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Gründung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU in Siegen

von Jan Philipp Wölbern
In der Freitagsausgabe der Siegener Zeitung vom 14. März 1952 war über die am Wochenende bevorstehende Gründungstagung des EAK folgendes Zitat aus einer Pressemitteilung der CDU zu lesen: „Die Anwesenheit des Bundeskanzlers an dieser Tagung beweist, welche Bedeutung er ihr beimißt und wie sehr er sich dem evangelischen Volksteil verbunden fühlt. Er weiß, daß die CDU ihre schwere Arbeit für Volk und Vaterland nur leisten kann, wenn evangelische und katholische Christen gleichberechtigt und verantwortlich zusammenstehen.“

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Gleichberechtigung der Protestanten mit den Katholiken in den Unionsparteien war ohne Frage das zentrale Motiv für die Gründung des EAK. Besonders in den Gebieten der alten Bundesrepublik mit einer protestantischen Bevölkerungsmehrheit herrschte um die Jahrhundertmitte noch vielerorts Misstrauen gegenüber dem programmatisch neuen Angebot der CDU, als überkonfessionelle Volkspartei für Katholiken wie Protestanten wählbar zu sein. Böse Zungen behaupteten gar, man müsse nur den Namen der Partei rückwärts buchstabieren, um ihren wahren Charakter zu erkennen: „UDC – Und doch Centrum“. Die Neugründung sei bloß die alte katholische Zentrumspartei in neuem Gewand und biete den Protestanten deshalb keine politische Heimat.

Befürchtungen, der politische Katholizismus sei in der CDU tonangebend und die evangelischen Mitglieder ohne maßgeblichen Einfluss auf Programm und Personalfragen, waren nicht aus der Luft gegriffen. Schließlich rang die Partei seit 1945 um die innere Balance zwischen den Konfessionen, nicht zuletzt in Fragen der Personalpolitik. Die Gründung des EAK in Siegen sollte das Misstrauen vieler Protestanten dadurch zerstreuen, indem sie sich mit wohlwollender Unterstützung der Katholiken in der Union eine eigene Plattform schaffen konnten. Dort sollten ihre Ansichten und Interessen formuliert und artikuliert werden und die innerparteiliche Meinungsbildung beeinflussen. Damit zielte die Gründung des EAK letztlich darauf ab, evangelische Mitglieder sowie die evangelische Wählerschaft insgesamt für die Union zu gewinnen.

 

Tagungsort und Programm

Es war kein Zufall, dass bei der Suche nach einem geeigneten Ort für den Gründungsakt die Wahl auf Siegen fiel. Zum einen konnte so an die Tradition des politischen Protestantismus angeknüpft werden, denn das mehrheitlich evangelische Siegerland war eines der Zentren des Pietismus gewesen, einer Erneuerungsbewegung im Protestantismus, die auf eine innige Frömmigkeit des einzelnen Gläubigen setzte. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik hatten die protestantisch-konservativ ausgerichtete Christlich-Soziale Partei bzw. der Christlich-Soziale Volksdienst hier hohe Stimmenanteile von teils über 30 Prozent erhalten. Freilich waren aktuelle politische Gründe am Ende ausschlaggebend: Der Oberbürgermeister Siegens und Bundesschatzmeister der CDU, Ernst Bach, hatte sich intensiv für seine Stadt als Tagungsort eingesetzt, die in Luftlinie nur etwa 100 Kilometer von der damaligen Bundeshauptstadt Bonn entfernt liegt.

