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Volksabstimmung zwingt die Regierung zum Ausbau des Schweizer Sozialstaats -

von Cedric Amon

Die 13. Monatsrente wird kommen

Die Schweizer Wählerinnen und Wähler haben am vergangenen Sonntag, den 03. März, über zwei Volksinitiativen abgestimmt. Dabei hat das linke Lager mit ihrer Vorlage für eine 13. AHV-Rente einen bemerkenswert Sieg eingefahren und 58,2% der Ja-Stimmen erhalten. Die Vorlage der Jungfreisinnigen (FDP) über eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die durchschnittliche Lebenserwartung wurde dagegen mit 74,7% der Stimmen abgeschmettert. Die klaren Wahlergebnisse zwingen die Regierung nun zum schnellen Handeln, da die Frage nach der Finanzierung der 13. Monatsrente nicht geklärt ist.

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Was ist passiert?

Der erste Wahlsonntag des Jahres 2024 bot eine Menge politischen Zündstoff. Zur Abstimmung standen zwei Vorlagen, die beide auf eine Reformierung des Schweizer Rentensystems, die sog. Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), abzielten. Das Rententhema stieß auf enormes Interesse und mobilisierte 58,3% der Schweizer Stimmberechtigten.[1] Mit einer solch hohen Beteiligung wurde die Abstimmung zur neuntgrößten seit Einführung des Frauenwahlrechts in 1971.

Die Initiatoren der Volksinitiative „Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge“ der Jugendorganisation der Liberalen (FDP) mussten eine Niederlage einstecken. Die Initiative sah eine Erhöhung des Rentenalters von Männern und Frauen auf 66 Jahre vor, sowie einen weiteren graduellen Anstieg des Renteneintrittsalters, welcher an die durchschnittliche Lebenserwartung gekoppelt wäre. Erklärtes Ziel war es, eine langfristige Sicherung des Rentensystems zu gewährleisten, welches wegen der alternden Bevölkerung zunehmend belastet sei. Die Initiative, die knapp ein Jahr nach der Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre kam, fand schon im Vorfeld kaum Unterstützer. Sie wurde von 74,7% der Stimmberechtigten deutlich abgelehnt.

Dem Schweizer Gewerkschaftsbund (SGB) hingegen gelang mit seiner Initiative „Für ein besseres Leben im Alter (Initiative für eine 13. AHV-Rente)“ eine kleine Sensation. Die Initiatoren, die sich auch auf die breite Unterstützung des Frauenbündnisses stützen konnten, forderten die Erhöhung des Rentenniveaus in Form einer 13. AHV-Rente, um Altersarmut und der Teuerung der Lebenshaltungskosten entgegenzuwirken. Die Annahme der Vorlage mit 58,2% bedeutet de facto eine Anhebung der Rentensätze um 8,3% ab 2026. Die überdurchschnittliche Wahlbeteiligung von 58,3%, sowie die deutliche Annahme der Vorlage durch die Wählerinnen und Wähler zeigten, dass die Initiatoren den Zeitgeist richtig getroffen haben. Sie thematisierten den Anstieg von Krankenkassenprämien, Mieten und die allgemein gestiegenen Lebenshaltungskosten und forderten wirksame finanzielle Unterstützung für Rentnerinnen und Rentner bei der Bewältigung dieser Teuerungen. Die Organisatoren profitierten ebenfalls vom Unmut der Wahlbevölkerung. Das Ergebnis kann daher zu einem gewissen Grad auch als Trotzreaktion gegen die Regierung verstanden werden, welche in den letzten Jahren Milliardenpakete, beispielsweise für die Stützung der maroden Credit-Suisse Bank, auf den Weg gebracht hat, und aus Sicht der 13. AHV-Befürworter die eigene Bevölkerung dabei aus den Augen verloren habe.

Wie bedeutend das Wahlergebnis ist, lässt sich auch daran ablesen, dass seit mehr als 40 Jahren keine Initiative zum Ausbau des Sozialstaates angenommen worden ist. Unklar bleibt auch nach der Abstimmung, wie die Erhöhung der Renten finanziert werden soll. Berechnungen zufolge werden die Mehrbelastungen für das Rentensystem 4,1 Milliarden Franken betragen und werden bis zum Jahr 2030 voraussichtlich auf bis zu 5 Milliarden Franken jährlich steigen.

