Am 9. Juni waren über acht Millionen Belgier zur Wahl auf drei Ebenen aufgerufen - europäisch, national und regional, wobei in Belgien Wahlpflicht herrscht. Bereits vor dem Wahltag zeichnete sich eine Polarisierung der politischen Lager und eine Orientierung Belgiens nach rechts ab. Die Wahlergebnisse bestätigen diesen Trend.
Wahlergebnisse
Nationalwahlen
Gewinnerin auf nationaler Ebene ist überraschend die rechtsnationalistische N-VA, nachdem Umfrageergebnisse sie zuvor lediglich auf dem dritten Platz verortet hatten. Ihr folgt der rechtspopulistische Vlaams Belang (VB), der im Vorfeld der Wahl mit Abstand an der Spitze prognostiziert wurde. Insofern ist der VB sowohl Gewinner als auch Verlierer der Wahl: Einerseits konnte die Partei ihr bestes Ergebnis überhaupt erzielen, andererseits ihre Führung in Umfragen nicht in die Realität umsetzen. Aus der Wallonie können sich die liberale MR als drittstärkste Kraft auf nationaler Ebene sowie Les Engagés als Partei der Mitte mit einem signifikanten Zugewinn von drei Prozent freuen.
Größte Verliererin der Wahl ist die liberale Open VLD von Premierminister Alexander De Croo, woraufhin dieser direkt selbst Konsequenzen zog und seinen Rücktritt ankündigte. Ebenso entschied die Open VLD bereits in der kommenden Legislatur, in die Opposition zu gehen. Außerdem verloren die Grünen an Zustimmung der Wählerschaft, insbesondere die wallonische Ecolo, aber auch die flämische Groen.
Regionalwahlen
Flandern
In Flandern zeichnet sich ein ähnliches Bild wie auf nationaler Ebene: die N-VA, anstatt Vlaams Belang, wurde hier überraschend stärkste Kraft und hat somit zunächst den Regierungsauftrag inne. Vlaams Belang ist, wie auf nationaler Ebene, Gewinner als auch Verlierer. Beide Parteien, die sich darin einig sind, dass Flandern unabhängig(er) werden sollte, verfehlen allerdings zusammen knapp die Mehrheit der Sitze. Ebenfalls überraschende Gewinnerin in Flandern ist die sozialdemokratische Vooruit, die drittstärkste Kraft wird.
Verloren hat dagegen, wie auch auf nationaler Ebene, mit fast fünf Prozentpunkten Verlust die liberale Open VLD von Premierminister Alexander De Croo. Sie hat insbesondere in traditionellen Hochburgen sowie in De Croos Wahlkreis herbe Verluste einstecken müssen. Nicht nur die Open VLD als amtierende flämische Regierungspartei, sondern auch die christdemokratische CD&V, konnten ihre Sitze nicht halten und werden nur viertstärkste Kraft.
Brüssel
In der Region Brüssel treten sowohl die Parteien aus der Wallonie als auch aus Flandern an. Aufgrund der sprachlichen Zusammensetzung der Region und der Dominanz der Frankophonen sind den französischsprachigen Parteien 72 Sitze garantiert. Dagegen belegen die niederländischsprachigen Parteien nur 17 Sitze.
In Brüssel kann sich die liberale MR als Gewinnerin feiern lassen, da sie mehr als sieben Prozentpunkte zugelegt hat und so die sozialdemokratische PS als stärkste Kraft ablöste. Ebenso gewonnen hat die marxistische PTB, die ebenfalls fast sechs Prozent im Vergleich zu 2019 zulegen konnte. Les Engagés als Partei der Mitte, wenngleich mit weniger starken Zugewinnen, gehört zu den Gewinnern des 9. Juni. Bemerkenswert ist, dass unter den niederländischsprachigen Parteien in Brüssel die Grünen mit Abstand die stärkste Kraft sind, wohingegen sie in Flandern große Verluste erlitten.
In starkem Kontrast dazu zählt die grüne Ecolo aus der Wallonie zu den Verlierern in Brüssel, die ihr Ergebnis von 2019 halbierte. Die sozialdemokratische PS, wenngleich sie ihren Wähleranteil halten konnte, reiht sich auch bei den Verlierern ein, da sie ihren Status als stärkste Partei abgeben musste.
Wallonie
In der Wallonie wurde MR mit Abstand stärkste Kraft und löst somit die sozialdemokratische PS nach Jahrzehnten als Regierungspartei ab. Dabei liegt MR ganze sechs Prozentpunkte vor PS. Ebenfalls zu den Gewinnern gehört Les Engagés als Partei der Mitte, die mit 20 Prozentpunkten ihr Ergebnis im Vergleich zu 2019 verdoppeln konnte.
