Das Nonnenkloster in Neheim-Hüsten
Mit der Erarbeitung des Programms von Neheim-Hüsten trat Konrad Adenauer erstmals in die inhaltlich-konzeptionelle Arbeit der CDU in der britischen Zone ein. Es beruhte auf Gedanken, die er in seinem Haus in Rhöndorf zusammengetragenen hatte. Diese waren knapp und leicht zu erfassen, ohne Pathos und Lyrik, übersichtlich im Aufbau.
Vom 26. Februar bis 1. März 1946 trafen die Delegierten in Neheim-Hüsten zusammen. Unter welchen Strapazen damals der politische Neubeginn in Deutschland stattfand, zeigt diese Schilderung eines Zeitzeugen:
„Die Teilnehmer kamen aus allen Ländern der britisch besetzten Zone. Sie kamen mit Fahrrädern oder zu Fuß, sie waren manchmal tagelang auf offenen Kohlenzügen gefahren, oder sie hatten sich an Landstraßen aufgestellt und waren von mitleidigen Insassen britischer Militärautos auf kurze Strecken mitgenommen worden. Die meisten waren Männer älteren Jahrgangs, und wie sie da eintrafen, verschmutzt von der Reise, erschöpft und halb verhungert, boten sie wirklich ein Bild des deutschen Elends.
Adenauer, der Einberufer der Versammlung, hatte mit Vorbedacht das Nonnenkloster Neheim-Hüsten im westfälischen Sauerland als Tagungsort gewählt. Denn das Kloster besaß einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb, und Christine Teusch, die die Schwestern von früher her kannte, hatte ihre Gastfreundschaft und die selbstlose Fürsorge gerühmt, mit der sie sich während der Hitlerzeit der Insassen eines nahe gelegenen Konzentrationslagers angenommen hatten. Auch die christlichen Demokraten wurden gastfreundlich aufgenommen, und ich glaube, jeder hat den Aufenthalt in Neheim-Hüsten wie ein Wüstenwanderer die Rast in einer Oase empfunden. Die Schwestern hatten ihre Zellen für die Besucher geräumt, und die Beratungen fanden in dem großen Refektorium statt.
Es waren Menschen, verschieden durch Beruf, Herkunft und Gesinnung, die sich da zusammenfanden: frühere Zentrumsleute, christliche Gewerkschaftssekretäre, alte Demokraten mit liberalen Tendenzen und Leute, die, wie ich selber vor kurzem, an einen christlichen Sozialismus in Deutschland glaubten. Allen gemeinsam war nur der leidenschaftliche Wille, das Vaterland aus dem Chaos herauszuführen.“
(Schilderungen von Dr. Löns, persönlicher Mitarbeiter Adenauers und erster Parteisekretär der CDU, in: Paul Weymar: Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie, München 1955, S. 297f.)
Adenauer übernahm die Gesprächsführung und ließ „alle, die reden wollen, in Ruhe ihre Sache vorbringen […], bis er als letzter das Wort nimmt.“ (Hans-Peter Schwarz: Adenauer, Bd. 1: Der Aufstieg. 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 509). Erarbeitet und verabschiedet wurde das erste gemeinsame Programm der CDU in der britischen Zone.
Kernaussagen des Aufrufs
Dem Programm wurde ein „Aufruf“ vorangestellt, der – wie die beiden Gründungsaufrufe der CDU aus Berlin und Köln – das menschliche und wirtschaftliche „Trümmerfeld“ in Deutschland sowie die Frage nach geistiger Orientierung („Leitstern“) thematisierte. Für die CDU-Gründer war klar, dass die untergegangene Weltanschauung ein Irrlauf („Ungeist“) gewesen war. Die Verfasser des Programms appellierten an die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit, sie forderten aber auch „Mut zur geduldigen Arbeit“ und „Wiedergewinnung des Selbstvertrauens“, um aus eigener Kraft das Land wiederaufzubauen.
