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Länderberichte

Uruguay startet in den Wahl-Marathon

von Sebastian Grundberger, Kristin Langguth

Ungewisser Ausgang trotz stabiler Regierungsumfragen

Auch wenn die bürgerliche Regierung unter Luis Lacalle Pou noch rund eineinhalb Jahre im Amt verbleibt, bereitet sich das politische Uruguay bereits auf die anstehende Wahl im nächsten Jahr vor. Der Amtsinhaber von der Partido Nacional darf sich nicht erneut zur Wahl stellen, so dass sich bei der derzeitigen Regierungspartei die Kandidatenfrage stellt. Aber auch bei den anderen Parteien bringen sich immer mehr Aspirantinnen und Aspiranten für den anstehenden Wahlkampf-Marathon in Stellung. Obwohl sich die Regierung stabiler Umfragewerte und positiver Wirtschaftsdaten erfreut, ist das Rennen völlig offen.

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Mitten im vierten Amtsjahr kann sich Präsident Luis Lacalle Pou weiter über stabil gute Umfragewerte freuen. Rund 45 Prozent der Befragten stehen hinter seiner Regierungsführung, während 34 Prozent diese ablehnen.[1] Auch die meisten Minister werden unterm Strich positiv bewertet. Dies sollte dem Regierungslager eigentlich Luft für den anstehenden Wahlkampf-Marathon geben, der gerade mit der Kandidatenkür beginnt. Die derzeitige politische Lage ist aber so vielschichtig, dass jegliche Wahl-Voraussagen derzeit rein spekulativen Charakter haben.

Neben dem international beachteten Pandemie-Management sowie der Bestätigung eines Gesetzes-Reformpaketes durch ein Referendum[2] im März 2022 konnte die bürgerliche Fünf-Parteien-Koalition weitere Erfolge verbuchen. Es kam unter anderem zur Verabschiedung einer Bildungs- sowie einer Sozialversicherungsreform, die das Mindest-Renteneintrittsalter von 60 auf 65 und in Sonderfällen auf 63 Jahren anhebt. Ferner kann sich die Regierung trotz diverser heterogener Schocks wie einer schwachen Nachfrage aus China, Argentiniens konstanter Instabilität und der langanhaltenden Dürre auf relativ stabile Wirtschaftszahlen berufen. Insbesondere die Reallöhne konnten sich wieder spürbar erholen.  Die Inflation lag im Juli 2023 bei 4,79 Prozent und dabei auf dem niedrigsten Niveau seit 2005. Zudem kann die Regierung auf einen robusten Arbeitsmarkt mit einer historischen niedrigen Arbeitslosenquote von 3,5 Prozent verweisen.

In den letzten Monaten war Präsident Lacalle Pou aber vor allem wieder einmal als Krisenmanager gefragt. Aufgrund eines historischen Mangels an Niederschlägen sah sich insbesondere die rund 1,5 Millionen Einwohner zählende Hauptstadt Montevideo mit gravierenden Trinkwasserengpässen konfrontiert. Im Juni wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein „Wassernotstand“ ausgerufen. Die Vermischung des Leitungswassers mit salzigem Wasser aus dem Rio de la Plata führte zeitweise dazu, dass die Bevölkerung zum Konsum auf abgepacktes Wasser zurückgreifen musste. Letztlich war es vor allem der wiedereinsetzende Regen, der dazu führte, dass der Notstand am 23. August wieder aufgehoben werden konnte. Allerdings brachte die Regierung etwa mit der Umleitung von Flusswasser oder dem Kauf von Entsalzungsanlagen auch Maßnahmen auf den Weg, die derartigen Krisen künftig vorbeugen sollen.

 

Skandale und Hindernisse

Eine hohe Hürde, die die Regierung im anstehenden Wahlrennen zu nehmen hat, ist hingegen die für uruguayische Verhältnisse anhaltende schwierige Sicherheitslage. Rund 45 Prozent der Uruguayer geben in einer Umfrage an, dieses Thema mit Sorge zu betrachten und sehen in der steigenden Kriminalität die größte Herausforderung für das kleine Land am Rio de la Plata. Die erst kürzlich seitens des Innenministeriums verkündeten Zahlen für die erste Jahreshälfte 2023 bieten Anlass zur Sorge. Im Vergleich zu 2022 sind die Tötungsdelikte zwar um 7,9 Prozent gesunken, aber um 29,2 Prozent gegenüber 2021 und um 12 Prozent gegenüber 2019 gestiegen. Im Juni scheiterte im Parlament ein wegen des Anstiegs von Tötungsdelikten bei Auseinandersetzungen im Drogenhandel anberaumtes Misstrauensvotum gegen Innenminister Luis Alberto Heber (Partido Nacional). Ob die in diesem Jahr von seinem Haus vorgelegte aus den Empfehlungen von parteiübergreifenden Experten hervorgegange nationale Sicherheitsstrategie mittelfristig Resultate zeigen wird, muss abgewartet werden. Bisher versucht sich die linke Opposition der „Frente Amplio“ (FA) nicht zuvorderst beim Thema Sicherheit zu profilieren, wohlwissend, dass die Uruguayer sie in diesem Politikfeld nicht unbedingt für kompetenter halten als die Regierungskoalition.

