Warum Parlamentswahlen?
Die vorgezogene Parlamentswahl am 17. Dezember 2023 ist bereits die dritte Wahl in weniger als vier Jahren in Serbien. Die Gründe für den erneuten Wahlgang sind vielschichtig. Sie sind zuallererst das Ergebnis einer sich zuspitzenden gesellschaftlichen Atmosphäre.
In Folge der Massenschießereien in Belgrad und der Kleinstadt Mladenovac im Mai 2023 kam es zu intensiven politischen Auseinandersetzungen zwischen der Regierungspartei Serbische Fortschrittspartei (SNS) auf der einen und den Oppositionsparteien sowie Teilen der liberalen Zivilgesellschaft auf der anderen Seite. Letztere forderten unter anderem den Rücktritt verschiedener Funktionäre der SNS und Neuwahlen. Für die Lage machten sie einzig den Staatspräsidenten Aleksandar Vučić und seine Regierungspartei verantwortlich. Über Wochen spitzte sich die Situation zu, es kam zu Massenprotesten in Belgrad und vereinzelt in anderen Städten. Jedoch ist es der parlamentarischen Opposition nicht gelungen, von der angespannten Situation politisch zu profitieren. Ähnlich wie bereits bei den Protesten gegen den geplanten Lithium-Abbau in Serbien im Jahr 2021 übernahmen zivilgesellschaftliche Organisationen und unzufriedene Teile der Bevölkerung die Rolle des politischen Korrektivs. Die parlamentarische Opposition war ihrerseits wieder einmal in verschiedene Interessengruppen zersplittert. Je länger die Proteste andauerten, desto weniger Aufmerksamkeit erhielten sie. Die Urlaubszeit und die Sommerpause trugen ihr Übriges bei.
Innerhalb der SNS arbeitete man derweil an parteipolitischen Veränderungen. Im Mai trat Aleksandar Vučić vom Amt des Parteivorsitzenden zurück. Einige Wochen später wurde der derzeitige stellvertretende Premierminister und Verteidigungsminister Miloš Vučević zum Parteivorsitzenden gewählt. Die von Aleksandar Vučić zwischenzeitlich angekündigte Gründung einer überparteilichen Bewegung wurde ob der Vielzahl an innen- und außenpolitischen Herausforderungen vorläufig verworfen.
Parallel zu diesen Entwicklungen gab es von Seiten der Europäischen Union (EU) und der USA weitere Anläufe, um den Normalisierungsdialog zwischen Serbien und dem Kosovo wiederzubeleben. Bereits seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs hatte der Westen versucht, beide Seiten zu Dialog zu bewegen. Primäres Ziel bestand darin, sicherheitspolitische Destabilisierungsversuche zwischen Belgrad und Pristina durch Russland proaktiv zu unterbinden. Der europäische Vorschlag zum Normalisierungsprozess und das Ohrid-Abkommen haben weitere Zugeständnisse von serbischer Seite notwendig gemacht. Diese war aus Sicht vieler internationaler Beobachter bis zum Herbst die konstruktivere Verhandlungspartei. Innenpolitisch stärkte dies jedoch alleinig die nationalistische Opposition. Hinzu kam, dass Serbien in mehreren internationalen Organisationen im Hinblick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine entgegen der Position Moskaus stimmte, was nationalistische Wähler sowohl der Opposition als auch der SNS verärgerte. Die über 800.000 Mitglieder starke Volkspartei vereint in ihren Reihen verschiedene politische Strömungen: von pro-europäischen bis hin zu nationalistischen. Der bis heute nicht aufgearbeitete Banjska-Zwischenfall, bei dem im September 2023 ein kosovarischer Polizist und drei serbische Angreifer ums Leben kamen, hat die Spannungen zwischen Serbien und dem Westen erhöht. Serbien wurde durch die USA und die EU unter Druck gesetzt, den Vorfall im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens aufzuarbeiten und die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen. Nationalistische Kräfte warfen Staatspräsident Aleksandar Vučić einen viel zu sanften Umgang mit Kosovo-Albanern vor. Die pro-europäische liberale Opposition kritisierte ihn für einen aus ihrer Sicht viel zu konfrontativen Kurs.
Drittens nutzten insbesondere Parteien des linken Spektrums wirtschafts- und finanzpolitische Herausforderungen und eine zeitweilen auf Rekordniveau gestiegene Inflation, um die Regierungskoalition anzugreifen. Zuletzt äußerten Gewerkschaften, Bauernverbände und andere Interessengruppen ihren Unmut durch kurzzeitige Streiks.