Dagegen erlitt die grüne Regierungspartei Ecolo starke Verluste und verkleinerte sich um mehr als die Hälfte. Ebenso bedeutet das Wahlergebnis den Verlust der jahrelangen unangefochtenen Führungsposition der sozialdemokratischen PS in der Wallonie, selbst wenn sich ihr Ergebnis nicht bedeutend verschlechterte.
Hintergrund
Seit 2020 regierte die sogenannte Vivaldi-Regierung Belgien auf föderaler Ebene. Sie setzte sich zusammen aus den Sozialdemokraten (Partie Socialiste (PS) und Vooruit), den Liberalen (Movement reformiste (MR) und Open VLD) und den Grünen (Ecolo und Groen) aus beiden großen Landesteilen sowie den flämischen Christdemokraten (CD&V). Trotz mehrerer Krisen, die alle Regierungen in Europa zu bewältigen hatten (beispielsweise die Covid-Pandemie und die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine) sowie angesichts der Beteiligung von sieben Parteien, regierte die Vivaldi-Koalition Belgien einigermaßen geräuschlos. Unter der Regierung von Ministerpräsident Alexander De Croo konnten Erfolge insbesondere im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich verbucht werden - darunter eine Steuerreform und ein erfolgreiches Covid-19 Management. Außerdem konnten wichtige europäische Projekte wie der Asyl- und Migrationspakt und das Lieferkettengesetz im Zuge der belgischen EU-Ratspräsidentschaft zum Abschluss gebracht werden.
Im Gegensatz zu den Vivaldi-Parteien, die bereits lange vor den Wahlen an Zustimmung verloren hatten, waren die Oppositionsparteien in einer komfortablen Situation. Schließlich konnten drei Oppositionsparteien (der rechtspopulistische Vlaams Belang (VB), die marxistische PTB-PVDA und die rechtsnationalistische N-VA) in Vorwahlumfragen zusammen die große Mehrheit der Wählerzustimmung hinter sich versammeln. Allerdings, da VB und PTB-PVDA von den gemäßigten Parteien der Mitte als Kooperationspartner aufgrund ihrer extremen Positionen von Vornherein ausgeschlossen wurden, befanden sich beide Parteien vor den Wahlen in einer lediglich disruptiven Rolle. Dabei stößt VB vor allem mit der Forderung nach der Unabhängigkeit Flanderns auf, PTB-PVDA hingegen mit ihrer Sympathie und Nähe zu Russland.
Es deutete sich bereits vor dem Wahltag an, dass die N-VA, die zwar rechtsnationalistisch ist - aber im Vergleich zum VB etwas gemäßigter und somit möglicher Partner anderer Parteien - das Zünglein an der Waage für zukünftige Regierungskonstellationen sein könnte – abhängig davon, ob die N-VA sich für eine konstruktive Zusammenarbeit mit den anderen gemäßigten Parteien oder für einen Sperrblock mit dem VB entscheiden würde. Lange äußerte sich die N-VA dazu nicht konkret - lediglich, dass sie eine „antiflämische Vivaldi-Regierung“ verhindern wolle, was noch keine Positionierung gegenüber dem rechtspopulistischen Vlaams Belang beinhaltete. Schließlich trat der N-VA Präsident Bart de Wever etwa zwei Wochen vor der Wahl nach vorne und erklärte, dass seine Partei weder auf föderaler noch auf regionaler Ebene mit dem Vlaams Belang kooperieren möchte.[1]
Wahlkampf: Themen und Parteien
Der Wahlkampf in Belgien fand weitgehend regional statt, da die Parteien nicht regions- und sprachübergreifend agieren und die jeweiligen Regionen ihre eigenen Medien betreiben. Darum war auch der nationale Wahlkampf von regionalen Akteuren und Formaten geprägt. Eine Besonderheit, gerade im Vergleich zum deutschen Wahlkampf, war, dass es keine Fernsehwahlwerbespots gab. Dagegen dominierten Fernsehduelle mit Spitzenkandidaten in unterschiedlichen Konstellationen - vereinzelt auch regionenübergreifend.
