Die Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 – ein Votum für die parlamentarische Demokratie
Mit den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 war die Entscheidung für die parlamentarische Demokratie und damit gegen eine Räteherrschaft in Deutschland gefallen. Zu dieser Entscheidung hatte Friedrich Ebert als Vorsitzender der SPD und Volksbeauftragter maßgeblich beigetragen.
Aus den Wahlen gingen die sozialistischen Parteien, bei denen in den Revolutionstagen die entscheidende politische Initiative gelegen hatte, als Verlierer hervor. MSPD und USPD erhielten zusammen 45,5 Prozent der abgegebenen Stimmen und verfehlten damit deutlich eine parlamentarische Mehrheit. Auch wenn die MSPD die erhoffte Mehrheit nicht erzielte, war sie mit einem Stimmenanteil von 37,9 Prozent und 165 Abgeordneten in der Nationalversammlung die bei weitem stärkste Fraktion und ergriff daher auch die Initiative zur Regierungsbildung. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die sogenannte Weimarer Koalition der MSPD mit dem katholischen Zentrum und der linksliberalen DDP. Zentrum und DDP hatten bei der Wahl von 19,7 bzw. 18,6 Prozent der Stimmen erhalten.
Neben der USPD und Vertretern von Splitterparteien gehörten die rechtskonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) mit 43 und die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) mit 22 Abgeordneten der Nationalversammlung an.
Breite parlamentarische Mehrheit für Friedrich Ebert als Reichspräsident
Die Nationalversammlung, die am 6. Februar von Ebert als dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten eröffnet worden war, erließ am 10. Februar das „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“, das den staatsrechtlichen Rahmen bis zur Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung bildete und unter Paragraf 7 festlegte: „Der Reichspräsident wird von der Nationalversammlung mit absoluter Stimmenmehrheit gewählt. Sein Amt dauert bis zum Amtsantritt des neuen Reichspräsidenten, der auf Grund der künftigen Reichsverfassung gewählt wird.“
Am 11. Februar 1919 wählte daraufhin die Nationalversammlung Friedrich Ebert zum (vorläufigen) Reichspräsidenten. Von den 379 abgegebenen Stimmen entfielen auf ihn 277, auf Graf Posadowsky von der DNVP 49, auf den Sozialdemokraten Scheidemann und den Zentrumspolitiker Erzberger je eine Stimme. Das Abstimmungsergebnis spiegelte nicht nur die Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung wider, sondern brachte auch das hohe Ansehen zum Ausdruck, das sich Ebert in den zurückliegenden Jahren bei den bürgerlichen Parteien erworben hatte.
Im Februar 1919 war Ebert nicht nur der unumstrittene Führer seiner Partei, sondern auch die herausragende politische Persönlichkeit im Deutschen Reich. Als Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten hatte er Entscheidendes dazu beigetragen, dass nach dem militärischen und staatlichen Zusammenbruch die soziale Krise überwunden und die innere Entwicklung in ruhigere Bahnen gelenkt werden konnte. So war es möglich, demokratische Wahlen zur Nationalversammlung abzuhalten und eine neue Verfassung auszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund ist Peter-Christian Witt zuzustimmen, der schreibt, dass Ebert die Freiheit der Wahl gehabt habe, welches Amt er übernehmen wollte.
Da von ihm selbst keine Zeugnisse zu den Motiven seiner Präsidentschaftskandidatur existieren, müssen an dieser Stelle Fragen unbeantwortet bleiben.
Es scheint aber sicher zu sein, dass Ebert mit der Übernahme des Präsidentenamtes durch ihn und damit durch einen Sozialdemokraten die Absicht verband, den verfassungspolitischen Wandel nach außen deutlich sichtbar werden zu lassen. Hierfür sprechen folgende Worte aus seiner Dankesrede nach der Wahl zum Reichspräsidenten am 11. Februar vor der Nationalversammlung: „Indem Sie das höchste Amt des deutschen Freistaates mir anvertrauten, haben Sie (…) den ungeheuren Wandel anerkannt, der sich in unserem Staatswesen vollzogen hat, und zugleich auch die gewaltige Bedeutung der Arbeiterklasse für die Aufgaben der Zukunft.“
Das Amtsverständnis des neuen Reichspräsidenten
Diese Dankesrede ist eine wichtige Quelle, die über das Ebert‘sche Amtsverständnis Auskunft gibt.