Am 1. November wurden vorgezogene Parlamentswahlen, Lokalwahlen in 65 Kommunen und Regionalwahlen in der Autonomen Provinz Vojvodina ausgeschrieben. Die politisch wichtigste Lokalwahl mit internationaler Symbolwirkung wird in Belgrad stattfinden. Zurzeit hat die von der SNS geführte Koalition eine Mehrheit von nur einer Stimme im Belgrader Stadtrat. Wegen dieses knappen Ergebnisses hatte Aleksandar Vučić in seiner Position als damaliger Parteivorsitzender kurz nach dem letzten Urnengang die Durchführung erneuter Wahlen innerhalb von zwei Jahren in Aussicht gestellt. Realpolitisch betrachtet wird die Bündelung der Wahlen in Belgrad mit den Parlamentswahlen dazu führen, dass übergeordnete nationale Themen alles andere überschatten. Dies wird aller Voraussicht nach der SNS und ihren Koalitionspartnern zugutekommen.
Die Entscheidung der SNS, in Belgrad mit der Serbischen Radikalen Partei (SRS) von Vojislav Šešelj zu koalieren, hat für viel Aufruhr und auch Unverständnis gesorgt. Šešelj ist vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden. Der in der Öffentlichkeit polarisierende Šešelj hatte es bei der letzten Parlamentswahl nicht einmal über die Drei-Prozent-Hürde geschafft. Aufgrund immenser Unterschiede zwischen der SNS und der SRS in europapolitischen Themen, beschränkt sich die Zusammenarbeit nur auf die lokale Ebene, so die SNS-Führung.
Die restlichen Wahlen werden in den 64 Kommunen abgehalten, in denen die jetzigen Regierungsparteien SNS und oder die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) von Außenminister Ivica Dačić die Mehrheiten stellen. Die Wahlen in allen anderen Kommunen sollen regulär Ende Mai 2024 stattfinden. Ein jetziger Sieg der SNS in diesen Städten, verbunden mit einem wahrscheinlichen Sieg der Regierungspartei auf nationaler Ebene, würde die Opposition für die folgenden Wahlen stark schwächen.
Wer tritt wie an?
Insgesamt können die knapp 6,5 Millionen registrierten Wählerinnen und Wähler zwischen 18 Wahlbündnissen wählen. Für die Zulassung zu den Wahlen mussten Listen mit mindestens 10.000 Unterschriften bei der zentralen Wahlkommission eingereicht werden. Anerkannte Minderheiten, von denen es in Serbien insgesamt 23 gibt, fallen unter eine Ausnahmeregelung. Sie müssen nur 5.000 Unterschriften einreichen und fallen nicht unter die geltende Drei-Prozent-Hürde. Bei den vergangenen Parlamentswahlen in Serbien variierte die Wahlbeteiligung zwischen 53 und 61 Prozent, was auch beim nächsten Wahlgang zu erwarten ist. Ein Novum bei den Wahlen wird sein, dass im Ausland lebende serbische Staatsbürger an insgesamt 81 Wahlstationen in 35 Ländern ihre Stimme abgeben können. Allein in Bosnien und Herzegowina werden serbische Staatsangehörige in 19 Wahllokalen abstimmen können. In Deutschland und Österreich werden die Auslandsserben an 6 bzw. 5 Orten an die Wahlurnen gehen können.
Die Wahllisten und ihre politischen Profile
Die 18 registrierten Wahllisten zeichnen sich durch eine große Heterogenität aus. Sie setzen sich in der Regel aus mehreren Parteien zusammen, um verschiedene Wählerschichten anzusprechen.
