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Soziallehren der Kirchen

Ihre Bedeutung für das Konzept der Christlichen Demokratie

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von Ulrich H.J. Körtner

 

Christentum und Demokratie

Fragt man nach der Bedeutung kirchlicher Soziallehren für das Konzept einer christlichen Demokratie, begibt man sich auf das Feld der politischen Ethik beziehungsweise einer Ethik des Politischen. Politikwissenschaftlich wird heute im Anschluss an den englischen Sprachgebrauch zwischen verschiedenen Bedeutungen von „Politik“ unterschieden. „Polity“ bezeichnet die institutionelle rechtliche Ordnung, „policy“ die politischen Ziele und Inhalte, „politics“ die politische Entscheidungsfindung.

Die heutige Sozialphilosophie unterscheidet nochmals zwischen der Politik und dem Politischen. Für diese Unterscheidung hat sich der Begriff der politischen Differenz eingebürgert.  Während der Begriff der Politik für die institutionelle Ordnung und die staatliche Verwaltung des Gemeinwesens steht, bezieht sich der Begriff des Politischen auf das Wesen des Politischen und die politische Dimension des Sozialen. Das Politische ist deshalb ein Grundzug menschlicher Sozialität, weil sie sich nicht naturwüchsig organisiert, sondern das Ergebnis bewusster Gestaltungsprozesse ist, die durch Momente des Widerstreits unterschiedlicher Interessen, von Macht und Aushandlungsprozessen gekennzeichnet sind. Während Politik im engeren Sinne des Wortes als Teilsystem der modernen Gesellschaft neben Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und weiteren Subsystemen gilt, ist das Politische im weiteren Sinne des Wortes nicht auf das System der Politik beschränkt.

Die moderne Demokratie ist eine säkulare Regierungsform. Auch Verfassungen mit einem Gottesbezug wie das deutsche Grundgesetz begründen den demokratischen Staat nicht als göttliche Anordnung, sondern als eine Institution, die auf dem Willen ihrer Bürger beruht. Mag der freiheitliche, säkularisierte Staat gemäß dem berühmten Böckenförde-Theorem auch von moralischen Voraussetzungen leben, die er selbst nicht garantieren kann, so sind doch die Sphäre des Politischen und des Religiösen in ihm klar zu unterscheiden.

Das Konzept einer christlichen Demokratie sieht eine wesentliche Voraussetzung staatlichen Handelns im Christentum, in seinen Soziallehren und seinem Menschenbild, auf das sich namentlich die CDU Deutschlands in ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2024 beruft. Dort heißt es: „Grundlage christdemokratischer Politik ist das christliche Verständnis vom Menschen. Im Zentrum steht die unantastbare Würde des Menschen in jeder Phase seiner Entwicklung. Jeder Mensch ist als von Gott geschaffenes Wesen einzigartig, unverfügbar und soll frei und selbstbestimmt leben. Dieses Menschenbild leitet unser politisches Handeln.“ Gleichzeitig weiß sich die CDU aber auch dem Erbe der europäischen Aufklärung verpflichtet „und steht allen Menschen offen, die – unabhängig von der eigenen religiösen Überzeugung – ihre Grundwerte teilen.“