Die Rolle des Parteiführers abzustreifen, sich vom Parteipolitiker zu lösen und in das Amt des überparteilichen Staatsmannes hineinzuwachsen, ohne dabei seine Herkunft und seine parteiliche Bindung leugnen zu müssen, erklärte Ebert zur vornehmsten Aufgabe des Staatsoberhauptes. Die außerordentliche Bedeutung, die der Aspekt der Überparteilichkeit in seinem Amtsverständnis hatte, unterstrich er dadurch, dass er unmittelbar nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten sein Mandat in der Nationalversammlung niederlegte, was zu diesem Zeitpunkt – die Reichsverfassung, die in Artikel 44 die Unvereinbarkeit von Reichspräsidentschaft und Mitgliedschaft im Reichstag festlegte, wurde erst im Juli des Jahres beschlossen und das „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt“ sah eine solche Unvereinbarkeitsklausel nicht vor – nicht erforderlich gewesen wäre.
Darüber hinaus sah Ebert im Reichspräsidenten den Hüter bzw. Verteidiger der auf den Werten Recht und Freiheit gegründeten staatlichen Ordnung und den Wahrer der Einheit der Nation.
Wenn er im Zusammenhang mit der Rolle des Präsidenten als Hüter der Reichseinheit auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinwies und betonte, dass „niemand (…) in den Verband der Deutschen Republik gezwungen werden, aber (…) auch niemand mit Gewalt von ihr getrennt werden (soll), den es zu ihr zieht und drängt“, war damit sein bei der Eröffnung der Nationalversammlung geäußerter Wunsch verbunden, die großdeutsche Lösung, die in der Diskussion um den deutschen Nationalstaat im 19. Jahrhundert von so großer Bedeutung gewesen war, zu verwirklichen, denn „Deutsch-Österreich müsse mit dem Mutterland für alle Zeiten vereinigt werden“.
Wie ließen sich die hier skizzierten Vorstellungen Eberts hinsichtlich der Bedeutung und der Aufgabe des Reichspräsidenten in der verfassungspolitischen Übergangszeit, in der sich das Reich im Frühjahr 1919 befand, verwirklichen?
Der Reichspräsident als informativer Ratgeber
Mit dem Übergangsgesetz vom 4. März 1919 wurden dem Reichspräsidenten diejenigen Befugnisse, die dem früheren Staatsoberhaupt, dem Kaiser, nach der Bismarckschen Reichsverfassung zustanden, übertragen. Ein Ersatzkaiser wollte Ebert aber nicht sein, sondern ein „informativer Ratgeber“ (Peter-Christian Witt).
Grundvoraussetzung dafür, dass er diese Aufgabe ausfüllen konnte, war eine umfassende Information über alle Bereiche der Reichspolitik. Um dies zu gewährleisten, sah die Geschäftsordnung der Reichsregierung die laufende Unterrichtung des Reichspräsidenten „über die Politik des Reichskanzlers und die Geschäftsführung der einzelnen Reichsminister durch Übersendung der wesentlichen Unterlagen, durch schriftliche Berichte über Angelegenheiten von besonderer Bedeutung sowie nach Bedarf durch persönlichen Vortrag“ vor.
