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Länderberichte

Politisches System in Belarus

Ein Volk – zwei neue Vertretungen?

In Frühjahr 2024 kamen die Belarusen in den „Genuss“ der Erneuerung zweier politischer Organe, die beide für sich beanspruchen, das Volk zu vertreten, wenn auch auf diametral entgegengesetzte Weise: Die Allbelarusische Volksversammlung, eingesetzt durch Lukaschenka, soll als neue Superinstanz dessen persönliche Herrschaft und den Fortbestand des autoritären Systems sicherstellen und erfüllt gleichzeitig eine Forderung Vladimir Putins nach inneren Reformen in Belarus. Besetzt mit 1.200 Loyalisten ist sie zudem künstliches Abbild einer „idealen Gesellschaft“ in den Augen des Herrschers, die den politischen Gegner, also die Mehrheit des Wählervolkes, von der Teilhabe ausschließt. Den demokratischen Kräften im Exil hingegen führten mit den Wahlen zum Koordinierungsrat die wohl erste belarusische demokratische Wahl seit 1994 durch. Technisch geglückt, gelang es ihnen jedoch kaum, größeres Interesse in der Bevölkerung zu wecken, da Mandat, Funktion und Wirkmöglichkeiten des „Protoparlaments“ unklar bleiben. Wie beide funktionieren, zustande kamen und sich in die aktuelle politische Lage in und um Belarus einfügen, analysiert dieser Bericht.

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Zwei Mal Belarus

Haben Ländernamen eigentlich einen Plural? Und wenn ja, wie würde man ihn bilden? Sagt man „drei Frankreiche“, „vier Indiens“ oder „fünf Finnländer“? In den allermeisten Fällen stellt sich diese Frage praktisch nicht. Im Fall von Belarus hingegen ist immer wieder zu hören, dass es im Grunde zwei verschiedene „Visionen“ desselben Landes gebe: Das diktatorisch-repressive, eng an Putins Russland angelehnte Belarus Aliaksandr Lukaschenkas auf der einen und das nach Freiheit strebende, pro-europäische „neue“ Belarus, vertreten von Sviatlana Tsikhanouskaya und den demokratischen Kräften. Beide „Belarusse“ haben im Lauf der letzten Wochen die Erneuerung eines zentralen politischen Organs erfahren – der „Allbelarusischen Volksversammlung“ (ABVV) und des Koordinerungsrats (KR). Doch auch wenn beide vordergründig einige Gemeinsamkeiten aufweisen, könnten sie ihrer Substanz nach kaum unterschiedlicher sein. Während Lukaschenka durch die Erhebung der vormals eher zeremoniellen ABVV ein neues Superorgan im Verfassungsgefüge geschaffen hat, das seine persönliche Herrschaft und den Fortbestand des hart-autoritären Systems absichern soll, haben die demokratischen Kräfte erstmals direkte

Wahlen zu ihrem „Protoparlament“ im Exil abgehalten. Dieses war nach der gefälschten Präsidentschaftswahl im Herbst 2020 immerhin in Dokumenten der EU und USA als „Interims-Vertretungsorgan“ des Belarusischen Volkes anerkannt worden.[1]

 

Die „Allbelarusische Volksversammlung“ – Neues „Superorgan“ im Schlummermodus

Als die „Allbelarusische Volksversammlung“ am 24. und 25. April 2024 in Minsk zusammenkam, war dies bereits das siebte Mal, dass dieses über 1000-köpfige Loyalistengremium tagte. Seit seiner Gründung im Jahr 1996 ist das Format, das vom Erscheinungsbild her an Parteikongresse der KPdSU erinnert, eng verknüpft mit der persönlichen Machtsicherung Lukaschenkas. Seine erste Sitzung fand damals, mit einer stolzen Beteiligung von fast 5.000 Delegierten, nur wenige Wochen vor einem umstrittenen Verfassungsreferendum statt, das die Bündelung der Herrschaft in den Händen des jungen Präsidenten besiegelte. Doch auch wenn die ABVV, die offiziell ein breites Sample der belarusischen Gesellschaft abbilden sollte, was freilich oppositionelle Kräfte seit jeher ausschloss, formell die großen Leitlinien der Entwicklung des Landes festlegen durfte, war sie im Verfassungssystem des Landes nicht vorgesehen.

Ein umstrittenes Referendum am 27. Februar 2022 änderte dies – zumindest auf dem Papier – grundlegend und erhob sie zum höchsten Organ im politischen Gefüge der Republik Belarus. Gleichwohl sollte es über zwei Jahre dauern, bis das Gremium zum ersten Mal in dieser Form zusammentrat. Der politische Anlauf zu dieser Entwicklung beginnt jedoch bereits kurz nach den gefälschten Wahlen vom Sommer 2020.

Als Lukaschenka damals angesichts der friedlichen Massenproteste in den Abgrund seines Sturzes blickte, wandte er hilfesuchend sich an seinen Verbündeten in Moskau. Vladimir Putin leistete politische, propagandistische und finanzielle Unterstützung, doch sind sich viele Beobachter einig, dass er daran konkrete Bedingungen knüpfte. Kommentare hochrangiger russischer Beamte aus den anschließenden Monaten legen nahe, dass dies neben Plänen der wirtschaftlichen und politischen Integration beider Länder im sogenannten „Unionsstaat“ auch die Änderung der belarusischen Verfassung beinhaltete. In den bis dato 25 Jahren seiner Herrschaft hatte Lukaschenka sein Herrschaftssystem stark personalisiert und sich selbst zum zentralen „Gate-Keeper“ gemacht. Eine Verfassungsreform mit dem Zweck einer breiteren Streuung der Macht, relativen Stärkung des „Parlaments“ und loyaler, potenziell prorussischer Parteien etwa schien ein probates Mittel für den Kreml seine Einflusskanäle zu erweitern. Im November 2020 beteuerte Lukaschenka zudem, in künftigen Wahlen nicht mehr als Präsident anzutreten.