Die Kirchen bejahen die Regierungsform der Demokratie und ganz konkret den freiheitlich-demokratischen Staat des deutschen Grundgesetzes. Dies schließt die demokratischen Parteien ein, die für die politische Meinungs- und Willensbildung eine wesentliche Verantwortung tragen. Christen können und sollen sich in ihnen als verantwortungsvolle Bürger engagieren. Mag die weltanschauliche Nähe mancher Parteien zu den Kirchen größer als in anderen Fällen sein, so ist doch aus christlicher Sicht die Pluralität des demokratischen Parteienspektrums grundsätzlich zu bejahen. Christen können in unterschiedlichen Parteien aktiv werden, auch in solchen, die sich nicht ausdrücklich auf christlicher Grundüberzeugungen und Werte berufen. Parteien, die sich als christlich-demokratisch verstehen, definieren ihren Bezug zum Christentum eigenständig und unabhängig von den Kirchen, auch wenn sie das Gespräch mit ihnen pflegen. Christlich-demokratische Parteien sind keine kirchlichen Parteien oder der verlängerte Arm der Kirchen, und die Kirchen müssen auch das Gespräch mit den übrigen Parteien führen. Die Frage nach der Christlichkeit einer Partei oder ihrer Politik ist im weltanschaulich neutralen Staat nicht allein von den Kirchen zu beantworten, sondern gehört in den politischen Raum, wo sie immer neu und unter Umständen auch kontrovers zu diskutieren ist. Auch ist die Bejahung der Demokratie, einer freiheitlichen Rechtsordnung und der Einsatz für ihre Verteidigung durch die Kirchen nicht damit zu begründen, dass es sich um eine christliche Staatsform handelt, auch nicht mit dem Hinweis auf demokratische Strukturen in der presbyterial-synodalen Verfassung evangelischer Kirchen und der Idee des Priestertums aller Gläubigen. Es gibt aber Konvergenzen zwischen moderner Demokratie und Menschenrechten auf der einen und dem christlichen Glauben und dem Evangelium auf der anderen Seite. Als Lebensform ist die Demokratie eingebettet „in eine politische Kultur, in der die Bürgerinnen und Bürger sich gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen und achten. […] Eine solche politische Kultur ist“, wie es in einem Impulspapier der Evangelischen Kirche in Deutschland heißt, „nicht selbstverständlich gegeben, sie muss immer wieder neu errungen und verteidigt werden. In diesem Auftrag erkennen Christinnen und Christen ihre eigene, im befreienden Evangelium von Jesus Christus verankerte Berufung wieder.“

Zuschnitt eines Porträts von Ernst Troeltsch, in: Walther Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941 (Mohr Siebeck Verlag).

Soziallehren und Sozialethik

Eine Ethik des Politischen ist ein Teilgebiet der Sozialethik. Eine Sozialethik im strengen Wortsinn sucht man im Neuen Testament vergebens. Gleichwohl werden in ihm auch solche Fragen verhandelt, die wir heute der Sozialethik zuordnen. Wie das geschöpfliche Leben, so wird im Neuen Testament auch Leben aus Glauben oder, wie es bei Paulus heißt, das neue Sein in Christus samt seinen sozialen Bezügen thematisch. Aussagen zu Ehe und Familie, Arbeit und Ökonomie, zur gesellschaftlichen Ordnung und zum Staat legen das Gewicht in der Regel jedoch auf die individualethische oder personalethische Dimension, also auf Fragen des Selbstverhältnisses und Ich-Du-Beziehungen. Die sozialethische Dimension umfasst jedoch die Phänomene und Formatierungen des vergemeinschafteten Handelns, das zur Ausbildung von sozialen Strukturen, Institutionen und Organisationen führt.

Sozialethik im modernen Sinne ist erst im Zusammenhang mit Herausforderungen, sozialen Konflikten und der Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Perspektive auf menschliches Handeln im 19. und 20. Jahrhundert entstanden. Eine wesentliche Voraussetzung moderner Sozialethik, auf die Ernst Troeltsch in seinem monumentalen Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen hingewiesen hat, ist die moderne Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft als Inbegriff ökonomisch-arbeitsteiliger Strukturen. Die „moderne Trennung des politischen und des gesellschaftlichen Gedankens“ wurde ihrerseits nur möglich, „weil man die bis dahin beiden übergeordnete Kirche beiseite drängte und ignorieren lernte“.