Wollte Ebert Ratschläge, die einer hinreichenden Sachkompetenz nicht entbehrten, geben, reichten diese Informationsquellen allein nicht aus. Ein Amt, das unmittelbar und ausschließlich dem Reichspräsidenten zur Verfügung stand, war erforderlich. Um dieses Amt, das die Bezeichnung „Büro des Reichspräsidenten“ tragen sollte, musste Ebert erst harte Auseinandersetzungen mit seiner Partei und Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann führen. Ihre ablehnende Haltung gegenüber einem solchen Amt wollte die SPD nicht verstanden wissen als Misstrauen gegen Ebert selbst, sondern es ging ihr darum, „der Gefahr einer Nebenregierung vor(zu)beugen, die in diesem besonderen Reichspräsidentenbüro begründet liegt, sobald dieses Amt einmal in die Hände anderer Parteien übergehe“. In dieser Stellungnahme wurde die Befürchtung der Sozialdemokraten deutlich, dass sich innerhalb der Exekutive ein politisches Machtzentrum entwickeln könnte, dass bewusst gegen die Reichsregierung instrumentalisiert und damit gegen das parlamentarische Regierungssystem der Weimarer Republik eingesetzt würde. Während der Amtszeit Eberts ist es zu einem solchen Gegeneinander zwischen Reichspräsident und Reichsregierung selbst in Ansätzen nicht gekommen, „weil er streng die verfassungsrechtlichen Bahnen einhielt und seinen Mitarbeitern keine Chance gab, an ihm vorbei Politik zu betreiben“ (Walter Mühlhausen).
Die Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Reichsverfassung
Über die Befugnisse des Reichspräsidenten kam es bei den Beratungen über den Entwurf einer Reichsverfassung in der Weimarer Nationalversammlung zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten. Das Ergebnis der Beratungen war ein „Amt, in dem der demokratische Führer und der Ersatzkaiser zusammenfielen“ (Waldemar Besson). Entsprechend der Mehrheitsmeinung in der verfassunggebenden Nationalversammlung wurde in der Verfassung bestimmt, dass der Reichspräsident durch unmittelbare Volkswahl legitimiert werden sollte, Wiederwahl war zulässig, Inkompatibilität bestand zum Reichstag. Auf Antrag des Reichstages konnte der Reichspräsident durch Volksabstimmung abgesetzt werden. Für den Beschluss des Reichstages war eine Zweidrittelmehrheit, in der Volksabstimmung die einfache Mehrheit notwendig.
Eine Reihe von Rechten des Reichspräsidenten gehörten in den herkömmlichen Bereich der Zuständigkeit eines Staatsoberhauptes. Hierzu zählten die völkerrechtliche Vertretung des Reiches, der Oberbefehl über die Wehrmacht, das Begnadigungsrecht sowie die Ernennung und Entlassung der Reichsbeamten. Bei dem zuletzt genannten Punkt besaß der Reichspräsident nicht nur ein formelles, sondern auch ein materielles Prüfungsrecht. So hatte Ebert 1921 den Kandidaten der Reichsregierung für die zu besetzende Stelle des Leiters der Zweigstelle Bayern des Reichsverkehrsministeriums mit der Begründung abgelehnt, dass er den Bewerber „als einen ausgesprochenen Partikularisten kennengelernt habe“, sodass sich die Reichsregierung veranlasst sah, den bisherigen Amtsinhaber zu ersuchen, im Amte zu verbleiben.
Von staatsrechtlich und politisch schwerwiegenderer Bedeutung als die hier geschilderten Befugnisse war das Recht des Reichspräsidenten auf Parlamentsauflösung, auf Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers sowie auf Erlass und Durchführung von Reichsexekutionen und Notverordnungen nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV).
Die Amtsführung Eberts ist vor dem Hintergrund dieses dem Reichspräsidenten zur Verfügung stehenden umfassenden Katalogs von Befugnissen zu sehen.
Friedrich Ebert und der Versailler Vertrag
In seinem ersten Pressegespräch nach der Wahl zum Reichspräsidenten bezeichnete Ebert die Ausarbeitung einer Reichsverfassung und die Sicherung des Friedens als die wesentlichen Aufgaben der Reichsregierung. Dabei hatte er klare Vorstellungen darüber, wie die friedensvertraglichen Regelungen zwischen dem Deutschen Reich und den Siegermächten aussehen sollten. Er warnte die Alliierten vor „Rache- und Vergewaltigungspläne(n)“, die deutscherseits den „schärfsten Protest“ herausfordern würden, denn „das deutsche Volk kann nicht auf 20, 40 oder 60 Jahre zum Lohnsklaven anderer Länder gemacht werden“. Für ihn war nur ein Friedensvertrag auf der Basis des 14-Punkte-Programms des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson annehmbar.