Beobachter gehen davon aus, dass die finale Version der überarbeiteten Verfassung beim Treffen zwischen Lukaschenka und Putin im Dezember 2021 von letzterem persönlich bestätigt wurde. Da Lukaschenka in der Zwischenzeit jedoch durch den massiven Gewalteinsatz seiner Sicherheitskräfte um den Preis einer weitgehenden Isolation gegenüber den Ländern des politischen Westens die Lage im Land wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte, hatte sich seine Verhandlungsposition gegenüber Putin etwas gestärkt. Die „Erhebung“ der Allbelarusischen Volksversammlung (ABVV), eines Organs, dem die meisten Kommentatoren bislang eher den Status eines sowjetnostalgischen Placebo-Gremiums zugebilligt hatten, in den Rang einer Instanz, die die iure über dem Präsidenten steht, schien somit ein Ausweg, zwar den Präsidentenposten zu räumen, aber doch die Zügel der Macht von einer neuen Position aus in der Hand zu behalten.

Seit dem russischen Großangriff auf die Ukraine, scheint der Kreml Lukaschenka auch von sich aus wieder mehr Spielraum zuzubilligen. Einerseits haben sich durch die unerwartete Widerstandskraft der Ukrainer die Prioritäten des Kremls verschoben. Andererseits ist Lukaschenka als Ko-Aggressor nun auch gegenüber der Ukraine isoliert und noch fester in Putins Hand, während er gegenüber Moskau in allen wichtigen Bereichen zu „liefern“ schien, einschließlich einer umfassenden Russifizierung der belarusischen Kultur- und Bildungslandschaft. So konnte der Machthaber von Minsk seine Position im System zementieren und die ABVV so umgestalten, dass sie auch Falle seines Ausscheidens als eine Art „kollektiver Lukaschenka“ weiterregieren könnte. Dies alles fasste er zusammen im ABVV-Gesetz vom 7. Februar 2023.[2]

Orchestriert und durchgetaktet

Die Vorbereitung der ersten Sitzung der Volksversammlung begann mit der Einsetzung des stellv. Parlamentsvorsitzenden Valerij Mitskewitsch zum Leiter des neuen ABVV-Sekretariats am 2. Februar 2024. Lukaschenka zufolge sollte der Beamte ca. zehn Mitarbeiter[3] für das Sekretariat auswählen und möglichem „Chaos“ vorbeugen, das die ABVV durch ihre neuen Befugnisse in Lukaschenkas Machtvertikale verursachen könnte.[4] Premierminister Raman Halouchanka wurde mit der Leitung des Organisationskomitees beauftragt.[5] Nachdem am 25. Februar „Parlamentswahlen“[*1] stattgefunden hatten, blieben dem Komitee 60 Tage bis zur ersten Sitzung der ABVV. Die Auswahl der ca. 1.200 Delegierten erfolgte in der ersten Aprilhälfte.

„Ausschließlich Lukaschisten“

Die ABVV setzt sich aus verschiedenen Gruppen zusammen, die ein ideales Abbild der Gesellschaft nach der Vorstellung Lukaschenkas verkörpern sollen. Etwa ein Drittel stellt mit 412 Personen die (politische) Beamtenelite des: Die Abgeordneten beider „Parlaments“-Kammern (110 Mitglieder des Unter- und 64 Mitglieder des Oberhauses), Premierminister und Ministerrat, Vorsitzende der Exekutivkomitees der Regionen und der Stadt Minsk, der Bezirke, Städte, Vorsitzende und Richter des Verfassungsgerichts und Obersten Gerichtshofs.[6]

Ein knappes Drittel entfällt auf die lokalen und regionalen „Sowjets“, also die Abgeordneten der landesweiten Kommunalräte inklusive aller Abgeordneten des Minsker Stadtrats.[7] Das letzte (gute) Drittel entfällt auf sogenannte „Subjekte der Zivilgesellschaft“ – fünf GONGO mit jeweils über 100.000 Mitgliedern, die gemäß dem Gesetz „Über die Grundlagen der Zivilgesellschaft“ vom Februar 2023 dank ihres besonderen Loyalitätsverhältnis eine herausgehobene Funktion einnehmen.[8]  Im Einzelnen sind dies „Belaja Rus“, eine Lukaschenka-treue Massenorganisation, die seit März 2023 zusätzlich eine gleichnamige Partei bildet, der „Veteranenverband“, die „Republikanische Jugend-“ und die „Belarusischen Frauenunion“ sowie der Gewerkschaftsbund.[9] Lukaschenka sollte ob dieser Zusammensetzung bei der Eröffnung der Sitzung zufrieden kommentieren, dass im Saal ausschließlich „Lukaschisten“ versammelt seien und es hier „keine Feinde gebe und geben werde.“[10] Neben der politischen Funktion der Machtsicherung hat dies allem Anschein nach für Lukaschenka auch eine psychologische Relevanz. Nachdem er sich über Jahrzehnte als „Landesvater“ verstand (seine Anhänger nennen ihn bisweilen „Batska“ – Väterchen), wurde die Erfahrung von 2020 für ihn zu einem erkennbaren Trauma, als „sein“ Volk sich mit Mehrheit von ihm abwendete. Nachdem seither Hunderttausende der „Verräter“ in die Emigration gezwungen, mundtot gemacht oder ins Gefängnis gesteckt wurden, stellt sich Lukaschenka in der Volksversammlung auch „seine“ Gesellschaft neu zusammen. Auch die Staatsmedien sprachen von der ABVV als „Verwirklichung der wahren Volksherrschaft“[11].