Die drei wichtigsten Parteien der Regierungskoalition hatten zudem allesamt mit Skandalen zu kämpfen. Im Januar 2023 trat Umweltminister Adrián Peña (Partido Colorado) aufgrund eines vorgetäuschten Universitätsabschlusses zurück. Im Mai wurden Vorwürfe bekannt, dass die Wohnungsbauministerin Irene Moreira (Cabildo Abierto) Parteimitgliedern unter Umgehung der formalen Mechanismen Eigentumswohnungen überlassen hatte, weshalb die Ehefrau des Parteichefs und Senators Guido Manini ihr Ministeramt aufgeben musste. Einer der wichtigsten Senatoren der Partido Nacional, Gustavo Penadés, musste im Mai 2023 zudem sein Parlamentsmandat niederlegen, nachdem er des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen angeklagt worden war. Ein öffentlich beachtetes Gerichtsverfahren, bei dem Penadés seine Unschuld beteuert, läuft derzeit.  

All dies kam zum bisher schwersten Skandal der Lacalle-Regierung hinzu. Im Februar 2023 wurde der ehemalige Sicherheitschef des Präsidenten, Alejandro Astesiano, zu vier Jahren Haft verurteilt, nachdem das Gericht es als erwiesen ansah, dass der im September zuvor festgenommene Funktionär aus seinem Büro im Präsidialamt die Fälschung uruguayischer Pässe und deren Verkauf an russische Staatsbürger organisiert hatte. Die Affäre hatte zu einem zwischenzeitlichen Einbruch der Popularität des Präsidenten geführt, von der er sich jedoch wieder erholen konnte.

Wenn die Regierungskoalition auch bisher hält, bleibt insbesondere die unter schwachen Umfragewerten leidende nationalistisch-populistische Partei „Cabildo Abierto“ ein unsicherer Kantonist. Was für einige Beobachter Profilierung im Hinblick auf die kommenden Wahlen ist, stellt für andere eine Art „Opposition innerhalb der Regierung“ dar. Während sich der Parteivorstand nach dem erzwungenen Rücktritt der Wohnungsbauministerin in einer Abstimmung mehrheitlich für einen Verbleib in der Koalition aussprach, trotzte sie den anderen Koalitionspartnern etwa bei der Rentenreform oder der Liberalisierung einiger Wirtschaftsbereiche erhebliche Zugeständnisse ab und stimmte sogar gegen einzelne Gesetzesvorhaben.

 

Opposition vor Linksruck?

Während das plurale Linksbündnis „Frente Amplio“ sich zunächst sichtbar schwer damit tat, seine oppositionelle Rolle zu finden, hat es sich mittlerweile konsolidiert. Dies besagen zumindest jüngste Umfragen, die der FA bei den Parlamentswahlen einen Vorsprung vor der Regierungskoalition von 43 zu 38 Prozent im Parlament voraussagen. Es wird jedoch erwartet, dass sich diese Zahlen insbesondere dann bewegen, wenn die Spitzenkandidaturen bekannt werden. Zudem droht die FA derzeit, von ihrem eigenen linken Flügel vorgeführt zu werden. Aktuell spaltet die Entscheidung darüber, ob ein Plebiszit gegen die eingeführte Sozialversicherungsreform der Regierung durchgeführt werden soll das Parteienbündnis. Teile der FA wollen so eine Verfassungsänderung auf den Weg bringen, die das Mindest-Renteneintrittsalter auf 60 Jahre und eine Mindestrente festschreiben möchte. Derartige aufgrund der geringen Geburtenrate und der Alterung der Gesellschaft schwer zu bezahlende Maßnahmen hätten gravierende politische Auswirkungen auf das Land. Ein Festhalten an solchen Postulaten im anstehenden Wahlkampf könnte sich für die FA je nach Richtung der öffentlichen Debatte auch zu einem Schuss ins eigene Knie entwickeln. Es fügt sich jedoch nahtlos in die bisherige Oppositionsstrategie ein, die Regierung recht frontal anzugreifen und über die der FA engstens verbundene Gewerkschaftsbewegung die Straße mit unterschiedlichem Erfolg zu mobilisieren.