Alle Hoffnungen und Erwartungen, die Ebert an die Friedensvertragsverhandlungen in Versailles geknüpft hatte, zerplatzten am 7. Mai 1919 wie Seifenblasen. Die deutsche Delegation zur Friedenskonferenz, die unter der Führung von Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau stand, sah sich vollendeten Tatsachen gegenübergestellt. Ohne dass sie an den Verhandlungen beteiligt wurde, überreichten ihr die Siegermächte an diesem Tag das fertige Vertragswerk. Was dem deutschen Volk an Friedensbedingungen auferlegt und zugemutet werden sollte, übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Fast noch unerträglicher als die territorialen, wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen und die militärische Entwaffnung wirkten auf das deutsche Volk die moralische Diffamierung, der Versuch einer Auslieferung von sogenannten Kriegsverbrechern und das in Artikel 231 erzwungene Bekenntnis, Deutschland und seine Verbündeten seien schuld am Ausbruch des Krieges und infolgedessen auch für alle Schäden verantwortlich.
Der Reichspräsident musste lange mit sich selbst ringen, bevor er sich für die Annahme der Friedensbedingungen einsetzen konnte. Vorübergehend hatte er sogar an Rücktritt gedacht, da er bei einer Vertragsunterzeichnung wegen der territorialen Bestimmungen um die Reichseinheit fürchtete. Artikel 80 des Versailler Vertrages, der eine Vereinigung Deutsch-Österreichs mit dem Deutschen Reich von der Zustimmung des Völkerbundsrats abhängig machte, musste für Ebert, der nach seinem Amtsverständnis als Wahrer der Einheit der Nation wirken wollte, besonders bitter sein, denn „nach Lage der Dinge kam dieses Vetorecht des Völkerbundsrats einem absoluten Anschlussverbot gleich“ (Ernst Rudolf Huber).
Verantwortungsvolles und pflichtbewusstes Handeln eines Reichspräsidenten
Dass er dennoch im Amt blieb und dass er sogar für die bedingungslose Annahme des Versailler Vertragswerkes votierte, begründete Ebert mit seiner Verantwortung gegenüber dem Vaterland, denn „bei Ablehnung wäre nach dem, was uns über die Absichten der rachsüchtigen Gegner bekannt ist, mit Verschärfung der Aushungerung, wenn nicht mit voller Verwüstung Deutschlands, zu rechnen gewesen. Selbstzerfleischung und Verfall des Reiches wären sicher gefolgt, das aber durfte nicht sein. Unser Deutschland muss leben bleiben, auch nach dem Furchtbaren, was sich ereignet hat.“
Als die drei Erfordernisse für die Zeit nach der Vertragsunterzeichnung nannte Ebert Vertragserfüllung, Arbeit und Pflichttreue, denn „Deutschland muss lebensfähig bleiben! Ohne innere Ordnung keine Arbeit! Ohne Arbeit keine Vertragserfüllung! Ohne Vertragserfüllung keinen Frieden, sondern Wiederaufnahme des Krieges! Wenn wir nicht alle mithelfen, ist die Unterschrift unter dem Vertrag wertlos. Dann kann es keine Erleichterungen, keine Revisionen und kein schließliches Abtragen der ungeheuren Lasten geben“.
In diesen Worten wird eine Politik erkennbar, die in großen Teilen der damaligen deutschen Öffentlichkeit mit dem Schlagwort „Erfüllungspolitik“ abqualifiziert wurde. Kerngedanke dieser Politik war der Versuch, durch das Bemühen, den Bestimmungen des Versailler Vertrages und besonders den Reparationsforderungen entsprechend zu handeln, der Weltöffentlichkeit die Unerfüllbarkeit dieser Forderungen zu beweisen und auf diesem Wege ihre Revision einzuleiten.