Zu den Ausdifferenzierungen der Gesellschaft wie auch des Moralischen gehört schließlich die Unterscheidung zwischen Soziallehren und Sozialethik. Während unter Moral ein Ensemble von Normen und Werten zu verstehen ist, die in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft in Geltung stehen, handelt es sich bei der Ethik um die Theorie der Moral. Sie fragt, wie moralische Normen und Werte zu begründen sind und wie es auf konkreten Handlungsfeldern zu begründbaren moralischen Entscheidungen kommt. Ethik tritt auf den Plan, wenn und insofern sich Moral nicht von selbst versteht. Moralische Normen und Werte sind nicht nur auf der individualethischen Ebene zu betrachten, sondern auch Gegenstand einer reflexiv-kritischen Sozialethik.

Bei Soziallehren denkt man im christlichen Bereich zumeist an diejenigen der römisch-katholischen Kirche, wie sie sich insbesondere seit der berühmten Enzyklika Rerum novarum Leos XIII. (1891) bis zu den Sozialenzykliken von Papst Franziskus entwickelt hat. Eine lehramtlich verkündigte Soziallehre kennen die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen nicht, gleichwohl vertreten auch sie Soziallehren auf biblischer und reformatorischer Grundlage. In gesellschaftlichen und politischen Debatten melden sie sich regelmäßig mit Denkschriften, Orientierungshilfen oder auch aktuellen Stellungnahmen zu Wort, die man im weitesten Sinne des Wortes als Erscheinungsformen einer Öffentlichen Theologie verstehen kann.

Historisch betrachtet besteht eine besondere Affinität der CDU zur katholischen Soziallehre. Bezeichnenderweise gibt es wohl eigens einen Evangelischen Arbeitskreis, aber keinen Katholischen Arbeitskreis als Teilorganisation. Dennoch sollte aber der Einfluss der protestantischen Tradition nicht unterschätzt werden. Namhafte evangelische Christen wie Franz Böhm (1895–1977) und Walter Eucken (1891–1950), beide Mitglieder der Bekennenden Kirche während der NS-Zeit, gehörten zur „Freiburger Schule“ und waren somit Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Auch trug das Ludwigshafener Programm der CDU insofern eine protestantische Handschrift, als vier der sieben Mitglieder der Kommission, die das Programm erarbeiteten, evangelisch waren. Geleitet wurde die Kommission von dem Protestanten Richard von Weizsäcker, der den Begriff der „verantworteten Freiheit“ einbrachte, der, wie noch gezeigt werden soll, ein erkennbar evangelisches Profil hat.

 

Grundlinien katholischer und evangelischer Soziallehren

Die römisch-katholische Soziallehre, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt worden ist, beruht auf bestimmten sozialphilosophischen, naturrechtlich begründeten Grundannahmen. Sie ist letztlich Sozialphilosophie, nicht etwa Sozialtheologie, weil sie auf der thomistischen Unterscheidung von Natur und Gnade und einer aristotelischen Metaphysik aufbaut. Metaphysisch werden Wesensaussagen über die Natur des Menschen und seine Gemeinschaftsbeziehungen gemacht, denen zeitlose Strukturen zugrunde liegen sollen. Bei ihnen handelt es sich um ontologische Annahmen, das heißt um Prinzipien des Seins, die zugleich als solche des Sollens gedacht werden.

Die thomistische Naturrechts- und Tugendlehre ist nach Lehre der Päpste auch das Prinzip der modernen Soziallehre. Demnach ist der Mensch ein ens individuale et sociale. Und ferner gilt der Grundsatz: agere sequitur esse. Das heißt, aus der Erkenntnis der Wesensnatur folgt eine bestimmte Ethik, die sich am Grundwert der Personwürde sowie an den Kardinaltugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, des Maßhaltens und der Klugheit orientiert. Das Naturrecht gilt universal, weshalb die katholische Soziallehre den Anspruch erhebt, nicht etwa nur eine binnenkirchliche Moral, sondern eine universale Ethik zu vertreten.