Trotz der ohnehin totalen Kontrolle über den Prozess erließ das Regime starke Sicherheitsmaßnahmen für die Durchführung am 24. und 25. April. 3.000 Milizionäre waren im Einsatz und die Versammlung stand ganz im Zeichen der Reden Lukaschenkas und seiner Spitzenbeamten.[12] Während ersterer zu einem emotionsgeladenen Rundumschlag gegen den Westen ausholte, stimmten letztere einen selbst in 30 Jahren durchgehender Lukaschenka-Herrschaft präzedenzlosen Lobgesang auf ihren Herrn an. Mit einer einzigen Gegenstimme ließ sich Lukaschenka schließlich zum Vorsitzenden seiner Versammlung und ihres Präsidiums wählen sowie einen stellv. Vorsitzenden und 13 Präsidiumsmitglieder benennen. Außerdem wurden im Rahmen der Versammlung ein Nationales Sicherheitskonzept und eine neue Militärdoktrin verabschiedet.

Beobachter erinnerten Form und Verlauf dieser VII. Allbelarusischen Volksversammlung an die späte Breschnew-Ära: Stürmischer Applaus, demonstrative Geschlossenheit, Schaffung einer Doppelfunktion für den Staatschef und wachsender Personenkult um einen gesundheitlich angeschlagenen Herrscher im Rentenalter, der vor allem eigene Erfolge und Errungenschaften zur Schau stellt.[13]

Blasses Präsidium

Neben zwei skurrilen sicherheitspolitischen Einlassungen – KGB-Chef Ivan Tsertsel behauptete in seiner Ansprache, Litauen habe einen Drohnenangriff auf Minsk geplant und Lukaschenka schilderte einen „Plan“ der demokratischen Kräfte, die Stadt Kobryn im Grenzbereich zur Ukraine zu besetzen – waren vor allem zwei Ergebnisse der Sitzung erwähnungswert: Indem er sich zum Vorsitzenden der ABVV wählen ließ, „erwarb“ sich Lukaschenka nicht nur die erwähnte Doppelfunktion im Staat, sondern auch zum ersten Mal in seiner politischen Karriere einen Stellvertreter. Dass die Wahl hierbei auf Alexander Kosinets fiel, einen politisch blassen ehemaligen Chefs der Präsidialadministration, der einst in Ungnade gefallen war und als „Gegenteil eines Teamplayers“ gilt, unterstreicht, dass mit dem Posten keine Erwartungen an eigene Initiativen verbunden sind.

Gleiches gilt für die Zusammensetzung des 13-köpfigen ABVV-Präsidiums, welches zwischen den jährlichen Tagungen die Geschäfte führen soll. Vormalige Spekulationen, dass hier ein neues Machtorgan entstehen könne, vergleichbar dem Sicherheitsrat oder einem sowjetischen Politbüro, bewahrheiteten sich nicht: Die Präsidiumsmitglieder sind allesamt Vertreter der unteren und mittleren Ebene der Nomenklatur[14]. Allein die Gouverneure der Regionen Brest und Hrodna sind relative „Schwergewichte“[*2].

Somit vereinigte Lukaschenka die durch die 2022er Verfassung zwischen dem Staatspräsidenten und dem ABVV-Vorsitzenden geteilten Machtbefugnisse wieder in seiner Hand, und allem Anschein nach beabsichtigt er gegenwärtig, diese mit keinem zu teilen, auch nicht dem dekorativen Präsidium. Gemäß der Verfassung kontrolliert er sich nun selbst und hatte zuvor festgelegt, dass allein er – ad personam – diese zwei Funktionen jemals auf sich vereinen kann.

Fünftes Rad am Wagen?

In seinen Reden auf der ABVV-Sitzung vermied Lukaschenka klarere Formulierungen, was die ABVV und ihre Delegierten nun eigentlich genau tun sollen, außer sich mit „globalen Themen und der Strategie [zu] befassen: wie wir weiterleben, wie wir uns entwickeln, auf Grund welcher Werten wir unsere Kinder erziehen und unsere sozialen Beziehungen aufbauen sollen“.[15] Dafür legte er jedoch fest, was sie nicht tun sollen: Die ABVV ersetze keine staatliche Stellen und greife auch nicht in deren Aktivitäten ein. Eine Beratung Lukaschenkas am 29. April mit seinem Stellvertreter Kosinets und dem Leiter des ABVV-Sekretariats Mitskevitsch konnte ebenfalls keine Klarheit in dieser Frage schaffen. Die beiden wurden angewiesen, ein „vertikales System“ für die laufende Arbeit mit den ABVV-Delegierten aufzubauen. Zum zweiten, sollten die Beiden eine Struktur zur Organisation der ABVV-Arbeit errichten– d.h. einer Administration, die personell schlank, aber effektiv sein und die Interaktion mit Behörden und der „Zivilgesellschaft“ sicherstellen soll. Die genaueren Inhalte ließ Lukaschenka jedoch auch bei dieser Beratung im Unklaren.[16]