Übereinkunft aller Parteien bestand in dem Vorhaben, das Haushaltsdefizit zu senken. Allerdings gingen die Positionen darüber auseinander, wie dies am besten zu erreichen sei. Während die mitte-rechts Parteien auf Einsparungen setzten, warben die linken Parteien für Vermögenssteuererhöhungen. Berechnungen zufolge würden die konkreten Vorhaben aller Parteien, mit Ausnahme der PTB-PVDA, für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen – am meisten mit den Strategien von VB und MR. [2]
Ein Topthema, das die Wählerschaft beschäftigte, waren sozioökonomische Fragen, allen voran die in den letzten Monaten gesunkene Kaufkraft. Außerdem wurde von verschiedenen politischen Lagern debattiert, ob man die Arbeitslosenunterstützung auf zwei Jahre beschränken solle. Ebenso blieb die Organisation des Gesundheitssystems als Dauerbrenner auf der politischen Agenda im Wahlkampf.[3] Zusätzlich spielten besonders in Brüssel die Themen Sicherheit und Mobilität eine große Rolle und wurden von allen Parteien aufgenommen.[4]
Nachdem der Wahlkampf in der Anfangsphase mehr von thematischer Auseinandersetzung geprägt war, in der die Parteien ihre Standpunkte definierten, wurde der Ton in der Schlussphase - auch getrieben durch vermehrte TV-Duelle - konfrontativer und ließ Schlüsse auf mögliche Koalitionsabsichten der Parteien zu.
Da sich die N-VA im Vorfeld der Wahl gegen eine Kooperation jeglicher Art mit dem VB positioniert hatte, bezog sie auch im Wahlkampf gemäßigtere Positionen, etwa die Umgestaltung Belgiens in eine Konföderation und äußerte nicht wie zuvor separatistische Bestrebungen. Außerdem erklärte die N-VA ihre Bereitschaft, an einer föderalen Regierung teilzunehmen.[5] Dies vermittelte den mitte-rechts Kräften den Willen der N-VA, mit ihnen zusammenarbeiten zu wollen. Gleichzeitig stellte Bart de Wever als N-VA Vorsitzender bereits den Anspruch, Premierminister zu werden, sollte seine Partei an der Regierung beteiligt sein - andernfalls würde sich die N-VA für die Opposition entscheiden.[6] Zur Erinnerung: Bart de Wever war 2018 maßgeblich für den Sturz der belgischen Regierung verantwortlich, weil sich seine Partei weigerte, dem UN-Migrationspakt zuzustimmen.[7] Vielleicht auch deshalb wurde seiner Forderung nach dem Spitzenamt von den anderen Parteien wenig Beachtung geschenkt und lediglich als Wahlkampftaktik interpretiert.
Die liberale Open VLD, die mit Alexander De Croo als amtierendem Premierminister ein prominentes Gesicht an der Spitze hatte, versuchte im Wahlkampf mit Bildern zu punkten, die De Croos Treffen auf internationaler Bühne mit US-Präsident Biden und dem ukrainischen Präsidenten Selensky zeigten. Neben seiner Funktion als Premierminister, wechselte De Croo häufiger in den Wahlkampfmodus und sprach sich für eine zukünftige Mitte/Rechts-Regierung anstelle von Vivaldi II aus.[8] Mit seiner Aussage, dass er, zwischen Belgien und Europa, immer Belgien vorziehen würde – stünde er vor der Wahl,[9] zielte er sicher nicht zuletzt darauf ab, der rechtsnationalen N-VA Stimmen abzujagen.