Staatspräsident Aleksandar Vučić ist trotz seines Rücktritts vom Parteivorsitz der SNS im Wahlkampf sehr präsent. Die gesamte Kampagne ist wieder auf ihn ausgerichtet. Grund dafür ist, dass Aleksandar Vučić deutlich beliebter als seine Partei ist. Die Liste, die vom Parteivorsitzenden und Vučić-Vertrauten Miloš Vučević angeführt wird, hat mehrere andere Parteien inkorporiert. So tritt der bisherige Leiter des Inlandsgeheimdienstes BIA, der im Juli dieses Jahres von den USA mit Sanktionen belegt wurde und der Anfang November seinen Rücktritt eingereicht hatte, mit seiner Bewegung der Sozialisten auch auf der SNS-Liste an. Des Weiteren tritt Rasim Ljajić, einer der Anführer der bosniakischen Gemeinschaft Serbiens, mit seiner Partei auf der Liste der SNS an. Während des Wahlkampfs unterstreicht die SNS die Notwendigkeit von Stabilität, Sicherheit und wirtschaftlicher Entwicklung. Ähnlich wie bei anderen Wahlkämpfen stehen einzelne Wählergruppen besonders im Fokus. So erhielten Rentner einmalig umgerechnet ca. 170 Euro Unterstützung. Darüber hinaus wurde eine Rentenerhöhung ab Januar 2024 beschlossen. Mütter von unter 16-jährigen Kindern erhielten einmalig ca. 85 Euro. Auch Studenten wurden geringfügig unterstützt.
An zweiter Stelle tritt der derzeitige Außenminister und Vize-Premier Ivica Dačić mit seiner Sozialistischen Partei an. Der sehr erfahrene Politiker wird versuchen, seinen Stimmenanteil zu erhöhen, indem die Partei an die Nostalgie für den Sozialismus appelliert und patriotische und pro-russische Botschaften verstärkt. Aufsehen erregte der Name der Liste von „Ivica Dačić – Serbiens Premier“, mit der er einen klaren Anspruch auf den zukünftigen Premierministerposten erhebt. Auffällig ist, dass im Wahlkampf vor allem die SNS die Partei von Ivica Dačić attackiert.
Die Wahlliste "Serbien gegen Gewalt" ist ein Bündnis aus liberalen, linken und Mitte-Rechts-Parteien, die sich an der Organisation der Proteste „Srbija protiv nasilja“ nach den beiden Massenschießereien im Mai beteiligt haben. Die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (SSP) und die Grün-Linke Front (ZLF) sind die stärksten Parteien innerhalb des Wahlbündnisses, gefolgt vom Umweltaufstand (EU) und der Volksbewegung Serbiens (NPS). Sie konzentrieren sich auf Themen wie Korruption, Inflation, niedrige Einkommen, Medienfreiheit, Umwelt und eine engere Zusammenarbeit mit der EU und dem Westen. Diese Liste wird oft als „pro-europäisch“ bezeichnet, weil sie eine Gegnerschaft gegen Aleksandar Vučić und ein Einsetzen für eine schnellere EU-Integration eint.
Die Liste „Nacionalno okupljanje - državotvorna snaga“ ist eine Koalition aus zwei nationalistisch-populistischen Oppositionsparteien, Zavetnici und Dveri, die ihren Wahlkampf primär auf die Ablehnung des europäischen Plans zur Normalisierung zum Kosovo, der EU-Integration und der Sanktionen gegen Russland ausgerichtet haben. Die Liste „Koalition der Hoffnung“ ist eine weitere nationalistische Kraft, die sich aus der Neuen Demokratischen Partei Serbiens (NDSS) und der Bewegung für die Wiederherstellung des Königreichs Serbien (POKS) zusammensetzt. Diese Koalition ist weniger euroskeptisch, weniger populistisch und eher bereit, mit liberalen und linken Parteien gegen die Regierungskoalition zu kooperieren. Versuche, alle diese rechten Kräfte zu einen, sind an den Partikularinteressen Einzelner gescheitert.
Umfragen zufolge werden es andere Wahllisten schwer haben, die Drei-Prozent-Hürde zu überwinden. Unter den Minderheiten ist die Allianz der Vojvodina-Ungarn (SVM) traditionell die stärkste Partei. Die bosniakischen und albanischen Minderheitenparteien sind in verschiedene kleinere Parteien gespalten.
Mögliche Koalitionen und Folgen
Laut Umfragen ist zu erwarten, dass die SNS auch bei diesen Parlamentswahlen am besten abschneiden wird. In diesem Zusammenhang wird von Bedeutung sein, wie erfolgreich die SPS unter Ivica Dačić sein wird und ob er den Posten des Premierministers für sich einfordern kann. Die Fortsetzung der Koalition mit der SPS und einiger Minderheitenparteien wäre für die SNS sicher die naheliegendste Lösung, sofern es gelingen wird, sich auf die Verteilung der politischen Zuständigkeiten zu einigen.