Im Kampf gegen Nihilismus und Gleichgültigkeit rief die CDU „alle neubauwilligen Kräfte“ auf, „in dem unerschütterlichen Vertrauen auf die guten Eigenschaften des deutschen Volkes und in der unbeugsamen Entschlossenheit, den christlichen Gedanken und das hohe Ideal wahrhafter Demokratie zur Grundlage der Erneuerung zu machen.“ Es war eine Rückbesinnung auf unverlierbare, unbeschädigte Werte.
Kernaussagen des Programms
Das eigentliche, am 1. März 1946 verabschiedete Programm skizzierte auf fünf Seiten (A) Grundsätze und Forderungen (Einzelperson und Staat; wirtschaftliches und soziales Leben; Kultur) sowie (B) vordringliche Aufgaben der ersten Aufbauperiode (staatlicher, wirtschaftlicher und kultureller Wiederaufbau) und (C) das Verhältnis zu anderen Ländern.
Im Verhältnis von Einzelperson und Staat müssten die „Grundsätze christlicher Ethik und Kultur“ sowie die „wahre Demokratie“ das „staatliche Leben tragen und erfüllen“. Nicht angreifbar seien die Würde und unveräußerlichen Rechte der Person. Hier finde die Macht des Staates ihre Grenzen. Politische und religiöse Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, die Bedeutung der Familie sowie der Schutz von Minderheiten wurden hervorgehoben. Die Reichseinheit, Demokratie und Föderalismus sollten den staatlichen Wiederaufbau prägen, Entnazifizierung und Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen die Aufarbeitung der Vergangenheit begleiten.
Die Wirtschaft diene der Bedarfsdeckung des Volkes. Sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer trügen Verantwortung, der Geist des Klassenkampfes solle überwunden werden, Monopolisierungen seien zu vermeiden. Interessenverbände sollten zugelassen und Privateigentum anerkannt werden. Akzentuiert wurden die wirtschaftliche und politische Freiheit des Einzelnen, die Anerkennung des Privateigentums und eine breite Vermögensverteilung sowie die Erhaltung der Sozialversicherung. Lediglich im Bereich des ohnehin unter Zwangsverwaltung stehenden Bergbaus wurde die Sozialisierung nicht ausgeschlossen. Konkretere Aussagen konnten noch nicht formuliert werden, handelte es sich doch hier um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der die zahlreich artikulierten Sozialisierungswünsche zu bändigen suchte. Konstatiert wurde aber auch, dass aufgrund der Unfreiheit der deutschen Wirtschaft manche Fragen „zur Zeit nicht praktisch“ waren.
Besondere Sorge galt dem Wiederaufbau der Städte, aber auch des Agrarsektors sowie den Flüchtlingen und Kriegsversehrten, der Schule, Erziehung und wissenschaftlichen Forschungsarbeit.
Im Verhältnis zu anderen Ländern sei es Deutschlands Ziel, an der friedlichen Zusammenarbeit der Völker in der Vereinigung der Nationen gleichberechtigt teilzunehmen. Reparationszahlungen seien in einem angemessenen Umfang zu regulieren.
Adenauers Handschrift
„Außer der Frage der Sozialisierung gab es noch eine große Anzahl weiterer Fragen zu klären, die sich notwendigerweise daraus ergaben, daß an vielen Orten unabhängig voneinander Gründungen der CDU stattgefunden hatten. Es galt nun, die Ideen und Ansichten aufeinander abzustimmen und eine einheitliche Linie zu erarbeiten. Wir waren in Neheim-Hüsten zusammengekommen, um ein Parteiprogramm zu schaffen, wenn es auch nur für die britische Zone Gültigkeit haben würde, da die Verbindung der Parteien über die Zonengrenzen hinaus noch nicht erlaubt war. Wir haben uns in Neheim-Hüsten mit sehr großem Ernst und sehr großem Fleiß unserer Aufgabe gewidmet. Auf dieser Tagung wurden für die Partei wichtige Grundsätze beschlossen.“
(Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945–1953, Stuttgart, 4. Auflage 1980, S. 57.)
Worin unterschied sich das Programm „aus der Feder Adenauers“ von seinen Vorläufern?