Die Vertretung dieser politischen Linie machte Ebert fortan zu seiner außenpolitischen Hauptaufgabe als Reichspräsident.
Friedrich Ebert und die Regierungsbildung im Reich 1919–1925
Die Bildung von Reichsregierungen war während der Amtszeit Eberts von außerordentlicher Bedeutung: Insgesamt zwölf Reichsregierungen händigte er die Ernennungsurkunden aus und berief mit den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, Gustav Bauer und Hermann Müller, den Zentrumspolitikern Konstantin Fehrenbach, Joseph Wirth und Wilhelm Marx, dem DVP-Führer Gustav Stresemann sowie den Parteilosen Wilhelm Cuno und Hans Luther nicht weniger als neun Reichsministerpräsidenten bzw. –kanzler innerhalb von sechs Jahren.
Eberts Ziel war es, die junge Republik auf das Bündnis von Sozialdemokratie und den bürgerlichen Parteien der Mitte zu stützen, also auf die Kräfte, die die Republik geschaffen hatten und für sie vorbehaltlos eintraten. Ergebnis dieser Bemühungen war die Bildung der Weimarer Koalition (SPD – DDP – Zentrum), die bis zur Reichstagswahl von 1920 Bestand hatte.
Diese Wahl markiert einen „entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Weimarer Republik“ (Martin Vogt). Das Ergebnis der Wahl war eine Entscheidung gegen die Weimarer Koalition und damit eine Absage an die Parteien, die die Republik geschaffen hatten. Die Weimarer Koalition verlor ihre absolute Mehrheit. Ein Regierungsbündnis aus diesen Parteien, die vorbehaltlos auf dem Boden der Verfassung standen, sollte, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigte, fortan aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag nicht mehr möglich sein.
Nach der Reichstagswahl von 1920 trat Ebert immer wieder für die Bildung einer Großen Koalition ein, die das politische Spektrum von der SPD bis zur DVP abdecken sollte. Damit sollten vor allem die Folgen und Lasten des verlorenen Krieges auf eine Vielzahl von Schultern verteilt werden. Weil Ebert als Staatsoberhaupt auf die Funktionstüchtigkeit der Regierung bedacht sein musste, stand er allerdings vor dem Problem, dass die Schwierigkeiten, ein Kabinett mit parlamentarischer Mehrheit im Rücken zustande zu bringen, tendenziell zunahmen, denn bei den Parteien überlagerte zusehends das Parteiinteresse das Staatsinteresse.
Anwendung und Bedeutung des Artikels 48 der Weimarer Reichsverfassung während der Präsidentschaft Eberts
Während seiner gesamten Amtszeit hat Ebert das Recht auf Erlass von Verordnungen nach Artikel 48 WRV – sei es die Anordnung und Durchführung einer Reichsexekution gegen ein seine Reichspflichten verletzendes Land nach Absatz 1, sei es der Erlass von Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Reich nach Absatz 2 – verantwortungsvoll auszuüben versucht.
Er war stets bemüht, sich vor der Anwendung von Artikel 48 über die Notwendigkeit einer Maßnahme, über deren Art und Umfang im Detail zu informieren.
Anordnung und Durchführung von Reichsexekutionen
Von dem Recht, die Reichsexekution gegen ein Land durchzuführen, hat Ebert dreimal Gebrauch gemacht, und zwar im März 1920 gegen die noch nicht vereinigten thüringischen Länder, im April 1920 gegen Sachsen-Gotha und im Oktober 1923 gegen den Freistaat Sachsen. Die in diesem Zusammenhang getroffenen Maßnahmen bestanden in der militärischen Besetzung des Landes, der Absetzung der Regierung und deren Neubildung auf veränderter politischer Grundlage unter der Leitung eines Reichskommissars. Bei den Reichsexekutionen kam es zu einer „Kumulation von Reichsexekution und Diktaturgewalt“ (Ernst Rudolf Huber). Ebert erließ alle drei Verordnungen sowohl aufgrund von Absatz 1 als auch von Absatz 2 des Artikels 48, denn neben der Verletzung der Reichspflichten durch die jeweiligen Länder lag gleichzeitig eine Störung bzw. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor.