Einerseits scheint Lukaschenka damit die Quadratur des Kreises gelungen – auf das Versprechen einer Verfassungsreform vom Herbst 2020 hin gegenüber Moskau geliefert und deren Bedingungen auf dem Papier umgesetzt zu haben. Gleichzeitig haben sich die Realitäten, insbesondere sein Verhältnis zu Moskau, seither so weit stabilisiert, dass er selbst alle Zügel der Macht weiter hin der Hand hält. Somit wirkt die ABVV vorerst wie ein schlafendes Organ bzw. ein Instrument für einen „Machttransit auf Abruf“. Dies könnte neue Relevanz erhalten zu einem Zeitpunkt, wenn Lukaschenka des operativen politischen Betriebs müde (oder unfähig) sein wird. Vor allem erschwert dies einen demokratischen Transit zusätzlich. Während im Sommer 2020 ein „faires Auszählen der Stimmen“ bei der Präsidentschaftswahl einen politischen Wandel hätte einleiten können, stellt die neue Instanz sicher, dass ein solcher „Betriebsunfall“ im autoritären System nicht vorkommt oder rückgängig gemacht werden kann.

 

Koordinierungsrat: erste demokra-tische belarusische Wahl seit 1994?

Der Kontrast könnte kaum größer sein zu den Wahlen zum Koordinierungsrat, die die demokratischen Kräfte im Exil vom 25.-27. Mai 2024 abgehalten haben.

Stimme und Gesicht der Massenproteste

Dieses Organ war ursprünglich im August 2020 auf dem Höhepunkt der Demonstrationen von Sviatlana Tsikhanouskaya ins Leben gerufen worden, um die Massenproteste zu kanalisieren und der „Straße“ eine politische Stimme zu geben. Laut Maxim Znak, Anwalt im Hauptquartier des Präsidentschaftskandidaten Viktar Babaryka, gab es mehrere hundert Bewerbungen.[17] Für eine Mitgliedschaft im „erweiterten Koordinierungsrat“ gingen sogar knapp 14.000 Anträge ein.[18] Dieser „erste“ Koordinierungsrat setzte sich sodann aus 70 Personen und sieben repräsentativen Präsidiumsmitgliedern zusammen, deren Aufgabe es war, mit dem Regime in einen Dialog zu treten und die Überwindung der politischen Krise zu verhandeln. Eine Online-Umfrage in dieser Zeit ergab, dass von 522.000 Umfrageteilnehmern 96,75 Prozent wollten, dass sie der KR bei solchen Verhandlungen vertritt. Das Europaparlament erkannte daraufhin den Koordinierungsrat als eine legitime Interim-Vertretung des belarusischen Volkes an. Das Regime jedoch lehnte nicht nur jede Verhandlung ab, sondern erklärte das Gremium umgehend für illegal und begann eine Jagd auf seine Mitglieder. Zwei der sieben Präsidiumsmitglieder – Maria Kalesnikava und Maksim Znak – erhielten drakonische Freiheitsstrafen für den „Versuch der illegalen Machtergreifung“, vier wurden ins Ausland verdrängt und eine im Land unter Hausarrest gestellt und politisch zum Schweigen gebracht. Im Frühjahr 2021, als die Proteste schon weitgehend von der Straße verdrängt waren, unternahmen die demokratischen Kräfte noch einen Anlauf, ihr „Mandat aus dem Volk“ für Verhandlungen zu erneuern. Bei einer Umfrage über sichere Online-Tools stimmte erneut eine Dreiviertelmillion Belarusen für Verhandlungen, doch auch dies ignorierte das Regime. Somit war klar, dass der Koordinierungsrat seinen Gründungszweck nicht würde erfüllen können. Zwar traten die ins Exil vertriebenen Präsidiumsmitglieder immer wieder prominent in Erscheinung, doch öffentlich forderte etwa Präsidiumsmitglied Pavel Latuschka nun, das Regime maximal zu sanktionieren.

Reformansätze

Bereits in dieser Zeit begannen Diskussionen innerhalb der demokratischen Community, wie der KR erneuert und weiterentwickelt werden könnte. Die Konzepte reichten von einer Plattform zur internen Koordination der belarusischen Zivilgesellschaft mit den politischen Kräften über ein Protoparlament im Exil bis zu einem Parlament für das belarusische Exil. Schon damals wurden Debatten darüber geführt, wie eine Wahl zum Koordinierungsrat organisiert werden könne, welche Wahlsysteme in Frage kämen, Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht, ob Parteien antreten sollten, man Wahlbezirke bilden müsse, die womöglich den belarusischen Oblasten sowie den Ländern des Exils entsprechen etc. Auch über Mandat und Funktionen des KR wurde gerungen. Sollte er über ein eigenes Budget verfügen und „Projekte“ durchführen? Sollte er wie ein Parlament „Gesetze“ erlassen, die für die Demokratiebewegung als Leitlinien galten oder lediglich mögliche Reformprogramme für eine zukünftige Zeit der Transformation in Belarus beraten? Wie wären seine Vollmachten gegenüber den anderen Institutionen demokratischen Kräften zu fassen?