Die sozialdemokratische PS unter ihrem Vorsitzenden Paul Magnette setzte zum Ende ihres Wahlkampfes alles auf die Karte, vor einer rechts-liberalen Regierung aus MR und N-VA zu warnen, was, so fürchtete die PS, Kürzungen beim Sozialstaat und im Gesundheitssystem sowie „weniger Belgien“ zur Folge hätte. Außerdem versuchte die wallonische Partei damit zu werben, dass in einer solchen Regierung die französischsprachigen Belgier nicht vertreten wären.[10] Insbesondere malten sie das Schreckgespenst von N-VA Vorsitzenden de Wever als Premierminister, was einen „Tsunami des Unglücks“ bedeuten würde.[11] Gleichzeitig schloss die PS eine Koalition mit der PTB-PVDA auf jeglicher Ebene aus, da sie ihrer Sicht nach nicht an konstruktiven Lösungen interessiert sei und Russland nahe stünde.[12]
Les Engagés mit ihrem Vorsitzenden Maxime Prévot trat im Wahlkampf mit neuem Branding auf. Nicht nur, dass sie sich mit neuem Logo präsentierten, sie bezogen außerdem linkere Positionen als zuvor, insbesondere bei sozialen Themen. Als traditionelle Partei der Mitte sowie nicht der Vivaldi-Regierung zugehörig, wurden sie bereits im Wahlkampf sowohl von links als auch von rechts umworben. Außer dass Prévot rote Linien gegenüber den Extremen, sprich VB und PTB-PVDA zog, positionierte sich Les Engagés im Wahlkampf nicht explizit zu möglichen Koalitionen.[13]
Wahlergebnisse und Analyse[14]
Nationalwahlen
In Belgien gilt eine Wahlpflicht, demzufolge ist die Wahlbeteiligung recht hoch und stabil. So lag sie in diesem Jahr bei ca. 87 Prozent (vgl. 88 Prozent in 2019). Bei diesen Wahlen beteiligte sich allerdings mit 255.000 Wählern eine Rekordzahl der im Ausland lebenden Belgier.[15]
Die Sitzverteilung im Parlament nach den Wahlen ändert sich maßgeblich im liberalen Lager, wobei MR aus der Wallonie sechs Sitze hinzugewinnen, Open VLD aus Flandern aber gleichzeitig fünf Sitze verlieren. Insbesondere die grünen Parteien verlieren an Sitzen, ganze zehn bei der wallonischen Ecolo und zwei bei der flämischen Groen. Beide sozialdemokratischen Parteien (PS und Vooruit) können ihre Sitze halten. Die siegreiche N-VA gewinnt einen Sitz dazu, der Zweitplatzierte Vlaams Belang zwei Sitze. Außerdem verjüngt sich das Parlament etwas mit einem Durschschnittsalter von 50 auf 47 Jahre. Die Frauenquote von 43 Prozent bleibt unverändert.[16]
Die Vorwahlumfragen, die eine weitgehende Polarisierung weg von den gemäßigten Kräften der Mitte und hin zur extremen Rechten und Linken vorhersagten, bestätigte sich zwar nicht in dem Maße, wie es prognostiert worden war, lässt sich aber dennoch nicht ganz von der Hand weisen. Denn die rechtsnationalistische N-VA und der rechtspopulistische Vlaams Belang erhielten auf nationaler Ebene zusammen ca. 30 Prozent der Stimmen, auf regionaler Ebene fast 50 Prozent. Hinzu kommen auf nationaler Ebene fast 10 Prozent für die marxistische PTB-PVDA. Die Tatsache, dass schlussendlich nicht die beiden extremen Parteien das Feld anführen, sollte nicht über die Zustimmungswerte der rechtsorientierten Kräfte hinwegtäuschen. Unlängst bestätigte auch eine Studie der Universität Antwerpen diesen Polarisierungstrend. Allerdings greift die Studie auch auf, dass nicht alleinig eine Polarisierung der Wählerschaft stattgefunden habe, sondern dass sich die Positionen des gesamten Parteienspektrums nach rechts verschoben haben.[17]
Bereits im Endspurt des Wahlkampfes deuteten alle Zeichen auf ein Ende der Vivaldi-Regierung hin, denn die Regierungsparteien selbst ließen durchblicken, dass sie nicht unbedingt an Vivaldi festhalten wollten, beispielsweise liebäugelte MR schon, mit der N-VA zu kooperieren.[18] Nach dem überraschenden Wahlsieg der N-VA und der klaren Abstrafung von Open VLD, der Partei von Premierministers De Croo, der noch am Wahlabend seinen Rücktritt erklärte, steht fest, dass es keine Neuauflage von Vivaldi geben wird und dass an der N-VA in der Regierung kein Weg mehr vorbeiführt. Medial wurde diese Einsicht damit unterstrichen, einen den Tränen nahen De Croo neben einem jubelnden Bart de Wever, dem Vorsitzenden der N-VA, abzubilden. In diesem Sinne ist die Strategie de Wevers, die Vivaldi-Regierung zu dämonisieren, aufgegangen – De Croos Strategie, rechts-liberale Positionen zu beziehen, hingegen gescheitert.
Kurz nach den Wahlen sind nun alle Augen auf Bart de Wever gerichtet, der als „Mann der Stunde“ gefeiert wird. Obwohl er bereits im Wahlkampf große mediale Präsenz hatte, wird ihm nun beinahe ungeteilte öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt. Mit dem Zitat „as astra aspera“ (auf dem schwierigen Weg zu den Sternen) verkündete er am Wahlabend den Sieg seiner Partei und räumte ein, dass so manch einer in der Partei selbst nicht daran geglaubt habe. Er positionierte sich nicht direkt, sondern hob vor allem hervor, dass die Flamen den Wohlstand gewählt haben und dass das flämische Votum auf nationaler Ebene respektiert werden müsse. Dies ist wohl auch ein Verweis auf die damalige Formung der Vivaldi-Regierung gegen den Willen der N-VA und VB, die dies nutzten, um Vivaldi als „antiflämische Allianz“ darzustellen. Ganz in diesem Sinne wurde Bart de Wever am Wahlabend auch nicht müde zu betonen, dass sowohl auf nationaler Ebene als auch in der Wallonie die „linke Regierung“ abgewählt wurde.