Die Reichsexekution gegen Sachsen und die Konsequenzen für die Reichspolitik und das Verhältnis Eberts zur SPD
Von größerer Bedeutung als die Exekutionen gegen die thüringischen Länder und Sachsen-Gotha, die erforderlich wurden, nachdem die dort unter der Führung linksradikaler Kräfte stehenden Landesregierungen zum Kampf gegen die Reichsregierung aufgerufen hatten, war das Vorgehen gegen Sachsen. Dieses hatte das Ausscheiden der SPD aus dem Reichskabinett Stresemann zur Folge.
Auch für Ebert selbst hatte diese Maßnahme Konsequenzen, denn sie führte zu einer tiefen Vertrauenskrise im Verhältnis zu seiner Partei. Aus den Reihen der SPD kam die Forderung nach sofortigem Parteiausschluss, man hielt ihm vor, dass ausgerechnet er, der sozialdemokratische Reichspräsident, Maßnahmen gegen eine sozialdemokratisch geführte Regierung ergriff. Dies wurde zum Anlass genommen, ihm verfassungswidriges Handeln zu unterstellen und ihm zur Last zu legen, zahlreiche „den Interessen des Proletariats widersprechende Verordnungen auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung“ erlassen zu haben.
Diese Vorwürfe waren nicht gerechtfertigt, denn zum einen konnte Ebert in seiner Funktion als Reichspräsident nicht als Parteipolitiker auftreten, sondern musste als Staatsmann handeln. Zum anderen gab es im Herbst 1923 keine Alternative mehr zur Reichsexekution, der eine lange, schwelende Krise im Verhältnis zwischen dem Reich und Sachsen vorausgegangen war. Bereits im Frühjahr und Sommer 1923 waren Zweifel hinsichtlich der Verfassungs- und Reichstreue der von dem Sozialdemokraten Erich Zeigner geführten sächsischen Landesregierung angebracht. Diese wurde von Vertretern des linken Flügels der SPD dominiert und erhielt von der KPD parlamentarische Unterstützung, als diese, die Hoheit des Reiches in Fragen der Außenpolitik missachtend, zum Abbruch des passiven Widerstandes gegen die Ruhrbesetzung aufrief sowie vorbehaltlose Verhandlungen mit den Alliierten forderte und damit die von allen politischen Kräften im Reich und in den Ländern getragene Einheitsfront im Ruhrkampf verließ. Mit dem Eintritt der Kommunisten in die sächsische Landesregierung spitzte sich der Konflikt mit dem Reich zu. Die Regierungsbeteiligung der KPD war Bestandteil einer Strategie, die die Kommunistische Internationale mit dem Ziel eines staatspolitischen Umsturzes in Deutschland entwickelt hatte. Als das kommunistische Regierungsmitglied Böttcher öffentlich dazu aufrief, „die kapitalistische Reichsregierung zu stürzen“, war für das Reichskabinett das Maß voll, es sah sich zum Handeln veranlasst. Ebert unternahm in dieser Situation den Versuch, eine Exekution gegen Sachsen noch abzuwenden. Er schlug deshalb der Reichsregierung vor, die sozialistisch-kommunistische Koalitionsregierung ultimativ zum Rücktritt aufzufordern. Eine entsprechende Aufforderung der Reichsregierung lehnte Ministerpräsident Zeigner ab, was eine Reichsexekution unvermeidlich machte.