Neue Aktualität erhielten diese Fragen, als im August 2022 bei der Konferenz zum „neuen Belarus“ das „Vereinigte Übergangskabinett der demokratischen Kräfte“ (United Transitional Cabinet, UTC) aufgestellt wurde, das sich in Analogie zum „Präsidialamt“, als welches sich das Office of Sviatlana Tsikhanouskaya versteht, als das „Exekutivorgan“ der demokratischen Kräfte präsentierte. Ein „Protoparlament“ müsste dann, so die Meinung vieler, auch über entsprechende Vollmachten verfügen, die „Protoregierung“ zu kontrollieren. Auf derselben Konferenz wurde daher verkündet, dass der KR sich reformieren und künftig mit der Entwicklung von „Programm- und Strategiedokumenten“ befassen werde aber auch die Repräsentanten des UTC werde „bestätigen“ dürfen. Im Ergebnis entstand zunächst im Februar 2023 ein erneuerter, „zweiter“ KR, der sich aus 19 der bisherigen Mitglieder, 71 Vertretern von NGOs und Parteien, und 15 „parteilosen“ Einzelpersonen zusammensetze. Letztere wurden von den Repräsentanten der ersten zwei Kategorien gewählt. Dieser erneuerte KR verstand sich, entsprechend der oben genannten ersten Variante, als ein Gremium zur Vertretung der Zivilgesellschaft bzw. als eine Plattform für die Diskussion von Zukunftsszenarien für Belarus. Noch vor Zusammentreten dieses „Zweiten“ Koordinierungsrats erklärte das Minsker Regime den KR zur „extremistischen Organisation“.

Inhaltlich befasste sich der zweite KR mit einer Verfassungsreform sowie Plänen zur Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Stabilität bei einer demokratischen Transformation. Auch Themen der Befreiung und Rehabilitierung politischer Gefangener standen auf der Agenda, etwa im Rahmen umfassender Anhörungen im Winter 2023. Den Zenit seiner „Macht“ schien der KR erreicht zu haben, als er im Rahmen der Anhörungen der UTC-Repräsentanten im August 2023 dem Vertreter für innere Sicherheit, Aliaksandr Azarau, das Vertrauen entzog und Sviatlana Tsikhanouskaya ihn daraufhin absetzte. Der KR wurde Teil des strategischen Dialogs der demokratischen Kräfte mit den USA und beteiligte sich an der Erarbeitung von Roadmaps für die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Gleichwohl war von seinen Mitgliedern immer wieder Kritik zu hören, dass man von den anderen demokratischen Kräften nicht ausreichend in Entscheidungen eingebunden werde. Da das Mandat des zweiten KR von vornherein auf ein Jahr festgelegt worden war, sollte im Frühjahr 2024 das Mittel einer Wahl genutzt werden, um für den „dritten KR“ eine direkte demokratische Legitimierung zu erhalten und den Kontakt zur Politik und Gesellschaft zu stärken.

Erfolgreicher Test mit unklaren Aussichten

Die Diskussionen um die Modalitäten der Wahl zogen sich jedoch über Monate in die Länge. Einerseits gab es technische Herausforderungen, einschließlich der Sicherheit des Wahlprozesses. Auch die Frage einer verbindlichen Frauenquote (von 40 Prozent) erhitzte die Gemüter. Andererseits waren die grundlegenden Fragen weiterhin unklar: Wie verhält sich der Koordinierungsrat zu den anderen Instanzen der demokratischen Kräfte? Welche Rolle spielt die Wahl in der Gesamtstrategie bis zum Jahr 2025? Welchen Mehrwert kann die Arbeit dieses Organs für die Belarusen wirklich liefern – im europäischen Exil, aber vor allem daheim in Belarus? Letztlich konnte die Wahl somit nicht, wie ursprünglich geplant, zeitgleich mit Lukaschenkas Parlamentswahl im Februar stattfinden, sondern erfolgte eine Woche vor den Europawahlen am 25.-27. Mai. Das Organisationskomitee hatte sich auf eine Verhältniswahl mit Wahllisten bei einer Dreiprozentklausel geeinigt.

Um die 80 Mandate im Dritten Koordinierungsrat kandidierten 280 Personen auf 12 Wahllisten:

  1. „Solidarität“ - Vereinigung der sozialdemokratischen Partei „Narodnaya Gramada“ und den „belarussischer Christdemokraten“[*3], Liste der Parteiführer Evgeniy Vilsky und Georgy Dmitruk. Dies war der einzige explizite Parteiblock, jedoch ohne gemeinsame parteiideologische Grundlage.
  2. Volya“ (Der Wille). Die Liste von Vertretern von Freiwilligen und aktiven Widerstandsorganisationen setzt vor allem auf den Aufbau einer Belarusischen Befreiungsarmee und die Unterstützung von belarusischen Freiwilligen, die an der Front kämpfen.
  3. Europäische Wahl“. Die Liste von Sviatlana Tsikhanouskayas Berater Alexander Dobrovolsky und dem Leiter des Freien Theaters Nikolai Khalezin weist viele Kandidaten mit liberal-konservativ-nationalem Hintergrund auf. Dobrovolski etwa war lange Zeit stellv. Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei.
  4. Vereinigung „Unsere Sache“. Liste aus Christdemokratischer Partei und Vertretern belarusischer Solidaritätsorganisationen im Ausland, angeführt durch die Politikwissenschaftlerin Roza Turarbekova. Inhaltlich steht die Liste für Reisefreiheit und die Entwicklung der Beziehungen der Diaspora mit der Opposition im Land.
  5. Recht und Gesetz“, Liste des BYPOL-Leiters und ehemaligen UTC-Mitglieds Azarau. Diese Liste wurde wegen der Verletzung der Wahlregeln ausgeschlossen.
  6. Stimme der Diaspora – Einheit über die Grenzen hinweg“. Liste von Vertretern der Diaspora- und Femme-Bewegung, angeführt von Nadezhda Norton und dem Menschenrechtsaktivisten Roman Kislyak.
  7. Unabhängige Belarusen“. Die Liste des Bloggers Maxim Shabutsky, der in der Ukraine gegen Russland gekämpft hat, zielt auf die Konsolidierung aller demokratischer Subjekte einschließlich der aktiven Einheiten belarussischer Freiwilliger zur Schaffung einer einheitlichen politischen Struktur.
  8. Block von Prokopjev und Jegorov“. Die Liste des Polit-Aktivisten und Unternehmers Vadsim Prokopjev und des Sprechers des zweiten Koordinierungsrates Andrej Yahorau will „überflüssige Strukturen“ in der demokratischen Bewegung abschaffen und eine einheitliche Befreiungsbewegung aufbauen, die auf eigene Ressourcen stützt.
  9. Team von Latuschka und Bewegung <Für die Freiheit>“. Die Liste des Leiters der Nationalen Anti-Krisen-Managements und stellv. UTC-Leiters Pavel Latuschka, und des Vorsitzenden der Bewegung „Für die Freiheit“, Yuri Hubarevich, steht für Sanktionsdruck gegen das Regime, dessen strafrechtliche Verfolgung und den Aufbau von Kompetenzen für die Machtübernahme in Belarus.
  10. Hört auf, Angst zu haben“. Die Liste der in Kiew lebenden Bloggerin Tatyana Martynova, steht für Sanktionsdruck aufs Regime, die Unterstützung von Belarusen im In- und Ausland und die Verstärkung der Beziehungen mit der Ukraine.
  11. Land fürs Leben“, diese Liste von Vitaly Savyuk und Eva Saprygina, vereinigt Vertreter der ursprünglich von Siarhei Tsikhanouski, dem Ehegatten Tsikhanouskayas, gegründeten Initiative,,die sich für Unterstützung von politischen Gefangenen und Exilbelarusen einsetzt.
  12. Jugendoffensive“. Die Liste von Jugendaktivisten und jungen Politikern mit der Generalsekretärin des Belarusischen Jugendrates „Rada“, Lisaveta Prakopchyk, und Tsikhanouskayas Beraterin für Jugend- und Studentenangelegenheiten, Margarita Worichowa, an der Spitze, will vor allem die Rolle der Jugend in den politischen Prozessen steigern.

Lebhafte Diskussionen – geringe Unterschiede

Wie eine Diskussion zwischen den Vertretern aller Wahllisten am Vorabend der drei Wahltage demonstrierte, unterschieden sich die Ziele der Koalitionen kaum voneinander: Sie alle fordern die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit sowie die Bewahrung der Unabhängigkeit von Belarus. Unterschiede waren vor allem bei den Ansätzen ersichtbar, wie dies erreicht werden soll: ob mit politischen, militärischen, juristischen, völkerrechtlichen, wirtschaftlichen Mitteln oder einer Mischung aus allem. Bei manchen Gruppen sticht auch die Akzentuierung von Interessen einzelner sozialer Gruppen hervor. Ansonsten setzen die Wahllisten, wie es bei Verhältniswahlen üblich, auf bekannte Persönlichkeiten und politische bzw. zivilgesellschaftlich Brands. Entsprechend deutlich zeigten sich die Wählerpräferenzen im vorläufigen Ergebnis:

  1. Team von Latuschka und die Bewegung „Für die Freiheit“ – 28 Mandate (2358 Stimmen, 35,07%)
  2. Block Prokopjev – Yahorau – 13 Mandate (1050 Stimmen, 15,62%)
  3. „Unabhängige Belarusen“ – 8 Mandate (616 Stimmen, 9,16%)
  4. „Europäische Wahl“ – 8 Mandate (605 Stimmen, 9,00%)
  5. „Jugendoffensive“ – 8 Mandate (598 Stimmen, 8,89%)
  6. „Unsere Sache“ – 6 Mandate (489 Stimmen, 7,27%)
  7. „Wolja“ – 6 Mandate (432 Stimmen, 6,43%)
  8. „Hört auf, Angst zu haben“ – 3 Mandate (226 Stimmen, 3,36%)
  9. „Stimme der Diaspora – Einheit über Grenzen hinweg“ – 0 Mandate (184 Stimmen, 2,74% - unter der 3%-Hürde).
  10. „Solidarität“ – 0 Mandate (104 Stimmen, 1,55%).
  11. „Land fürs Leben“ – 0 Mandate (61 Stimmen, 0,91%).

Somit wird sich der erstmals direkt gewählte Koordinierungsrat aus acht Listen zusammensetzen, von denen über die Hälfte auf das Team von Latuschka und die Bewegung für die Freiheit sowie den Block Prokopjev-Yahorau entfällt. Insgesamt dominieren damit Listen, die auf ein härteres Vorgehen gegenüber dem Regime setzen – verschärfte Sanktionen bis hin zu bewaffnetem Widerstand. Bemerkenswert ist zudem die liberal-konservative Prägung. Wählerlisten, die von Vertretern der drei EVP-assoziierten Parteien (mit-)angeführt oder geprägt sind, kommen zusammen auf über die Hälfte der Mandate.