Rechnerisch könnte die Opposition eine Koalition aus nationalistischen und liberalen Oppositionsparteien bilden, um die SNS zu stürzen. Dieses Szenario ist jedoch wegen der gravierenden inhaltlichen Differenzen unter den Akteuren unwahrscheinlich. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass sich die SNS mit den nationalistischen Oppositionsparteien verbündet, insbesondere mit Dveri und Zavetnici. Dieses Szenario würde dann greifen, wenn die SNS und SPS keine Mehrheit haben und/oder sich ihre Beziehungen so stark verschlechtern würden, dass die SNS einen anderen Partner suchen müsste. Allerdings müssten entweder diese nationalistisch-populistische Parteien ihren Euroskeptizismus spürbar verringern oder die SNS müsste sich von ihrer Außenpolitik gegenüber dem Westen abwenden, was zur Isolation Serbiens führen würde. Dieses Szenario erscheint vor dem jetzigen Ausgangspunkt unwahrscheinlich.
Eine "große Koalition" zwischen der SNS und der liberalen pro-europäischen Opposition ist momentan unwahrscheinlich. Über diese Option wurde bereits im Nachgang der letzten Parlamentswahlen spekuliert. Allerdings scheiterten die Gespräche an den diametral unterschiedlichen Positionen zwischen Aleksandar Vučić und Dragan Đilas, dem wichtigsten Strippenzieher in der pro-europäischen liberalen Opposition. Diese Koalition wäre für den Fall einer Lage von nationaler Tragweite aber wiederum durchaus realistisch. Ein Bedarf nach grundlegender Änderung der serbischen Kosovo-Politik wäre ein solcher Fall. Allerdings würden beide Seiten an Unterstützung in ihrer Anhängerschaft verlieren.
In Belgrad haben die liberalen, pro-europäischen Oppositionsparteien die Gelegenheit, zusammen mit den nationalistischen Oppositionsparteien einen Wahlsieg zu erringen. Dies würde eine Form der Kohabitation zwischen den politischen Kräften auf Ebene der Hauptstadt und gesamtstaatlicher Ebene schaffen. Ähnliche Konstellationen findet man in Ungarn oder in der Türkei. Diese Koalition auf Belgrader Ebene zwischen den pro-europäischen liberalen und den nationalistischen Oppositionsparteien wäre höchstwahrscheinlich von permanenter Instabilität geprägt. Beide Blöcke haben grundlegend unterschiedliche Positionen zu den meisten Themen, insbesondere zum Kosovo und anderen außenpolitischen Fragen.
Auf nationaler Ebene wird die neue Regierung immensen Herausforderungen begegnen müssen. Im Normalisierungsprozess mit dem Kosovo wird der Westen weiterhin auf der rechtsstaatlichen Aufarbeitung der Banjska Vorfälle und der Umsetzung der bereits getroffenen Vereinbarungen beharren. Man wird versuchen, noch vor den Europawahlen im Sommer 2024 und den Präsidentschaftswahlen in den USA im Herbst nächsten Jahres konkrete Fortschritte zu erzielen. Dafür werden Zugeständnisse sowohl des Kosovo als auch von Serbien notwendig sein.
Des Weiteren steht seit diesem Jahr fest, dass Serbien die kleine EXPO-Weltausstellung im Jahr 2027 ausrichten wird. Das ist ein großer Erfolg für den Staatspräsidenten und die Regierung von Premierministerin Ana Brnabić und eine große Chance für das Land. Es ist geplant, dass insgesamt 12 Milliarden Euro in die dafür notwendigen Infrastrukturprojekte in Belgrad investiert werden. Zudem warten die Belgrader seit Jahren auf die neue Metro und ein neues nationales Fußballstadion.
Drittens bleibt die Frage nach dem zunächst geplanten und dann gestoppten Lithium-Abbau in Serbien weiterhin offen. Serbien verfügt über ca. 1,3 % der weltweiten Vorkommen an Lithium im Wert von 4 Milliarden Euro. Der Abbau und die Verarbeitung dieses wichtigen Rohstoffes in Serbien könnten einen Wendepunkt für die serbische Wirtschaft darstellen. Serbien könnte ebenso seine Rolle mit Blick auf die EU erheblich verbessern, indem Belgrad zur Diversifizierung der Lieferketten für europäische Unternehmen signifikant beitragen könnte.Bereitgestellt von
Auslandsbüro Serbien / Montenegro
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