MR, die drittstärkste Kraft wurden, äußerten sich zunächst positiv gegenüber einer Kooperation mit der N-VA. Les Engagés, die sehr von ihrem neuen Branding profitiert zu haben scheinen, stehen ebenso einer Zusammenarbeit mit der N-VA offen gegenüber. Allerdings sind sie skeptisch bezüglich Bart de Wever in der Rolle des Premierministers, da sie daran zweifeln, ob er belgische anstatt rein flämische Interessen vertrete – lehnen ihn aber auch nicht grundsätzlich ab. Die sozialdemokratische Vooruit als Fünftplatzierte (mit Blick auf eine realistische Regierungsbildung sogar drittstärkste Kraft) sagte in Richtung der anderen rechts-liberalen Gewinnerparteien, dass sie sich eine Regierungsbeteiligung nur vorstellen könne, falls diese eine soziale Politik forcieren würde. Diese Gemengelage, insbesondere die durchaus kontroverse gesehene N-VA, einschließlich ihres Vorsitzenden Bart de Wever, zeigt, dass eine rechts-liberale Regierung alles andere als ein Selbstläufer wäre.
Ebenso wie die Open VLD, zog die PS bereits Konsequenzen aus ihrer Niederlage und kündigte an, dass sie auf allen Ebenen in die Opposition gehen werde. Die marxistische PTB-PVDA erklärte, sie sei „offen für alle Einladungen“. Gleichzeitig gesteht sie ein, dass eine Vereinbarung mit rechten Parteien am schwierigsten ist. Es erscheint daher äußerst unwahrscheinlich, dass die PTB-PVDA ernsthaft an Verhandlungen beteiligt sein wird.
Regionalwahlen
Auf den ersten Blick scheinen sich die nationalen Ergebnisse in Flandern wider zu spiegeln, da auch hier die N-VA überraschend vor Vlaams Belang auf dem ersten Platz gelandet ist. Allerdings liegt sie hier nur mit etwa einem Prozentpunkt vorne und hat vier Sitze verloren, wohingegen VB acht Sitze dazu gewonnen hat. In Flandern hatte bislang eine mitte-rechts Koalition aus N-VA, CD&V und Open VLD regiert. Dadurch, dass die liberale Open VLD massive Verluste von neun Sitzen erlitt und auch die CD&V drei Sitze einbüßen musste, wird es keine Neuauflage dieser Regierung geben. Da auch N-VA und VB haarscharf eine gemeinsame Mehrheit verfehlt haben, ist auch eine flämische Allianz unwahrscheinlich. Rechnerisch denkbar wäre eine Regierungskoalition aus N-VA, Vooruit und CD&V. Allerdings sind die N-VA und die sozialdemokratische Vooruit alles andere als natürliche Partner. Darum wird auch in Flandern eine Regierungsbildung eine Herausforderung sein. Bart de Wever lud jedenfalls ab Dienstag nach den Wahlen alle Parteien zu Sondierungsgesprächen ein, einschließlich Vlaams Belang, obwohl er im Wahlkampf jegliche Kooperation mit ihnen ausgeschlossen hatte.
Das Wahlergebnis in der Wallonie ist vielleicht die größte Überraschung überhaupt. Die bis dato amtierende mitte-links Regierung aus PS, MR und Ecolo glaubte sich aufgrund stabiler Umfragewerten einer erneuten Amtszeit sicher, selbst wenn auch sie damit rechnen mussten, leicht an Zustimmung einzubüßen. Am Wahlabend des 9. Juni stand fest, dass die liberale MR die sozialdemokratische PS nach Jahrzehnten an der Spitze der Region abgelöst hatte. Nun scheint ein Zweierbündnis aus MR und der Mitte-Partei Les Engagés, die dank neuen Brandings mit 17 Sitzen drittstärkste Partei wurden, wahrscheinlich.