In den Tagen nach Annahme der 13. AHV-Initiative skizzierten politische Vertreterinnen und Vertreter aller Lager bereits erste Finanzierungsmöglichkeiten. Die Vorschläge reichen dabei von der Erhöhung der Lohnabgaben, über die Anhebung der Mehrwertsteuer bis hin zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Die Gewerkschaften sprechen sich grundsätzlich für eine Anhebung der Lohnsteuer aus. Die Vertreter des linken Lagers von der Sozialdemokratischen Partei (SP) und den Grünen lehnen Kürzungen an anderer Stelle des Bundeshaushaltes, wie zum Beispiel bei der Reform der Pensionskassen (2. Säule) ab, präsentieren aber keine eigenen Finanzierungsvorschläge für die 13. AHV-Rente. Die Partei Die Mitte hatte zur Abstimmung gegen die 13. AHV-Rente aufgerufen, da sie gegen eine Rentenerhöhung nach dem Gießkannenprinzip ist. Sie sieht in der Reform des Berufsvorsorgegesetzes oder auch bei der Adressierung der sogenannten Heiratsstrafe, wonach Ehepaare steuerlich schlechter gestellt sind als Paare mit eingetragenen Lebenspartnerschaften, die besseren Wege zur Entlastung des Bürgers. Mit einer unumgänglich gewordenen 13. AHV-Rente schlägt Die Mitte nun eine Finanzmarkttransaktionssteuer zur Finanzierung vor. Die Schweizer Volkspartei (SVP) will den Bundeshaushalt dagegen durch Kürzungen der Ausgaben für das Asylwesen, die Entwicklungshilfe und bei der Hilfe an die Ukraine, entlasten.

Da neue Finanzierungsinstrumente der AHV auch einer Abstimmung durch die Schweizer Bevölkerung bedürfen, befindet sich die Regierung in einer schwierigen Situation. Bereits 2015 wurde die Initiative zur Einführung einer Erbschafts- und Schenkungssteuer zur teilweisen Finanzierung der AHV und der Kantone von 71% der Abstimmenden deutlich abgelehnt.[2] Die Umsetzung der Initiative für eine 13. AHV-Rente auf eine sozialverträgliche Art und Weise wird sich nicht so einfach gestalten lassen.

 

Fehleinschätzungen und Schuldzuweisungen innerhalb des bürgerlichen Lagers

Als schwerwiegende Fehlentscheidung hat sich sicherlich der Verzicht des Parlaments auf einen Gegenvorschlag erwiesen. Regierung und Parlament sahen von einer Gegenvorlage ab und vertrauten weitgehend auf den finanzpolitischen Konservatismus ihrer Bevölkerung. Diese hatte den Ausbau von Sozialleistungen anderer Initiativen bis dato meist abgelehnt.[3]

Beobachter werten den Erfolg der Initiative als Beweis dafür, dass die bürgerlichen Parteien die Sorgen und den Unmut der Bürger nicht ernst genug genommen und tiefgreifende Reformen der Altersvorsorge zu lange vor sich hergeschoben haben. Das ließe sich unter anderem auch daran festmachen, dass auch traditionell konservativ- bzw. bürgerlich geprägte Kantone mehrheitlich für die 13. AHV-Initiative gestimmt haben.

Die Reaktionen aus dem Verliererlager fielen unterschiedlich und teils heftig aus. So beschimpfte ein prominentes FDP-Mitglied die Wählerbasis der SVP als „Trottel“[4], die sich durch ihre Zustimmung zur AHV-Initiative selbst schaden würden. Er analysierte, dass die Ja-stimmenden SVP-Wählerinnen und Wähler dachten, der Regierung einen Denkzettel verpassen zu können. Letzten Endes müssten sie die Finanzierungslücke jedoch selbst in Form von Lohnabgaben oder anderen Steuererhöhungen begleichen. Hintergrund dieser an die SVP gerichteten Anschuldigungen ist die Erkenntnis, dass für die Annahme der 13. AHV-Initiative eine breite, lagerübergreifende Unterstützung notwendig war. Die linken Parteien rund um SP und den Grünen vereinen nur ca. 30% der Wählerschaft. Die bürgerlichen Parteien versuchten ebenfalls den Industrie- und Arbeitgeberverbänden die Schuld für das Wahlergebnis zuzuschieben. Diese hätten zu spät mit einer Gegenkampagne begonnen.

Die Gegenkampagne lieferte zudem eine denkwürdige Steilvorlage für das andere Lager. Eine Gruppe von Altbundesräten[5] adressierten Briefe an Rentnerinnen und Rentner, in dem sie um Nein-Stimmen warben und vor einer finanziellen Schieflage warnten, sollte die 13. AHV-Vorlage angenommen werden. In dem Brief war auch von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer die Rede, welche wiederum auch die Rentner betreffen würde, die es zu entlasten gelte. Grundsätzlich ist eine Einmischung von altgedienten Bundesräten äußerst unüblich. In diesem Fall konnte diese nicht ganz unstrittige Strategie von Gewerkschaftsseite aufgegriffen und für ihre eigene Kampagne genutzt werden. In einer Mitteilung titelte der Gewerkschaftsbund: „Gutsituierte Alt-Bundesräte wollen dringende AHV-Erhöhung verhindern“[6]. Altbundesrat Adolf Ogi entschuldigte sich darauf hin nach der Abstimmung für diese Aktion.

