Die Genese des Regierungssturzes
Knapp drei Monate war Michel Barnier, der ehemalige Außenminister und Chef-Unterhändler des Brexits, dem eine große Fähigkeit attestiert wurde, Kompromisse im Sinne einer für Frankreich tragbaren politischen Lösung zu finden, im Amt. Nach Georges Pompidou im Jahr 1962 ist er nun der zweite Regierungschef der Fünften Republik, der durch ein Misstrauensvotum abgewählt wurde. Anders als 1962, als Staatspräsident de Gaulle die Nationalversammlung auflösen, und durch Neuwahlen neue Mehrheitsverhältnisse schaffen konnte, kann Macron den Weg einer Neuwahl nicht vor Juli 2025 einschlagen. Frankreich steht damit vor derselben Herausforderung wie nach den Neuwahlen im Juli 2024. Auch die neue Regierung wird voraussichtlich ohne absolute Mehrheit regieren und jedwede Gesetzesvorhaben mit Hilfe der Oppositionsparteien durchbringen müssen.
Die Regierung in der Zange politischer Ambitionen
Der Sturz der Regierung Barnier steht exemplarisch für die politische Instabilität Frankreichs, die spätestens mit der überraschenden Auflösung der Nationalversammlung durch Präsident Macron im Juni 2024 eingetreten ist. Der Premierminister der aus den Rängen der nur fünftstärksten Kraft (Les Républicains) bei den Wahlen zur Nationalversammlung stammt, wurde von Beginn seiner Amtszeit an sowohl von Links- als auch von Rechtspopulisten kritisch beäugt, oftmals als illegitim abgelehnt und von Misstrauensvoten bedroht. Von Anfang an war klar, dass die fehlende Mehrheit für die Regierung Barnier irgendwann zum Stolperstein - insbesondere beim Haushalt - werden könnte. Während sich bei den „Konsultationen“ des Premierministers mit den verschiedenen Parteien schnell zeigte, dass mit den Linken keine Gemeinsamkeiten zu finden waren, zeigten sich die Rechtspopulisten unter Führung von Marine Le Pen zunächst scheinbar kompromissbereit. Die offenen und von großem Medieninteresse begleiteten Verhandlungen führten jedoch auch dazu, dass der Eindruck entstand, dass die Partei Rassemblement National die Regierung vor sich hertrieb und seine Interessen durchsetzen konnte. Barnier verzichtete zum Beispiel auf die Einführung der Stromsteuer und nahm die Kürzung der Sozialversicherungszuschüsse beim Medikamentenkauf zurück - zwei Forderungen, die explizit vom Rassemblement National gefordert worden waren. Letztlich reichte dies nicht aus, um das Misstrauensvotum abzuwenden. Die Tatsache, dass Rassemblement National dann sogar dazu bereit war, für den Misstrauensantrags des Linksbündnisses Neue Volksfront (bestehend aus Parti socialiste (PS), Parti communiste (PCF), Europe Ecologie-Les Verts (EELV) und La France Insoumise (LFI)) mitzustimmen, in dem die Rechten explizit kritisiert wurden, zeigt deutlich, dass die wahren Beweggründe des rechtspopulistischen Lagers nicht in politischen Überzeugungen, sondern in politischen Ambitionen liegen.
Die Präsidentschaftswahlen 2027 omnipräsent
Ein wichtiges Detail ist, dass Rassemblement National den Misstrauensantrag der Linken unterstützt hat, während die Linke den Misstrauensantrag des Rassemblement National nicht unterstützt hätte. Die politischen Überzeugungen des Rassemblement National wurden in den Hintergrund gedrängt, die eigene Wählerschaft verraten, nur um eine Regierung zu stürzen. Diese Strategie des Chaos wird umso verständlicher, wenn man die juristischen Probleme betrachtet, mit denen die Partei, vor allem aber ihre Fraktionsvorsitzende und designierte Präsidentschaftskandidatin für 2027, Marine Le Pen, konfrontiert ist. Denn die Möglichkeit auf den Einzug in den Élysée-Palast bei den Präsidentschaftswahlen 2027 würde dann stark beeinträchtigt werden, wenn die Fraktionsvorsitzende Marine Le Pen im Rahmen der Scheinbeschäftigungsaffäre im Europaparlament zur Unwählbarkeit verurteilt wird, wie es das Gericht kürzlich gefordert hat. Ein endgültiges Urteil wird am 31. März 2025 erwartet. Ob der junge Jordan Bardella 2027 als Spitzenkandidat der Partei ins Rennen um die Präsidentschaft gehen kann, bleibt fraglich. Vor diesem Hintergrund ist die Strategie des Rassemblement National vor allem als Versuch einzuordnen, von den eigenen Problemen abzulenken und Chaos in die politische Landschaft Frankreichs zu tragen. Zu welchen Opfern - dem Verrat an der eigenen Wählerschaft - der Rassemblement National dabei bereit ist, wurde deutlich.