 

Das Kandidatenkarussell dreht sich

Obgleich die Präsidentschaftswahl noch mehr als ein Jahr entfernt ist, hat das Warmlaufen um die Kandidaturen bereits begonnen. Im Regierungslager entscheiden zunächst die verschiedenen Koalitionspartner in zentral organisierten und für alle Bürger offenen Vorwahlen am 30. Juni 2024 zeitgleich mit der Frente Amplio über ihre jeweiligen Präsidentschaftskandidaturen. Anschließend treten diese dann gegeneinander im ersten Wahlgang am 27. Oktober an. Sollte kein Kandidat oder keine Kandidatin über 50 Prozent der Stimmen erhalten, was als sicher gilt, wird am 24. November eine Stichwahl der beiden bestplatzierten Bewerber stattfinden. Da innerhalb der Regierungskoalition die Mitte-Rechts-Partei Partido Nacional (PN) bei Weitem am stärksten ist, wird aller Voraussicht deren Kandidat in die Stichwahl gegen die FA einziehen. Auch wenn noch niemand offiziell seine Kandidatur bekannt gegeben hat, erscheinen in der PN zumindest drei Kandidaturen als sicher. Da der amtierende Präsident Luis Lacalle Pou nicht wieder antreten darf, ist dessen rechte Hand, Präsidialamtsminister Alvaro Delgado (54 Jahre), dabei der große Favorit. Der gelernte Tierarzt punktet vor allem mit seiner Regierungserfahrung, der engen Verbindung zum Präsidenten sowie durch sein über Jahre als Senator und Abgeordneter sorgsam aufgebautes parteiinternes Netzwerk. Größte Herausforderin Delgados ist die ehemalige Vorsitzende der PN in der Hauptstadtregion Montevideo und ehemalige Kandidatin zur dortigen Intendentenwahl, Laura Raffo. Die 50jährige Wirtschaftswissenschaftlerin, deren Vater bereits für die PN ein Ministeramt bekleidete, ist insofern eine Outsiderin, als dass sie noch nie ein offizielles Regierungsamt ausgefüllt hat. Als regelmäßiger Gast in verschiedenen TV-Sendungen punktet sie vor allem durch ihr Charisma und ihr Kommunikationstalent. Grundlegende inhaltliche Unterschiede zwischen den beiden Kandidaten sind kaum auszumachen, wenn die Reformagenda Raffos insbesondere im Wirtschaftsbereich auch vielleicht einen Tick ambitionierter ausfallen könnte als die Delgados. Auf der anderen Seite verspricht Delgado mehr Berechenbarkeit und Regierungskompetenz. Wenn auch traditionell interne PN-Wahlen immer für Überraschungen gut sind, deuten die Umfragen derzeit auf einen klaren Sieg Delgados hin. Ein dritter Kandidat, der Senator Jorge Gandini, dürfte im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur keine Rolle spielen. Besonders interessant ist, dass die parteiinternen Gruppierungen, die Delgado bzw. Raffo unterstützen, die traditionellen Strömungen der Partei, den konservativ-liberalen „Herrerismo“ und den sozialreformerischen „Wilsonismo“ durchbrechen.

Auch die internen Wahlen der FA laufen auf einen Zweikampf zwischen einem Mann und einer Frau hinaus und auch hier ist der Mann der Favorit. Yamandú Orsi, Intendent der zweitgrößten Provinz Uruguays, Canelones, und Geschichtslehrer von Beruf, liegt in den parteiinternen Umfragen einige Prozentpunkte vor der Oberbürgermeisterin von Montevideo, Carolina Cosse. Die studierte Ingenieurin gilt als die linkere Kandidatin der beiden und pflegt einen kämpferischen Stil, weshalb sie zwar einige Fans, aber auch viele Gegner hat. Der 56-jährige Orsi hingegen tritt integrativer und konzilianter auf und kann besonders außerhalb der FA auf mehr Sympathien setzen als die fünf Jahre ältere Cosse. Im Gegensatz zu seiner Konkurrentin, die bereits als Direktorin der staatlichen Telefongesellschaft, als Industrieministerin und Senatorin zahlreiche nationale Ämter ausübte, hat Orsi keine vergleichbare Erfahrung und ist bisher bei nationalen Debatten eher dezent in Erscheinung getreten. Nur eine Außenseiterchance hat Mario Bergara, ein Senator, der innerhalb der FA den gemäßigten Flügel vertritt.