 

Auswirkung auf die nächsten Abstimmungen

Die Abstimmung am vergangenen Sonntag reflektierte die demographische Entwicklung in der Schweiz und die bestehende Kluft zwischen Jung und Alt. Die Wählerinnen und Wähler über 65 Jahre, welche direkt von der Erhöhung der Renten betroffen sind und 19% der Gesamtbevölkerung ausmachen, stimmten mit überwältigender Mehrheit (78%) für die Rentenerhöhung. Auf der Seite der unter 34-jährigen, die ebenfalls knapp 20% der Schweizerinnen und Schweizer ausmachen, stimmten lediglich 40% dafür. Das Gesamtergebnis und die hohe Mobilisierung von Wählerbasen jenseits der sonst eher gefestigten politischen Lager zeigen, wie emotional und wichtig die Frage der Altersvorsorge für die Schweizer Bevölkerung ist und für wie wichtig ein staatliches Rentensystem erachtet wird. Sollte das Renteneintrittsalter in den nächsten Jahren erneut thematisiert oder als mögliche Finanzierungslösung für die steigenden Kosten des Rentensystems in Erwägung gezogen werden, zeigt die klare Absage der Vorlage zur Erhöhung des Renteneintrittsalters, dass ein höheres Rentenalter nur mit einem sozialen Ausgleich erfolgen kann, der allerdings ohne direkte finanzielle Mehrbelastung des Bürgers an anderer Stelle zu finanzieren wäre.

Während sich das bürgerliche Lager kurz nach der Abstimmung vorerst noch sortieren muss, stehen am 09. Juni bereits die nächsten Volksabstimmungen mit viel finanzpolitischer Sprengkraft an. Die SP wird versuchen das gerade erlangte Momentum der Rentenerhöhung für ihre Prämien-Entlastungsinitiative zu nutzen. Diese sieht eine Deckelung der Krankenkassenprämien vor, deren Mehrkosten zu zwei Dritteln vom Bund und zu einem Drittel von den Kantonen übernommen werden sollen. Parallel dazu wird über die Kostenbremse-Initiative der Partei Die Mitte abgestimmt werden. Der Vorschlag zur Eindämmung der Kostenexplosion im Bereich der Krankenkassen funktioniert ähnlich der Schweizer Schuldenbremse der Eidgenossenschaft. Falls die Gesundheitskosten in einem Jahr um 20% mehr als die Löhne steigen, muss der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen und Gesundheitsakteuren Maßnahmen zur Kostensenkung ergreifen.[7] Einsparungen sollen dabei durch ambulante Eingriffe, Generika oder der Digitalisierung der Krankenakten erzielt werden.

Mehr noch als ein Generationenkonflikt, sollte dieser Wahlsonntag allerdings auch als Aufbegehren gegen zunehmende soziale Ungleichheit wahrgenommen werden. Wie dem Wahlergebnis zu entnehmen ist, wird sich die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit in zunehmend alternden Gesellschaften verschärfen. Die Absicherung der staatlichen Renten ist dabei eine Gretchenfrage, die nicht mit einfachen Antworten zu lösen ist. Für welchen Finanzierungsweg die Schweiz sich entscheiden wird, ist aktuell noch offen. Fest steht jedoch, dass eine baldige Finanzierungsmöglichkeit gefunden werden muss, da 2026 nicht in ferner Zukunft liegt.

 

[1] Im Jahr 2023 waren 42,5% und im Jahr 2022 45,4% der Wählbevölkerung an die Urne gegangen (Stimmbeteiligung | Bundesamt für Statistik (admin.ch)).

[2] https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20150614/index.html

[3] https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/kommentar-gewerkschaften-schaffen-sensation-die-buergerliche-rentenpolitik-erhaelt-eine-schallende-ohrfeige-ld.2586570?reduced=true

[4] https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft-politik/834399421-trottel-einfach-dumm-so-schimpfen-die-buergerlichen-ueber-svp-waehler

[5] Adolf Ogi (SVP), Doris Leuthard (CVP, heute: Die Mitte), Pascal Couchepin (FDP), Johann Schneider-Ammann (FDP) und Joseph Deiss (CVP, heute: Die Mitte).

[6] https://www.sgb.ch/blog/blog-daniel-lampart/details/gutsituierte-alt-bundesraete-wollen-dringende-ahv-erhoehung-verindern-auch-mit-falschen-zahlen-ueber-die-mehrwertsteuer-dabei-waere-auch-eine-mwst-finanzierte-13-ahv-gemaess-zahlen-des-bundes-ein-lohnender-deal

[7] https://die-mitte.ch/kostenbremse-initiative/

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