Die moderne katholische Soziallehre fußt klassisch auf drei Prinzipien, nämlich dem Personprinzip, dem Solidaritätsprinzip und dem Subsidiaritätsprinzip. Neuerdings plädieren einige katholische Moraltheologen dafür, die Prinzipien katholischer Soziallehre um das Retinitätsprinzip zu erweitern. Der Begriff leitet sich vom lateinischen rete (dt. Netz) ab und bezeichnet die Verwobenheit des Menschen mit allem Lebendigen. Insofern kann man sagen, dass zu einer zeitgemäßen christlichen Soziallehre auch eine Schöpfungsethik gehört.

Legt die katholische Tradition ein besonderes Gewicht auf den Gedanken der Gerechtigkeit – wobei zwischen der austeilenden Gerechtigkeit (iustititia distributiva), der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) und der Regelgerechtigkeit (iustituta legalis), die auch als Gemeinwohlgerechtigkeit verstanden wird, zu unterscheiden ist –, so hat die Reformation das Evangelium von Jesus Christus auf neue Weise als Evangelium der Freiheit wiederentdeckt.

Die Pointe von Luthers Freiheitsverständnis liegt freilich darin, dass der Mensch nicht etwa zu sich selbst, sondern von sich selbst befreit werden muss. Nicht in kirchlichen oder politischen Freiheitsforderungen, sondern in der Rechtfertigungslehre liegt das Zentrum der Freiheitslehre Luthers. Die Freiheit des Glaubens beschränkt sich freilich nicht auf die Innerlichkeit des Menschen, sondern zielt auch auf die Gestaltung der Welt und des Alltags. Man kann die Freiheit im reformatorischen Sinne als kommunikative Freiheit interpretieren, wie es der evangelische Theologe Wolfgang Huber tut. Weil der Mensch nur durch die Liebe im anderen zu sich selbst kommen kann, gehören nicht nur Freiheit und Liebe (Gottes- und Nächstenlieben) sowie Freiheit und Verantwortung, sondern auch Freiheit und Gerechtigkeit unlöslich zusammen. Kommunikative Freiheit zielt nicht auf Konkurrenz, sondern auf Teilhabe und Anerkennung aller. Huber legt daher den Begriff der Gerechtigkeit als Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit aus, die mit einer vorrangigen Option für die Armen verbunden ist.

Gegenstand der Sozialethik sind Formen des vergesellschafteten Handelns, d.h. eines solchen Handelns, das nicht etwa spontan von einer Gruppe von Menschen durchgeführt wird, sondern in einer verstetigten und organisierten Weise stattfindet und überhaupt nur in solcher Form stattfinden kann. Kurz: Gegenstand der Sozialethik sind Institutionen und Organisationen vergesellschafteten Handelns und menschlicher Lebensführung. Bedenkt man in reformatorischer Tradition den Zusammenhang von Rechtfertigung und Freiheit, lautet eine Kernfrage evangelischer Sozialethik, welche Institutionen kommunikative Freiheit ermöglichen und fördern oder aber verhindern und zugleich –im Sinne ihrer Selbstbegrenzung – die Unverfügbarkeit des Menschen und seiner Würde achten, für die der biblische Begriff der Gottebenbildlichkeit steht.

Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis ist grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik zu verstehen. Freiheit, Liebe und Verantwortung sind ihre Grundbegriffe. Wenn Richard von Weizsäcker von „verantworteter Freiheit und Solidarität“ spricht, entspricht dies einem evangelischen Verständnis von Verantwortungsethik, dessen Grundelemente in der CDU auch in den Ausführungen zu Freiheit und Verantwortung im Ludwigshafener Grundsatzprogramm (1978) und im Grundsatzprogramm „Freiheit in Verantwortung“ aus dem Jahr 1994 ihren Niederschlag gefunden haben.

Richard von Weizsäcker am Rednerpult während des 21. Evangelischer Kirchentags am 31. März 1983 in Düsseldorf. KAS / Guenay Ulutuncok
Richard von Weizsäcker am Rednerpult während des 21. Evangelischer Kirchentags am 31. März 1983 in Düsseldorf.