In der Region Brüssel zeichnet sich für die französischsprachigen Parteien ein ähnliches Bild wie in der Wallonie – unter den niederländischsprachigen Parteien hingegen sind die Grünen (Groen) bei weitem stärkste Kraft. Aufgrund der kleinen Repräsentanz der niederländischen Parteien entspricht dies jedoch nur vier Sitzen. Bislang agierte in Brüssel eine Mitte/Links-Regierung, geführt von der sozialdemokratischen PS. Da, wie in der Wallonie, nun MR die PS als stärkste Partei ablöst, wäre eine Mitte/Links-Regierung, jedoch unter liberaler Führung, wahrscheinlich.
Europawahlen
Obwohl Brüssel viele EU-Institutionen beherbergt und Belgien immer noch die EU-Ratspräsidentschaft innehat, wurden die Europawahlen weitestgehend von den nationalen Wahlen überschattet, sprich europapolitische Themen spielten kaum eine Rolle im Wahlkampf. Immerhin traten für Belgien einige bekannte Gesichter bei den EU-Wahlen als Spitzenkandidaten an, etwa Elio di Rupo (PS), ehemaliger Premierminister und seit 2019 wallonischer Ministerpräsident, oder Sophie Wilmès (MR), ehemalige Premierministerin und Außenministerin. Aufgrund dieses innenpolitischen Fokus decken sich die belgischen Europa-Wahlergebnisse weitestgehend mit denen der nationalen Wahlen. Allerdings blieb auf europäischer Ebene die Überraschung aus: Vlaams Belang wurde wie prognostiziert stärkste Partei und nicht wie auf nationaler Ebene von der N-VA überholt.
Ausblick
Regierungsbildung
Nach den Wahlen 2019 brauchte Belgien fast 500 Tage um eine Regierung zu bilden. Dadurch dass die N-VA nun als stärkste Kraft von den anderen Parteien als diejenige anerkannt wird, die eine Regierungsbildung leiten wird, könnte es dieses Mal etwas schneller gehen. Bereits am Tag nach den Wahlen lud der belgische König traditionell alle Parteivorsitzenden der Stärke nach zu sich ein, um einen sogenannten „Formateur“ für die Regierung zu finden. Demzufolge wurde Bart de Wever als N-VA Vorsitzender schließlich einen Tag später, am Mittwoch nach den Wahlen, als „Formateur“ mit der Regierungsbildung beauftragt. Dieser mahnte bereits vor den Wahlen, dass möglichst schnell ein Kabinett aus flämischen und wallonischen Mitgliedern gebildet werden müsse. Dabei sei es die größte Priorität, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen. Sein Hauptthema einer großen Staatsreform, die auf eine belgische Konföderation zielt, sei zwar nicht vom Tisch, aber zumindest für die Regierungsbildung keine zwingende Vorraussetzung.[19]
In Anbetracht der traditionell komplizierten Regierungsbildung, da sich zwangsläufig gleich meherere Parteien zusammenschließen müssen, sei der sehr pragmatische Umgang der Belgier mit dieser für ihr Land durchaus üblichen Situation hervorzuheben. Die Vivaldi-Regierung wird zunächst geschäftsführend tätig sein und so Belgien relativ stabil durch die Zeit der Regierungsfindung navigieren. Alexander De Croo, der aufgrund der herben Niederlage seiner Partei einschließlich in seinem eigenen Wahlkreis bereits am Tag nach der Wahl als Premierminister zurücktrat, wird dennoch vorerst kommissarisch die Regierungsgeschäfte weiterführen.
Die neue wie auch immer geartete belgische Regierung wird vor einigen Herausforderungen stehen. Ein Hauptfokus wird dabei sein, die Staatsverschuldung zu minimieren. Dies wird insbesondere zu einer Herausforderung angesichts stetig steigender Sozialkosten aufgrund einer alternden Bevölkerung. Außerdem wird die Umsetzung der auf EU-Ebene vereinbarten neuen Regeln im Bereich Asyl und Migration auf der Agenda stehen, ebenso wie Aufgaben im Bereich der Sicherheitspolitik, beispielsweise verfehlt Belgien immer noch das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Schließlich wird es mit Blick auf die politische Handlungsfähigkeit Belgiens unabdingbar sein, der politischen Polarisierung insbesondere zwischen den Regionen entgegenzuwirken.
