischen Bevölkerung in das politische System des Landes weiter fortzusetzen. Bereits jetzt hat der demokratische Prozess angesichts der geringen Beteiligung bei den Wahlen am 12. Mai stark an Legitimität verloren. Nur 44,5 Prozent der zuvor registrierten Wähler gaben am Wahltag ihre Stimme ab (2014: 62 Prozent, 2010: 62,4 Prozent und 2005: 79,6 Prozent). Mit ungewohnt deutlichen Worten hat zuletzt der schiitische Großajatollah Ali as-Sistani, der für gewöhnlich von einer Einmischung in die irakische Politik absieht, die irakischen Politiker kritisiert und den Ruf nach Reformen bekräftigt.
Die politischen Eliten stehen folglich unter erheblichen Druck, eine Regierung zu formen und den aktuellen Herausforderungen entgegenzutreten. Angesichts des Wahlergebnisses, welches die bisherigen politischen Kräfteverhältnisse im Land erschüttert hat, ist jedoch unklar, wann es dazu kommen wird. Fraglich ist, ob al-Abadi nach den jüngsten Protesten und der persönlichen Kritik as-Sistanis eine weitere Amtszeit antreten kann. Unter den aktuellen Umständen und vor dem Hintergrund der externen Einflussnahme im Land durch den Iran und die Vereinigten Staaten ist es wahrscheinlich, dass sich die verschiedenen politischen Lager auf eine Regierung der nationalen Einheit verständigen werden. Diese könnte die unterschiedlichen ausländischen Interessen im Irak ausbalancieren. Der Regierungsbildungsprozess dürfte jedoch insbesondere aufgrund der heiklen ethnisch-konfessionellen Arithmetik und der schwierigen Postenaufteilung noch einige Monate in Anspruch nehmen.
Nach den konfessionellen Konflikten der 2000er Jahre und dem Kampf gegen den IS ist das politische System des Irak erneut mit einer schweren Krise konfrontiert. Sollten die etablierten politischen Kräfte des Landes die notwendigen strukturellen Reformen nicht zügig umsetzen und das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen, droht ein weiterer Zerfall der seit der amerikanischen Invasion von 2003 bestehenden politischen Ordnung – mit dem Risiko einer Wiederkehr der dschihadistischen Bedrohung aus dem Irak.
Bereitgestellt von
Hauptabteilung Europäische und Internationale Zusammenarbeit
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.