 

Ausblick

Die effektive Krisenbekämpfung sowie die weiteren Erfolge hervorhebend, bereitet sich die Regierungskoalition auf das Wahlkampfrennen vor. Doch auch die Opposition, die von 2005 bis 2020 die Regierung stellen konnte, ist deutlich wahrnehmbar. Ein Wahlprogramm hat noch niemand vorgestellt – es wird aber eifrig daran gearbeitet. Von Regierungsseite stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, neue und in die Zukunft weisende Akzente jenseits eines einfachen „weiter so“ zu setzen. Insbesondere werden überzeugende Lösungen für das andauernde Sicherheitsproblem sowie Modernisierungsvorschläge für die öffentliche Verwaltung und die immer noch sehr stark regulierte Wirtschaft gefragt sein. Zudem wird das Regierungslager darauf setzten, durch zahlreiche anstehende Eröffnungen von Infrastrukturprojekten rechtzeitig zum Wahlkampfendspurt die eigene Zustimmung zu erhöhen. Die Opposition wird sich fragen müssen, wie frontal sie einige Reformen der Regierung wie die vorsichtige Anhebung des Rentenalters bekämpfen und wie weit sie die politische Achse nach links verschieben möchte. Je mehr sie das tut, desto mehr erscheint eine gemäßigte Kandidatur des Mitte-Rechts-Lagers auch für Wähler der progressiven Mitte attraktiv.

Trotz der internen Diskussionen des Regierungsblocks setzt sich auf der Mitte-Rechts-Seite die Koalitionslogik immer stärker durch. Umfragen zeigen, dass es immer mehr Wähler gibt, die nicht eine der Regierungsparteien sondern die „Republikanische Koalition“ wählen wollen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Tendenz weiter festigt. Ein stabiles Zwei-Lager-System wäre für die demokratische Verfasstheit des Landes sicher nicht von Nachteil.

Unabhängig vom zu erwartenden Wahlkampf-Marathon und dem prognostizierten knappen Wahlausgang bleibt Uruguay eine stabile Demokratie mit einem fest gefügten Parteiensystem und rechtsstaatlichen Grundlagen. Damit sticht das Land in einer Region hervor, die insgesamt unter sich verengenden demokratischen Räumen leidet. Präsident Lacalle Pou vertritt diese Prinzipien auch nach außen glaubhaft. So kritisierte er etwa den brasilianischen Präsidenten lautstark dafür, als dieser den autoritären Charakter des venezolanischen Regimes als „Narrativ“ bezeichnete oder als er auf dem CELAC-Gipfel im Januar 2023 die lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs mit Blick auf die häufigen Verharmlosungen etwa der kubanischen Diktatur dazu aufrief, hinsichtlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht „je nach ideologischer Ausrichtung auf einem Auge blind“ zu sein.

Dass die uruguayische Politik trotz aller politischen Unterschiede Einheit zeigen kann, wurde im Juni unterstrichen, als Politiker aller Parteien gemeinsam im Parlament an den 50-jährigen Gedenktag des Staatsstreichs in Uruguay erinnerten – in Lateinamerika keineswegs ein selbstverständliches Zeichen. Genauso wenig selbstverständlich ist die Tatsache, dass derzeitige Umfragen keiner radikalen Kraft irgendwelche Erfolgschancen voraussagen.

Uruguay im Herbst 2023 ist also eine stabile Demokratie, in der die Konkurrenten im demokratischen Wettstreit ihre Startpositionen einnehmen, um ein regelgerechtes Rennen mit offenem Ausgang zu veranstalten. Allein dies ist bereits eine gute Nachricht vom Río de la Plata

 

 

[1] Alle Umfragewerte aus der jüngsten Umfrage der Firma EQUIPOS Consulting von Juni/Juli 2023. Abzurufen unter equipos.com.uy/noticias/. Zugriff am 27.8.2023.

[2] Zum Referendum vgl. Länderbericht der KAS Uruguay: „Knapper Sieg der Regierung bei wichtigem Referendum: Wahlergebnis bestätigt politische Zweiteilung Uruguays“ vom März 2022. Abzurufen z.B. unter jstor.org/stable/resrep40455?seq=3.

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Sebastian Grundberger

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Direktor Regionalprogramm Parteiendialog und Demokratie /Länderprogramm Uruguay

sebastian.grundberger@kas.de +598 2902 0943

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