Enttäuschend geringe Wahlbeteiligung

Schon in den Wochen vor Wahl zeichnete sich ab, dass das Interesse der belarusischen Öffentlichkeit gering war. Unabhängige Medien – zumeist im erzwungenen Exil – nannten eine Nennung des Koordinierungsrats in einer Artikelüberschrift eine „Garantie“ dafür, dass er kaum gelesen werde. Als sich bei einer „großen politischen Konferenz“ am 19. Mai in Warschau alle Wahllisten präsentierten, verfolgten kaum mehr als 300 Personen den Online-Stream. Und tatsächlich beteiligten sich an den drei Wahltagen nur 6.723 Personen mit Stimmabgabe. Dies entspricht rechnerisch weniger als 0,01 Prozent der insgesamt 6.912.221 wahlberechtigten Belarusen. Auch mit Blick auf die Diaspora, die vor allem gewählt hat, sind diese Zahlen marginal. Je nach Betrachtung sind es ca. 0,45 Prozent von 1.483.626 laut UN im Ausland lebenden Belarusen oder konservativ geschätzt bis zu drei Prozent der seit 2020 ausgewanderten bzw. geflohenen Volljährigen.

Die Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung scheinen vielfältig. Einerseits setzte das Regime auf massive Repressionen, gegen alle Kandidaten und die Wahllisten, die allesamt als „extremistische Formationen“ anerkannt wurden. Ihre Häuser und Wohnungen in Belarus, insofern noch vorhanden, wurden durchsucht und Angehörige schikaniert. Die Teilnahme an den Wahlen wurde unter Strafe gestellt und gleichgesetzt mit der „Unterstützung einer extremistischen Formation“, worauf harte Haftstrafen drohen. Die Propaganda streute das Angst-Narrativ, den Zugang zu den IT-Systemen gehackt zu haben und jeden Wähler identifizieren zu können. Am Wahltag selbst startete Hacker eine D-DOS-Attacke und auch VPN-Dienste wurden blockiert. Die IT-Experten hinter der Wahl bestätigten jedoch, dass der Ablauf technisch gut verlaufen sei und kein Risiko für die Teilnehmer bestehe.

Andererseits dürfte die lange Verzögerung des Prozederes auf viele Beobachter abschreckend gewirkt haben. Auch Äußerungen von president elect Sviatlana Tsikhanouskaya und ihrem Team zeigten ein gespaltenes Verhältnis zu dieser wohl ersten belarusischen demokratischen Wahl seit 1994. Zwar führte einer ihrer zentralen politischen Berater selbst eine der Listen an und mehrere enge Vertraute, darunter Mitglieder des Übergangskabinetts, kandidierten und gewannen Sitze. Doch Tsikhanouskaya selbst fiel in den Wochen und Monaten vor der Wahl vor allem damit auf, dass sie sich nicht dazu äußerte. Erst am Tag der Wahl meldete sie sich zu Wort und rief die Belarusen auf, ihre Stimme abzugeben. Gleichzeitig verwies sie auf Mängel im Prozess und der Durchführung. Für viele Beobachter ergab sich dadurch ein Bild, dass die „Anführerin des Freien Belarus“ selbst nicht sonderlich von dem Prozess überzeugt war, an dem teilzunehmen sie ihre Landsleute aufrief. Gleichwohl dankte sie im Anschluss allen Teilnehmern und Kandidaten für ihren „heldenhaften“ Einsatz.

Aus dieser niedrigen Wahlbeteiligung wird man kaum ein starkes direktdemokratisches Mandat für den Koordinierungsrat als eigenem Player im System der demokratischen Kräfte ableiten können. Gleichwohl ist es bemerkenswert, dass diese Wahl überhaupt stattfinden konnte und die belarusische Demokratiebewegung weiter dafür kämpft, nicht nur internationale Aufmerksamkeit für die Probleme wie Potenziale ihres Heimatlandes zu generieren, sondern auch Strukturen, Institutionen und technische Lösungen aufzubauen, die konkrete Vorbereitungen für einen demokratischen Übergang treffen. Aus Kreisen der russischen Exilopposition etwa ist regelmäßig zu hören, dass man die Belarusen um dieses hohe Maß an Kohärenz und Institutionalisierung beneide. Wie genau sich der neue Koordinierungsrat nun aufstellen und wie er sein Mandat wahrnehmen wird, bleibt abzuwarten. Die erste gemeinsame Sitzung ist für den 15. Juni geplant.

Schlussfolgerung

Wenngleich die Wahl zum Koordinierungsrat angesichts der geringen Beteiligung von der Minsker Propaganda als „Beweis“ ausgeschlachtet werden dürfte, dass die demokratischen Kräfte jegliche Relevanz verloren haben, spricht das Handeln des Regimes doch eine andere Sprache. Denn dieses hielt es offenbar nötig, wie bereits bei den „Parlamentswahlen“ im Frühjahr, mit massiven Repressionen gegen die KR-Wahlen und alle damit verbundenen Personen vorzugehen. Es verdeutlicht damit selbst, dass der Vorgang so irrelevant nicht sein kann. Tatsächlich ist es den demokratischen Kräften trotz aller Defizite, besonders mit Blick auf die Timeline und mangelhafter Einbettung des Prozesses in eine erkennbare Gesamtstrategie, gelungen, eine offenbar technisch saubere und sichere freie Wahl zu einem allgemeinen Vertretungsorgan durchzuführen. Der Prozess war offen, gleichberechtigt und fair. Dass mit Alina Koushyk selbst eine der engsten Vertrauten Tsikanouskayas aufgrund eines Formfehlers in der Kandidatur beinahe von der Wahl ausgeschlossen worden wäre, zeugt davon, dass die gesetzten Standards tatsächlich für alle galten.