Die Grenzen präsidentieller Macht
Nicht allein die Reichsexekution gegen Sachsen rief massive Kritik aus den Reihen der Sozialdemokraten an Ebert hervor, sondern auch die Tatsache, dass ähnliche Maßnahmen gegen Bayern nicht eingeleitet wurden. Dort war es zur selben Zeit ebenfalls zu erheblichen Pflichtverletzungen gegenüber dem Reich gekommen. Als Reichswehrminister Otto Geßler, dem mit der Verkündung des Ausnahmezustands für das gesamte Reich vom 26. September die Ausübung der vollziehenden Gewalt übertragen worden war, am 19. Oktober den Münchener Wehrkreiskommandeur, General Otto von Lossow, anwies den „Völkischen Beobachter“, das Presseorgan der NSDAP, wegen Verunglimpfung der Reichsregierung zu verbieten, verweigerte dieser offen den Gehorsam. Unterstützung hierfür erhielt er von dem von der bayerischen Regierung ernannten Generalstaatskommissar Gustav von Kahr, der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet worden war. Die offene Auflehnung war endgültig, als die bayerische Division der Reichswehr von ihrem Befehlshaber von Lossow entgegen dem Reichswehrgesetz auf die bayerische Landesregierung verpflichtet wurde. An dieser Stelle musste Ebert die Grenzen seiner präsidialen Macht erkennen. Zu einer Reichsexekution gegen Bayern fehlte ihm die politische Rückendeckung durch Reichskanzler Stresemann, der bei militärischen Maßnahmen einen Rechtsputsch befürchtete. Deshalb setzte Stresemann auf Verhandlungen und hoffte auf eine Beilegung des Konflikts mit Bayern nach der Lösung des sächsischen Problems. Außerdem konnte Ebert nicht auf die Reichswehr vertrauen. Als er am 3. November die Reichswehr gegen Bayern einsetzen wollte, lehnte der Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt, ab, da Reichswehr nicht gegen Reichswehr marschiere.
Das Notverordnungsrecht nach Artikel 48 WRV
Noch einschneidender als das Recht zur Anordnung und Durchführung einer Reichsexekution wirkte sich in der Amtszeit Eberts die Befugnis nach Artikel 48 Absatz 2 WRV aus, bei Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Maßnahmen zu deren Wiederherstellung zu treffen. In insgesamt 135 Fällen erließ Ebert auf dieser Grundlage Verordnungen.
Zunächst richteten sich diese nur gegen Unruhen und Aufstände, doch bald zeigte sich auch die Neigung, wirtschafts- und finanzpolitische Schwierigkeiten mit Hilfe des Artikels 48 anzugehen.
Wenn auch der Artikel 48 nicht mehr ausschließlich der Bekämpfung innerer Unruhen galt, sondern durch Anwendung auf dem Gebiet des Devisen-, Steuer- und Finanzwesens präventiv zu ihrer Abwendung eingesetzt wurde, lag – analysiert man die 135 Verordnungen Eberts eingehender – der Schwerpunkt noch eindeutig in seinem ursprünglichen Bereich. Hinzu kommt, dass das Parlament im Ganzen seine Funktion wahrnahm, obgleich sich seine Bereitschaft andeutete, sich zu Gunsten der Reichsregierung und des Reichspräsidenten zurückzuhalten. Vor allem aber war in Friedrich Ebert ein Präsident zur Stelle, an dessen Verfassungstreue kein Zweifel bestand. Von daher war durch ihn keine missbräuchliche Anwendung von Artikel 48 WRV zu befürchten. Vielmehr bemühte er sich, der Tendenz, den Artikel 48 zu einem dauerhaften Instrument der Regierungspolitik werden zu lassen, entgegenzuwirken. So lehnte es Ebert nach dem Sturz Stresemanns ab, den deutschnationalen Politiker Oscar Hergt mit der Regierungsbildung zu beauftragen, weil dieser unter anderem gefordert hatte, der neuen Reichsregierung den Artikel 48 zur Verfügung zu stellen.