Ökumenische Soziallehre: Pluralität, Konsens und Konflikt

Wie es freilich nicht die eine Soziallehre der christlichen Kirchen gibt, so auch nicht das eine christliche Menschenbild, auf das man sich in christdemokratischen Parteien gern summarisch beruft. Es gibt ein solches Menschenbild nur in einer konfessionellen Pluralität, wie sich auch innerhalb der Kirchen heutzutage eine größere religiöse und ethische Pluralität als in vergangenen Epochen beobachten lässt. Daher besteht das Desiderat einer ökumenischen Sozialethik.

Ansätze einer ökumenischen Soziallehre resultieren aus der Geschichte der ökumenischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Für Europa ist nicht nur auf etliche bikonfessionelle Stellungnahmen zu sozialethischen Fragen, z.B. gemeinsame Texte von der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, sondern auch auf die Dokumente der Europäischen Ökumenischen Versammlungen in Basel (1989), Graz (1997) und Sibiu (2007) zu verweisen. 2001 wurde von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und dem Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) die „Charta Oecumenica“ unterzeichnet. Für wie unzureichend man dieses Dokument in manchen Punkten auch halten mag, es formuliert immerhin die Selbstverpflichtung, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“ (Charta Oecumenica, Abschnitt 4) und „bei Kontroversen, besonders wenn bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangeliums zu erörtern“ (Abschnitt 6). Eigens erwähnt sei auch das Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich aus dem Jahr 2003, dessen Bedeutung unter anderem darin liegt, dass hier erstmals eine ökumenische Stellungnahme zu sozialen Fragen veröffentlicht wurde, die nicht nur von der römisch-katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen, sondern auch von allen in Österreich vertretenen orthodoxen Kirchen mitgetragen wird.

Ökumenische Übereinstimmungen, wie sie beispielsweise noch vor einigen Jahrzehnten in bio- und medizinethischen Fragen am Lebensanfang und am Lebensende bestanden, haben in jüngerer Zeit allerdings abgenommen. Das zeigen die Kontroversen um den assistierten Suizid und die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland. Die Denkfigur des differenzierten Konsenses, die in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von evangelischer und katholischer Kirche aus dem Jahr 1999 bemüht wird, stößt offensichtlich auf ethischem Gebiet an Grenzen. Ein deutliches Signal gibt dafür ein gemeinsames Dokument der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) und der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Titel Gott und die Würde des Menschen aus dem Jahr 2017. Es betont einerseits den nach wie vor bestehenden Konsens in anthropologischen Grundüberzeugungen, spricht aber, wenn es um die auf dem Gebiet der Bioethik offen zu Tage liegenden Differenzen geht, von einem „begrenzten Dissens“.

Man sollte sich freilich davor hüten, die ökumenische Geschlossenheit zurückliegender Jahrzehnte zu idealisieren. Gemeinsame bioethische Voten der Kirchen konnten den Blick auf den innerprotestantischen Pluralismus trüben, der schon in der Vergangenheit bestand. Auch darf der unter katholischen Ethikern und Ethikerinnen bestehende Pluralismus in den strittigen Fragen nicht ignoriert werden. Mögliche Unterschiede zwischen evangelischer, katholischer und orthodoxer Ethik betreffen nicht nur die fundamentalethische oder die materialethische Ebene – etwa unterschiedliche Sichtweisen zum Naturrechtsdenken –, sondern auch das methodische Verfahren der ethischen Urteilsbildung. Was katholische und evangelische Ethik unterscheidet, ist die unterschiedliche Diskurskultur, die auf zum Teil erhebliche Differenzen im Kirchen- und Amtsverständnis sowie die Rolle des kirchlichen Lehramtes in der katholischen Kirche und für die katholische Universitätstheologie hinweisen.