Lukaschenka hingegen verdeutlicht mit seinem Vorgehen wieder einmal, dass er nicht nur Angst vor den geringsten Regungen der Selbstbestimmung aus seinem Volk hat, sondern auch, dass er seinen engen Gefolgsleuten nicht traut. Das Präsidium seines neuen Superorgans, der Allbelarusischen Volksversammlung, ist weitab davon, ein tatsächliches kollektives Machtorgan zu sein, wie einst das Politbüro des ZK der KPdSU. Die Präsidiumsmitglieder sind „Nonames“ ohne politisches Gewicht und Einfluss. Nicht einer von ihnen entstammt den „Silowiki“, Militär, Polizei oder Geheimdiensten, mit denen Lukaschenka sonst seit 2020 wichtige Posten zu besetzen pflegt.[19]

So sind im Ergebnis beide neu geschaffene bzw. runderneuerten „Volksvertretungsorgane“ defizitär und können nicht für sich beanspruchen, das belarusische Volk in seiner Gesamtheit zu vertreten – wenngleich aus diametral verschiedenen Gründen. Die Allbelarusische Volksversammlung ist ein handverlesenes Klatschkomitee aus – wie Lukaschenka sagt – „Lukaschisten“, das der Absicherung eines immer totalitäreren Systems dient und in dem „Feinde“ nie einen Platz haben werden. Lukaschenkas schließt damit alle politischen Gegner aus, also die Mehrheit des Volkes, die ihn 2020 abgewählt hat.

Der Koordinierungsrat hingegen entfaltet trotz des technisch gelungenen Prozesses kaum Anziehungskraft und Interesse jenseits eines kleinen Zirkels von Aktivisten, wohl vor allem, da er angesichts der massiven Repressionen keine realen Veränderungen im Land anstoßen kann und sein Mandat innerhalb der demokratischen Kräfte schwammig bleibt. Eine wirklich allgemeine repräsentative Volksvertretung werden die Belarusen daher erst haben, wenn im Land selbst allgemeine, freie und faire Parlamentswahlen durchgeführt werden können. Dies zu erreichen ist Ziel des Koordinerungsrats und der demokratischen Kräfte insgesamt.

 

[*1] Ausführlicher Bericht vom Februar 2024

[*2] Die anderen sind ein Universitätsrektor, drei Direktorinnen und Direktoren von Staatsunternehmen und Einrichtungen, einem Leiter des Apparats des Ministerrates, zwei Vorsitzenden der parlamentarischen Ausschüsse – für Gesetzgebung im unteren und für internationale Angelegenheiten und nationale Sicherheit im oberen Haus von Lukaschenkas Parlament, einem stellv. Vorsitzenden der Regionalverwaltung Mogilev, einer Richterin des Obersten Gerichts, die auch dem Nationalen Richterrat vorsteht, und zwei GNGO-Vertreterinnen zusammen.

[*3] Seit Januar 2024 sind die Christdemokraten gespalten

[1] https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20200910IPR86829/meps-call-for-eu-sanctions-against-belarusian-president-and-navalny-s-poisoners

[2] https://pravo.by/document/?guid=3871&p0=H12300248

[3] https://www.belta.by/society/view/zadachi-kolossalnye-mitskevich-o-predstojaschej-rabote-vo-glave-sekretariata-vns-613216-2024/

[4] https://www.belta.by/president/view/mitskevich-budet-rukovodit-sekretariatom-vsebelorusskogo-narodnogo-sobranija-613190-2024/

[5] https://www.belta.by/president/view/v-belarusi-sozdan-respublikanskij-orgkomitet-po-podgotovke-i-provedeniju-vns-613311-2024/

[6] https://tass.ru/mezhdunarodnaya-panorama/20631015

[7] https://moopl.by/czik-ustanovil-itogi-vyborov-delegatov-vns-ot-mestnyh-sovetov-deputatov-i-grazhdanskogo-obshhestva/

[8] https://pravo.by/document/?guid=12551&p0=H12300250

[9] https://www.sb.by/articles/vybory-delegatov-vns-ot-mestnykh-sovetov-deputatov-provedeny-v-sootvetstvii-s-zakonodatelstvom-karpe.html

[10] https://www.youtube.com/watch?v=-GBcoTRLJ84https://president.gov.by/ru/events/vystuplenie-na-zasedanii-vii-vsebelorusskogo-narodnogo-sobraniya

[11] https://www.belta.by/politics/view/eksperty-vsebelorusskoe-narodnoe-sobranie-projavlenie-prjamoj-i-neposredstvennoj-demokratii-424309-2021/

[12] https://zviazda.by/ru/news/20240424/1713947367-delegaty-vii-vns-rannim-utrom-otpravilis-v-minsk

[13] https://www.svaboda.org/a/32930163.html

[14] https://zviazda.by/be/news/20240424/1713969766-lukashenka-vybrany-starshynyoy-usebelaruskaga-narodnaga-shodu

[15] https://president.gov.by/ru/events/vtoroy-den-zasedaniya-vii-vsebelorusskogo-narodnogo-sobraniya

[16] https://president.gov.by/ru/events/doklad-zamestitelya-predsedatelya-vns-aleksandra-kosinca-i-nachalnika-sekretariata-valeriya-mickevicha

[17] https://iz.ru/1049797/2020-08-18/nazvano-chislo-chlenov-koordinatcinnogo-soveta-belorusskoi-oppozitcii

[18] https://nv.ua/world/countries/protesty-v-belarusi-skolko-chelovek-voshlo-v-koordinacionnyy-sovet-oppozicii-novosti-belarusi-50109414.html

[19] https://news.zerkalo.io/economics/66656.html

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