Bedeutung für Deutschland und Europa
Wirtschaftlich und politisch bleibt Belgien ein wichtiger Partner für Deutschland. Im wirtschaftlichen Zusammenhang ist insbesondere der Hafen von Antwerpen sowie Belgiens starker Industrie- und Dienstleistungssektor von zentraler Bedeutung für Deutschland. Darum ist aus deutscher Perspektive Belgien als zuverlässiger und wirtschaftsstarker Handelspartner weiterhin von großer Relevanz. Insbesondere auch weil seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Energiesicherheit besteht. So werden 45 Prozent der deutschen LNG-Gasimporte im belgischen Hafen Seebrügge abgewickelt. In politischer Hinsicht, steht Belgien als Gründungsmitglied der EU, der Vereinten Nationen und der NATO traditionell für einen starken Multilateralismus und die internationale regelbasierte Ordnung. Insofern war und ist Belgien ein enger Partner Deutschlands, auch auf internationaler Bühne.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern die starken Ergebnisse der populistischen und nationalistischen Parteien nun die internationale Rolle Belgiens beeinflussen. Dies wird insbesondere davon abhängen, welche Regierungskoalition sich hervortun wird und welche Persönlichkeiten sie in rhetorischer und inhaltlicher Hinsicht prägen werden. Mit dem Wahlergebnis des 9. Juni folgt Belgien jedenfalls dem Trend eines zunehmenden Populismus, der auch anderen EU-Mitgliedsstaaten zu beobachten ist und der den Interessensausgleich auf europäischer Ebene erschwert.
Exkurs: Politisches System Belgiens
Co-Autorin: Leonie Schade
Belgien ist eine parlamentarische Monarchie und seit 1993 ein Föderalstaat. Es gibt drei Regierungsebenen mit unterschiedlichen Entscheidungsbefugnissen: Die föderale Ebene, die drei Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel-Hauptstadt) und die sprachlich und kulturell definierten Gemeinschaften (französischsprachig, flämisch, deutschsprachig).[20] Das föderale Parlament Belgiens ist ein Zweikammersystem und besteht aus der Abgeordnetenkammer und dem Senat. Erstere umfasst die 150 direkt gewählten Abgeordneten aus den verschiedenen Wahlkreisen und ist für die allgemeine Gesetzgebung, das Haushaltsrecht und die Kontrolle der Regierung verantwortlich. Der Senat hingegen fungiert als Vertreter der Regionen und Gemeinschaften und spielt in der föderalen Gesetzgebung und bei Verfassungsänderungen eine entscheidende Rolle. 50 der 60 Senatoren werden von den Parlamenten (Gemeinschaften und Regionen) aus den eigenen Reihen bezeichnet. Die restlichen 10 Senatoren werden auf Basis der Wahlergebnisse benannt. Die Regionen haben Verantwortlichkeiten in Angelegenheiten, die speziell ihre Region betreffen. Hierzu gehören Raumordnung, Naturschutz, Umwelt, Landwirtschaft und Hochsee-fischerei, Wasserpolitik, Wirtschaft, Beschäftigung, Energiepolitik. Die Gemeinschaften kümmern sich in erster Linie um kulturelle und bildungspolitische Angelegenheiten sowie Teile der Gesundheitspolitik. Dem König als Staatsoberhaupt kommen vor allem repräsentative und zeremonielle Aufgaben zu. Im politischen Entscheidungsprozess übt er insbesondere durch den Dialog mit Parlament und Regierung sowie mit anderen gesellschaftlichen Akteuren Einfluss aus.[21]
Exkurs: Wahlsystem Belgiens
Co-Autorin: Leonie Schade
Das föderale Parlament sowie Mitglieder der Gemeinschafts- und Regionalparlamente werden in der Regel alle fünf Jahre gewählt, wobei Gemeinderatswahlen alle sechs Jahre stattfinden.[22] Wähler können sich am Wahltag für eine Parteienliste, abhängig vom Wahlkreis, entscheiden und mit einer Listenstimme für die gegebene Rangordnung der Kandidaten auf der Liste stimmen. Es ist aber auch eine Kopfwahl durch eine Vorzugsstimme möglich. Dafür muss das Kästchen neben dem Namen des Kandidaten angekreuzt werden. Hierbei können auch mehrere Kandidaten derselben Liste ausgewählt werden.