Statt die Gräben zu vertiefen oder sich in eine splendid isolation zurückzuziehen, braucht es Initiativen, um das ökumenische Gespräch, das teilweise ins Stocken geraten ist, neu zu beleben. Statt fortschreitender Konvergenzen sind in jüngerer Zeit nach wie vor bestehende Differenzen zwischen den Kirchen wieder stärker zum Vorschein gekommen. Eine darauf reagierende „Ökumene der Profile“ (Wolfgang Huber) oder eine „Differenzökumene“ (Ulrich Körtner) ist jedoch nicht mit einer Ökumene der Zentrifugalkräfte zu verwechseln, die dem Bedeutungsverlust von Kirche und Theologie nur weiter Vorschub leisten würde. Das Konzept einer gegenwartstauglichen und zukunftsfähigen christlichen Demokratie muss in hohem Maße an Konzepten einer ökumenischen Ethik interessiert sein, die bei aller Pluralität christlicher Überzeugungen das Verbindende zwischen den Kirchen und ihren Soziallehren neu zur Geltung bringt.

Zur Pluralität in der heutigen Gesellschaft gehört freilich auch, dass es zwischen christdemokratischen Parteien und den Kirchen zu Spannungen kommen kann, wie sie sich am Beispiel der Auseinandersetzungen um eine menschenrechts- und verfassungsgemäße Asyl- und Migrationspolitik zeigt. Während es auf bioethischem Gebiet an Geschlossenheit mangelt, positionieren sich die Kirchen in der Asylpolitik in gesinnungsethischer Eindeutigkeit, aber auch Einseitigkeit, verbunden mit unverhohlener Kritik an den politischen Vorschlägen der CDU/CSU. Manche christlichen Gruppierungen gehen in ihrer Kritik soweit, dass sie CDU und CSU ihre Christlichkeit absprechen.

Unverkennbar gibt es Indizien für eine gewisse Entfremdung zwischen den Kirchen und der CDU/CSU. Demokratiepolitisch wie sozialethisch hat die Verschiebung vom Konsens zum Konflikt aber durchaus positiven Seiten. Die aufbrechenden Spannungen machen auf neue Weise bewusst, dass es eben nicht die Kirchen sind, welche in der freiheitlichen Demokratie die Politik machen und zu verantworten haben, sondern politische Entscheidungsträger.

Zur Beteiligung am politischen Leben sind in einer rechtsstaatlichen Demokratie letztlich alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, auch jene, die sich bewusst als Christenmenschen verstehen. Eigenverantwortlich in Freiheit zu handeln, dabei auf das Gemeinwohl bedacht zu sein, ist gerade im Sinne der kirchlichen Soziallehren der Beitrag des Christentums auf dem Feld des Politischen. So kann auch der wechselseitige Einspruch von Kirchen und Parteien produktives Element eines Prozesses sein, in dem christliche Soziallehren weiterentwickelt werden. Nur in solch einem lebendigen Prozess, der nicht immer konfliktfrei verläuft, können sie auch in Zukunft ihre prägende Kraft für das Konzept einer christlichen Demokratie entfalten.

 

O. Univ.-Prof. Dr. DDr. h.c. Ulrich H.J. Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

 

Literatur

  • Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, in: Ökumenisches Forum. Grazer Jahrbuch für konkrete Ökumene 23/24 (2000/2001).
  • Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe 1912. Teilbd. I. UTB 1811. Tübingen 1994.
  • Ingeborg Gabriel/Alexandros K. Papaderos/Ulrich H.J. Körtner, Perspektiven Ökumenischer Sozialethik. Der Auftrag der Kirchen im größeren Europa, Ostfildern 22006.
  • Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, Hannover 2017.
  • Sozialwort des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich, Wien 2003.
  • Ulrich H.J. Körtner/Reiner Anselm/Christian Albrecht (Hg.), Konzepte und Räume Öffentlicher Theologie. Wissenschaft – Kirche – Diakonie (Öffentliche Theologie, Bd. 39), Leipzig 2020.
  • Ulrich H.J. Körtner, Differenzierter Konsens? Weshalb die Ökumene auch in der Bioethik an Grenzen stößt, 2024.
  • Wolfgang Huber, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 21985.
  • Wolfgang Huber, Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, München 2012.

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