Im Unterschied zum rheinisch-westfälischen Programmentwurf wurde auf eine allzu religiös gefärbte Präambel mit den Begriffen „Gott“ und „Christus“ verzichtet. Vielmehr wurden die Adjektive „christlich“ bzw. „christlich-abendländisch“ im kulturellen Sinn gebraucht und lieferten den ethisch-normativen Untergrund des Programms. Adenauer dachte gar nicht daran, aus einem Parteiprogramm ein Glaubensbekenntnis zu machen! Zum einen wollte er einer potentiellen Zusammenarbeit mit der FDP keine Steine in den Weg legen, zum anderen wusste er um die Notwendigkeit, in der praktischen Politik die potentiellen Wählerinnen und Wähler – also auch Nicht-Christen und/oder passive Christen – auf einem mittleren Weg mitzunehmen und nicht abzuschrecken.
Ganz im Sinne von Adenauers Grundüberzeugung betonte das Programm stärker als dies in vorherigen Programmen der Fall gewesen war die Würde und Freiheit der Einzelperson, mit allen Konsequenzen für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche. In diesem Zusammenhang wurden folgende Forderungen erhoben: „Sicherung der wirtschaftlichen und politischen Freiheit des einzelnen“, die „Anerkennung des Privateigentums“ und der „Erwerb mässigen Besitzes für alle ehrlich Schaffenden“.
Auf den Begriff des „christlichen Sozialismus“ bzw. des „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ wurde vollständig – begrifflich und inhaltlich-normativ – verzichtet. Adenauer wurde nicht müde, gegen diesen insbesondere aus der Berliner CDU (namentlich Jakob Kaiser), aber auch Teilen der CDU in der britischen Zone platzierten Begriff anzukämpfen. Bereits im August 1945 hatte er an den Münchner Oberbürgermeister Scharnagel geschrieben:
„Die grundlegenden Prinzipien der neuen Partei sind folgende:1. Führung des Staates auf christlicher Grundlage, d. h. nach den Prinzipien, wie sie sich auf der Grundlage des Christentums in einer Jahrhunderte langen Entwicklung in Europa herausgebildet haben. 2. Demokratie. 3. Betont fortschrittliche soziale Reform und soziale Arbeit, nicht Sozialismus.“
(Schreiben von Oberbürgermeister Adenauer an Oberbürgermeister Scharnagl, München, 21. August 1945.)
In seinen „Erinnerungen“ schrieb Adenauer:
„Ein großer Teil meiner Parteifreunde war mit mir gegen eine zu starke Sozialisierung unserer Wirtschaft. Nach meiner Meinung sollte eine gerechte Sozialordnung aufgebaut werden, die es jedem Menschen ermöglichte, Eigentum für sich und seine Familie zu erwerben. Ich war überzeugt, daß es nicht der Verstaatlichung bedürfe, um den einzelnen zur besonderen Leistung anzuspornen. Nach meiner Meinung hat ein Arbeiter oder Angestellter in einem verstaatlichten Betrieb nicht mehr Rechte oder Freiheiten als in einem Privatunternehmen. Die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Macht in einer Hand, in der Hand des Staates, der öffentlichen Hand schlechthin, brachte nach meiner Überzeugung die Menschen in zu starke Abhängigkeit vom Staat.“
(Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945–1953, S. 60.)
Aus bisherigen Grundsatzprogrammen wurde mit dem Abschnitt über die „vordringlichen Aufgaben der ersten Aufbauperiode“ ein Aktionsprogramm geformt.
Personelle Richtungsentscheidungen
Nicht nur um ihre programmatische Weiterentwicklung stritt die CDU in der britischen Zone auf ihrer Tagung in Neheim-Hüsten. Auf dieser zweiten Sitzung des Zonenbeirates wurde auch die Frage des Vorsitzes geklärt.