[23] Das Panaschiersystem, das Stimmen für mehrere Listen auf einem Wahlzettel erlaubt, ist nicht gestattet[24] Eine Besonderheit des belgischen Wahlsystems ist die Wahlpflicht. Wer mindestens 18 Jahre alt ist, wird automatisch zur Wahl eingetragen und muss einen Stimmzettel abgeben- dieser kann auch unausgefüllt bleiben. Bei den diesjährigen Europawahlen müssen erstmalig auch Jugendliche ab 16 Jahren wählen gehen. Wer am Wahltag seine Stimme nicht abgeben kann, kann entweder einer anderen Person eine Vollmacht erteilen oder die Gründe seiner Abwesenheit darlegen, über deren Rechtfertigung befunden werden muss. Gemäß Artikel 210 des Wahlgesetzbuches riskieren Nichtwählende Geldstrafen von bis zu 200 Euro.[25] Diese Strafen werden allerdings selten umgesetzt.[26] Nach den Wahlen erfolgt die Sitzverteilung nach dem Verhältniswahlrecht, dem sogenannten D’Hondt-System, wobei jede Parteienliste eine Anzahl Sitze entsprechend der für sie abgegebenen Stimmen erhält, vorausgesetzt sie überspringt die 5-%-Hürde.[27] Nach Festlegung der Sitze einer Partei in einem Wahlkreis werden sie den einzelnen Kandidaten entsprechend der Sitzanteile zugeteilt. Aufgrund der Vorzugsstimmen können Kandidaten, ihren Listenplatz verbessern.[28]
[1] Bart De Wever (N-VA) formeel: "Of ik een regering ga vormen met Vlaams Belang? Neen" | VRT NWS: nieuws
[2] Wahlen ’24: Hohe Steuern oder heftig sparen: Wie wollen die Parteien den Haushalt ausgleichen? | VRT NWS: nachrichten
[3] Wahlen ’24: Parteienstandpunkte und wie sie sich angesichts der anstehenden Wahlen verschieben | VRT NWS: nachrichten
[4] Wahlen ’24: Mobilität, eines der wichtigsten Wahlkampfthemen in Brüssel | VRT NWS: nachrichten ; Wahlen ’24: Die Sicherheit ist in Brüssel das wichtigste Thema der Oppositionsparteien | VRT NWS: nachrichten
[5] Elections 2024 : Bart De Wever se dit prêt à entrer au gouvernement même sans réforme de l’Etat - Le Soir
[6] Elections 2024 : si De Wever n'est pas Premier ministre, la N-VA choisit l'opposition - RTBF Actus
[7] Offiziell ist belgische Regierung noch nicht gestürzt, das ist aber eine Frage von Stunden | VRT NWS: nachrichten
[8] Elections 2024: De Croo avec Zelensky, De Croo chez Biden, De Croo... en campagne - Le Soir
[9] Alexander De Croo : « Si j’ai le choix entre la Belgique et l’Europe, je choisirai toujours notre pays » - Le Soir
[10] Le PS met en garde à une semaine des élections : « Revoilà l’alliance MR-N-VA, moins d’Etat, moins de Belgique » - Le Soir
[11] Elections 2024 : la mise en garde du PS contre une alliance entre le MR et la N-VA - Le Soir
[12] 'Il n'y aura pas de gouvernement avec le PTB, nulle part', affirme Paul Magnette à Jeudi en Prime - RTBF Actus
[13] Maxime Prévot, président des Engagés : 'Je serai le premier heureux si l'on se passe de la N-VA au fédéral' - RTBF Actus
[14] Informationen wurden aus den Liveblogs von VRT NWS: nieuws und Le Soir – L’actualité en direct en Belgique et ailleurs bezogen.
[15] Superwahljahr 2024: Belgien geht wählen | VRT NWS: nachrichten
[16] Les élus les plus jeunes, les parlements les plus paritaires ou les plus expérimentés : quels sont les profils des nouveaux députés belges ? - RTBF Actus
[17] Wahlen ’24: Parteienstandpunkte und wie sie sich angesichts der anstehenden Wahlen verschieben | VRT NWS: nachrichten
[18] Et à la fin, les francophones parlent à la N-VA - RTBF Actus
[19] Elections 2024 : Bart De Wever se dit prêt à entrer au gouvernement même sans réforme de l’Etat - Le Soir
[20] Belgien: Politisches Porträt - Auswärtiges Amt (auswaertiges-amt.de)
[21] Staat | Belgium.be
[22] Wahlen in Belgien | Flandern.be (vlaanderen.be)
[23] Wie wählen Sie? | Wahlen Belgien 2024 - FOD Inneres - Direktion der Wahlangelegenheiten (fgov.be)
[24] Das Wahlsystem (senate.be)
[25] Ist Wählen Pflicht? | Wahlen Belgien 2024 - FOD Inneres - Direktion der Wahlangelegenheiten (fgov.be)
[26] Elections 2024: What you need to know before voting on 9 June | The Bulletin
[27] Abgeordnetenkammer | Wahlen Belgien 2024 - FOD Inneres - Direktion der Wahlangelegenheiten (fgov.be)
[28] Das Wahlsystem (senate.be)
Bereitgestellt von
Europabüro Brüssel
Themen
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.