Wie geht es nun weiter?
In einer Fernsehansprache am Donnerstag, dem 5. Dezember kündigte Staatspräsident Macron die nächsten Schritte an. Er werde „in den nächsten Tagen“ einen neuen Premierminister ernennen, der die Aufgabe habe, eine „Regierung des allgemeinen Interesses“ zu bilden. Anschließend soll der Haushalt mit einem von der Verfassung vorgesehenen Sondergesetz Mitte Dezember dem Parlament präsentiert und dann verabschiedet werden.
Wen könnte Macron zum Premierminister ernennen?
In seiner Fernsehansprache kündigte Macron an, bereits am Freitag, dem 6. Dezember, die Spitzenpolitiker von der Parti socialiste bis zu den Républicains zu empfangen. Damit ist das allgemeine Interesse klar definiert: Der linkspopulistische Flügel der linken Neuen Volksfront, also Mélenchons Partei La France Insoumise, und das rechtspopulistische Rassemblement National sowie die mit ihr verbündeten rechten Bewegung À Droite unter Eric Ciotti werden nicht konsultiert. Eine Ernennung eines Premierministers aus diesen politischen Lagern wurde damit kategorisch ausgeschlossen. Es wird erwartet, dass Emmanuel Macon auf eine Person seines Vertrauens setzen wird. In den Tagen vor dem Misstrauensvotum fiel hier immer wieder der Name des (bisherigen) Verteidigungsministers Sébastien Lecornu, der als enger Vertrauter von Emmanuel Macron gilt. Inwieweit es sich Macron jedoch „leisten“ wird bzw. wagen kann, einen Minister aus dem eigenen politischen Lager zu ernennen, obwohl dieses sowohl bei den Europa- als auch bei den Parlamentswahlen in Misskredit geraten ist, bleibt fraglich. Die Tatsache, dass er nun eine Regierung des Gemeinwohls einsetzen möchte, würde ihm aber den Spielraum dafür geben.
Wie wird nun der Haushalt verabschiedet?
Zunächst ist festzuhalten, dass die abgewählte Regierung die laufenden Geschäfte fortführt. Es handelt sich also um die gleiche Situation wie nach der Auflösung der Nationalversammlung im Sommer 2024. Die größte Sorge in Frankreich ist nun der drohende Shutdown, da Frankreich drei Wochen vor Jahresende weiterhin ohne Haushalt dasteht. Dieser kann jedoch grundsätzlich durch weitere Sonderreglungen der französischen Verfassung abgewendet werden.
Die Führung der laufenden Geschäfte obliegt dem Premierminister. Der Artikel 45 der Verfassung sieht vor, dass dem Parlament nun ein Sondergesetz für den Haushalt vorgelegt wird. Der Zweck dieses Sondergesetzes ist es lediglich, die bestehenden Steuern zu erheben und die Regierung zu ermächtigen, Kredite zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Dienstleistungen aufzunehmen. In Ausnahmefällen, die zu definieren bleiben, können auch zusätzliche Bestimmungen in das Sondergesetz mit aufgenommen werden. Es obliegt hier dem Verfassungsrat, die Gültigkeit des Gesetzestextes zu bewerten. Sollte das präsentierte Sondergesetz mit einem reduzierten Haushalt verabschiedet werden, würde Frankreich bis zur Verabschiedung eines regulären Haushalts weiter „funktionieren“.
Das langfristige Problem bleibt aber die Verabschiedung eines regulären Haushalts. Die fehlende Mehrheit im Parlament, um einen ordnungsgemäßen Haushalt zu verabschieden, ist nämlich auch mit der Ernennung eines neuen Premierministers und einer neuen Regierung nicht gelöst. Eine neue Konstellation in der Nationalversammlung wird es erst bei Neuwahlen geben, die nur vom Staatspräsidenten Macron und frühestens im Juli 2025 ausgerufen werden können. Sollte bis dahin kein regulärer Haushalt verabschiedet werden, müsste Frankreich mehrere Monate mit den für 2023 und 2024 beschlossenen Mitteln auskommen.