Als sich der Zonenausschuss am 22./23. Januar 1946 erstmals in Herford in Westfalen getroffen hatte, hatte Adenauer als selbsternannter Alterspräsident die Sitzungsleitung übernommen. Er erinnerte sich:
„Die von den verschiedenen Landesverbänden – gemäß der auf dem Reichstreffen in Bad Godesberg vereinbarten Aufschlüsselung – benannten sechsundzwanzig Delegierten aus Rheinland, Westfalen, Hannover, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Oldenburg, Braunschweig und Lippe waren fast vollzählig versammelt. […] In Herford unternahmen wir den ersten Versuch einer Organisation der CDU auf breiter Ebene. Wir beschlossen, daß dieser in Herford zum ersten Male zusammengetretene Zonenausschuß mit einem noch zu wählenden Vorstand der eigentliche Parteivorstand für die gesamte britische Zone sein und Autorität gegenüber den einzelnen Landesleitungen besitzen sollte. Die Frage der Zusammensetzung und Wahl des Vorstandes wurde näher besprochen, die Entscheidung darüber wurde jedoch auf die nächste Sitzung des Zonenausschusses, die Ende Februar 1946 in Neheim-Hüsten in Westfalen stattfinden sollte, verschoben. Bis dahin wurde ich zum Ersten Vorsitzenden, Dr. Holzapfel aus Herford zum Zweiten Vorsitzenden gewählt.“
(Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945–1953, S. 55.)
Am 1. März 1946 bestätigten die Delegierten endgültig die Wahl Adenauers zum Vorsitzenden des Zonenausschusses. Bereits am 5. Februar war er Vorsitzender des CDU-Landesverbandes Rheinland geworden. Anfang März 1946 wurde Adenauer auch noch von der britischen Besatzungsmacht in den Zonenbeirat berufen, der am 6. März in Hamburg erstmals zusammentrat und Spitzenvertreter von Verwaltung und Parteien versammelte. Auch wenn dieses Gremium keine Entscheidungsmacht hatte, so diente es den Teilnehmern aufgrund der monatlichen Sitzungen doch zur Beratung, Verständigung und erhöhten Mobilität.
Im weiteren Verlauf sollte der politische Führungsanspruch Adenauers deutlich(er) hervortreten. „Dabei ist erneut jenes unbarmherzig gründliche Aktenstudium und jene Pingeligkeit im formalen Detail zu beobachten, die den früheren Oberbürgermeister schon zum Schrecken aller derer gemacht haben, denen er in der einen oder anderen Funktion vorgesetzt war.“ (Schwarz, S. 512)
„Ich halte die Tagung der CDU in Neheim-Hüsten für eine der entscheidendsten Tagungen der CDU. In ihr überwanden wir die Kräfte, die eine zu starke Sozialisierung befürworteten, und verhinderten dadurch ein Auseinanderfallen der Partei.
Ich betonte bereits, daß im Mittelpunkt des Programms der CDU die Freiheit der Person steht. Man muß sich darüber klar sein, daß der Sozialismus sich nicht nur auf eine Form oder Gestaltung der Wirtschaft beschränkt. Durch eine zu starke Sozialisierung des Wirtschaftsgefüges ist die Machtzusammenballung in den Händen des Staates zu groß, und die Gefahren, die sich daraus für das Leben eines Volkes ergeben, hatten wir aus eigener Erfahrung gesehen. Der Sozialismus führt notwendigerweise zur Unterordnung der Rechte und der Würde des einzelnen unter den Staat oder irgendein staatenähnliches Kollektiv. Ich war der Auffassung, daß die auf der materialistischen Weltanschauung beruhende Vergottung des Staates und ungehemmte Ausdehnung seiner Rechte, wie wir sie in der Vergangenheit erlebt hatten, niemals wiederkommen durften.“
(Konrad Adenauer, Erinnerungen 1945–1953, S. 61f.)
Literatur:
- Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945–1953, Stuttgart, 4. Auflage 1980.
- Wolfgang Jäger: Adenauers Einwirkung auf die programmatische Entwicklung der CDU 1945 bis 1949 in der Frage der Wirtschaftsordnung, in: Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers, Bd. 2: Beiträge der Wissenschaft, Stuttgart 1976, S. 427–452.
- Hennig Köhler: Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M./Berlin 1994.
- Hans-Peter Schwarz: Adenauer, Bd. 1: Der Aufstieg. 1876–1952, Stuttgart 1986.
- Paul Weymar: Konrad Adenauer. Die autorisierte Biographie, München 1955.
Dokumentation:
- Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946–1949. Dokumente zur Gründungsgeschichte der CDU Deutschlands, hg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Bonn 1975.