Das Amt als Bürde
Mit zunehmender Dauer empfand Friedrich Ebert das Amt des Reichspräidenten als Bürde und er war fest entschlossen, sich nach Ablauf seiner Amtszeit im Jahre 1925 nicht zur Wiederwahl zu stellen. Die Wahl zum Reichspräsidenten war auf der Grundlage des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt erfolgt und hatte damit vorübergehenden Charakter. Die erste dreijährige provisorische Amtsperiode wurde am 24. Oktober 1922 auf Drängen der Reichsregierung Wirth und der Reichstagsfraktionen durch den Reichstag um weitere drei Jahre parlamentarisch verlängert, um das Reich angesichts seiner ernsten Lage nicht den demagogischen und polemischen Auseinandersetzungen eines Wahlkampfs auszusetzen. Im Frühjahr 1925 stand die erste Volkswahl des Reichspräsidenten an. „Wenn Sie jemanden sprechen“, bat Ebert den ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth, „sagen Sie allen, sie möchten mich meinem persönlichen Leben wiedergeben und mich nicht noch einmal als Kandidaten bei der kommenden Wahl aufstellen“.
Aus diesen Worten wird erkennbar, wie sehr Ebert unter der Präsidentschaft litt. Besonders schwer wog dabei das gestörte Verhältnis zu seiner Partei. Vor allem die Forderungen nach seinem Parteiausschluss, die nach der Reichsexekution gegen Sachsen laut wurden, müssen Ebert getroffen haben, denn auch nach der Übernahme des Präsidentenamtes hat er zu keinem Zeitpunkt geleugnet, ein Arbeitersohn zu sein. Der Arbeiterschaft und deren Interesse fühlte er sich verpflichtet, ohne dabei gegen das Gebot der Überparteilichkeit verstoßen zu müssen. Als im Herbst 1923 die materielle Lebensgrundlage der Lohn- und Gehaltsempfänger immer schmaler wurde, da die Löhne und Gehälter trotz oft täglicher Auszahlung in rasch beschafftem Notgeld hinter der Geldentwertung herhinkten, zeigte sich Ebert solidarisch und verzichtete als Reichspräsident auf die Hälfte seiner Aufwandsentschädigung.
Die Frage einer erneuten Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten stellte sich nicht mehr. Am 28. Februar 1925 verstarb Ebert unerwartet. Seine sechsjährige Amtszeit fiel zusammen mit den von Unruhen und Angriffen auf die Verfassung geprägten Anfangsjahren der Weimarer Republik. Durch diese Jahre „führte uns“, so beschrieb der langjährige Reichstagspräsident Paul Löbe die Amtszeit Eberts, „sein fester Wille, sein klares Urteil, seine zähe Energie, gepaart mit Zurückhaltung und Bescheidenheit“. In der Mitte der 1920er-Jahre hätte sich die junge Demokratie weiter stabilisieren und zu einer dauerhaften Einrichtung fortentwickeln können. Doch es kam anders. Bei der ersten Volkswahl des Reichspräsidenten entschieden sich die Deutschen nicht für den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, sondern wählten mit Paul von Hindenburg „einen Verfechter der Dolchstoßlüge, einen Militär, einen Antidemokraten und Antirepublikaner“ (Walter Mühlhausen) zum Nachfolger Eberts.
Literaturhinweise:
- Ulrich Scheuner: Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Ferdinand A. Hermens / Theodor Schieder (Hrsg.): Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, Berlin 1967, S. 249-286.
- Waldemar Besson: Friedrich Ebert. Verdienst und Grenze (= Persönlichkeit und Geschichte, Band 30), 2. Auflage Göttingen – Zürich – Frankfurt am Main 1970.
- Rudolf König / Hartmut Soell / Hermann Weber (Hrsg.): Friedrich Ebert und seine Zeit. Bilanz und Perspektiven der Forschung (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Band 1), 2. Auflage München 1991.
- Eberhard Kolb (Hrsg.): Friedrich Ebert als Reichspräsident. Amtsführung und Amtsverständnis (= Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Band 4), München 1997.
- Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006.
- Peter-Christian Witt: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident, 4. Auflage Bonn 2008.