Hoher Druck auf der Parti Socialiste und den Grünen
Nachdem die Sozialisten, unter ihnen auch der ehemalige Staatspräsident François Hollande, unter starker Kritik stehen, das Misstrauensvotum unterstützt und somit Frankreich mit in die politische und wirtschaftliche Instabilität geführt zu haben, zeigt sich jetzt deren Gesprächsbereitschaft im Rahmen der Konsultationen zur neuen Regierungsbildung. Es bleibt zu unterstreichen, dass hier der Schlüssel für die Zukunft liegt. Wenn die Parti socialiste zur Kompromissfindung mit dem Macron-Lager und den Bürgerlich-Konservativen bereit ist und sich von den Linkspopulisten löst, könnten sich neue Mehrheiten finden, die Frankreich zumindest aus der finanzpolitischen Krise herausführen und die kommenden Monate bis zu den möglichen Neuwahlen im Juli 2025 konstruktiv gestalten würden. Inwieweit eine konstruktive Kompromissfindung aber umsetzbar ist, bleibt fraglich. So machte Parteisekretär Olivier Faure von der Parti socialiste im Vorfeld der Verhandlungen mit Staatspräsident Emmanuel Macron deutlich, dass der Premierminister aus dem linken Lager stammen sollte und die Kompromissbereitschaft bei den Parteien der abgesetzten Regierung liegt. Die Grünen-Vorsitzende Marine Tondelier betonte wiederum, dass ihre Partei weiterhin die politischen Werte und Ziele mit der Neuen Volksfront teilt, die politische Krise jedoch „unkomfortable“ Entscheidungen einfordert. So sei es mit der aktuellen Mehrheitsverteilung in der Nationalversammlung notwendig, eine Lösung im Rahmen des „republikanischen Bogens“ zu finden. Es bleibt jedoch zu betonen, dass zwischen den Parteien kein Konsens darüber besteht, aus welchen Parteien sich dieser republikanische Bogen zusammensetzt. Fraglich bleibt auch, welchen Kurs die Républicains einschlagen werden und ob sie den neuen Kandidaten des Präsidenten mittragen werden. Bei Michel Barnier hatte man sich solidarisch mit einem Premierminister aus den eigenen Reihen gezeigt, aber ob dies so bleibt, ist nicht sicher.
Welche Zukunft für Präsident Macron?
Das Misstrauensvotum kann in der Art und Weise wie es zustande kam und durchgesetzt wurde, als ein Akt gewertet werden, um den Staatspräsidenten zu treffen und ihn zu schwächen. Dass man ihn im Visier hat, wurde auch nach der gestrigen Fernsehansprache Macrons deutlich, als ihn die politischen Gegner erneut zum Rücktritt aufforderten. Macron trat diesen Forderungen sehr deutlich entgegen. Allerdings muss man damit rechnen, dass die Gefahr droht, dass er durch „die Straße“ zum politischen Rückzug gezwungen wird. Vor diesem Hintergrund scheinen die nächsten acht Monate bis zu den möglichen Neuwahlen mehr ein Überleben als ein Gestalten zu sein. Sollten die Proteste der Landwirte gegen Mercosur, der Lehrer gegen die bildungspolitische Lage und die landesweiten Proteste gegen die Rentenreform andauern, sich intensivieren und zusätzlich von den Populisten befeuert werden, wird es für Macron schwerer sich im Amt zu halten. Es wurde von zahlreichen politischen Akteuren in Frankreich als befremdlich empfunden, dass Macron kurz vor den Misstrauensvoten zu einem Besuch in Saudi-Arabien verweilte, während sein Premier um die politische Stabilität Frankreichs kämpfte.
Problematisch ist und bleibt die politische Pattsituation in Frankreich, unabhängig von der Personalie Macron, die nur dann gelöst werden kann, wenn eine Mehrheit gefunden wird und die Unfähigkeit oder der Unwillen, Koalitionen zu bilden, sich auflöst.
Appell an die europäische und deutsch-französische Kooperation
Was bleibt, ist eine weiterhin unsichere Zukunft für die bereits wackelige und wenig intensive Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland und damit auch für Europa. Dies wurde insbesondere bei den Debatten rund um Haushaltsgesetz und Misstrauensvotum deutlich. Es war frappierend zu sehen, dass die europäische und internationale Verantwortung Frankreichs, die durch die aktuelle nationale Lage deutlich geschwächt ist, kaum Erwähnung in den Debatten fand. Dieser Rückzug auf rein nationale Themen ist alarmierend. Frankreichs Partnern sollte bewusst sein, dass Frankreich ohne politische Stabilität und ohne kompletten Haushalt angesichts der aktuellen geopolitischen Herausforderungen als wichtiger Partner deutlich weniger präsent sein wird als notwendig.Bereitgestellt von
Auslandsbüro Frankreich
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