Das Programm sah nach der ersten Sitzung des Arbeitskreises im Dienstzimmer des Oberbürgermeisters die Bildung von Arbeitsausschüssen zu drei politischen Themengebieten vor: Erstens „Unsere kulturpolitische Aufgabe“, zweitens „Die gesellschaftliche Ordnung“ sowie drittens „Unsere politische Verantwortung in einem geteilten Deutschland“. Letzterer wurde von Bundestagspräsident Hermann Ehlers geleitet und tagte im Kupfersaal des Hotels Kaisergarten, einem der wenigen großen Veranstaltungsräume, die den verheerenden Bombenangriff auf Siegen im Dezember 1944 überstanden hatten. Die Beratungen nahmen den Freitagnachmittag und den Samstag in Anspruch. Über 30 kleinere Kundgebungen in den umliegenden Ortschaften des Siegerlands am Samstagabend rundeten die konzentrierte Arbeit an den politischen Inhalten ab.

Den Höhepunkt bildeten indes die Programmpunkte am Sonntagvormittag: Der Festgottesdienst wurde in der evangelischen Johanneskirche in der Stadtmitte gefeiert, eine Holzkirche, die später abgerissen wurde. Bis auf den Straßennamen „St.-Johann-Straße“ erinnert nichts mehr an ihren damaligen Standort. Superintendent Hermann Kunst, der Beauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland am Sitz der Bundesregierung, hielt die Predigt. Daran schloss sich eine Kundgebung im Apollo-Theater an. Das Theater in fußläufiger Entfernung von der Johanneskirche war 1935 als „Lichtspielhaus“ erbaut und vier Jahre nach seiner Zerstörung im letzten Kriegsjahr als Kino wiedereröffnet worden. Bundeskanzler Adenauer, Bundestagspräsident Ehlers, die Bundestagsabgeordneten Friedrich Holzapfel und Robert Tillmanns sowie der Abgeordnete des Nordrhein-Westfälischen Landtages Hans Erich Stier sprachen dort zu den anwesenden Gästen.

Das Ringen um einen Konsens der evangelischen CDU-Mitglieder

Inhaltlich sollte die Tagung eine gemeinsame Haltung der evangelischen CDU-Mitglieder in den wichtigen aktuellen politischen Fragen herbeiführen und die CDU als Partei profilieren, die auch den evangelischen Wählern eine politische Heimat bot. Ohne sie konnte die Union nicht zur Volkspartei mit einem Anteil von mindestens vierzig Prozent der Wählerstimmen aufsteigen. In den demokratischen Wahlen der vorangegangenen Jahrzehnte hatte das protestantische „Lager“ noch sehr uneinheitlich votiert. Nach dem Ausschlussprinzip hatte lediglich das Zentrum als „unwählbar“ gegolten. Ansonsten war es vor 1945 im protestantischen Raum nicht gelungen, eine vergleichbar starke und stabile Partei wie das Zentrum zu etablieren, sodass sich die protestantischen Stimmen über mehrere Parteien verteilt hatten. Nicht zuletzt war dies einer der Gründe für die Fragmentierung des Weimarer Parteiensystems gewesen.

Erschwerend trat hinzu, dass die CDU durch ihre historische Verwurzelung in der Zentrumspartei zwar die Unterstützung des katholischen Klerus genoss, der sich in Form von öffentlichen Stellungnahmen und Wahlaufrufen für die CDU politisch recht eindeutig positionierte. Demgegenüber verhielt sich die EKD als „Dachorganisation“ der Evangelischen Landeskirchen weitaus distanzierter, weil innerhalb des Protestantismus, grob vereinfacht, zwei gegensätzliche Strömungen miteinander rangen und die EKD den offenen Bruch zwischen ihnen vermeiden musste: Auf der einen Seite die eher bürgerlich-konservativen Kräfte, die der Union durchaus zugeneigt waren, auf der anderen eine Richtung, die die Politik Adenauers ablehnte. Im Streit über die großen politischen Richtungsentscheidungen der jungen Bundesrepublik – Westbindung, Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung – traten die Gegensätze im protestantischen Lager offen zutage.

Unionspolitiker der bürgerlich-konservativen Richtung wie etwa Bundestagspräsident Hermann Ehlers befürworteten Adenauers „Politik der Stärke“, die durch Westbindung und einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag die sowjetische Bedrohung eindämmen und so langfristig die Wiedervereinigung erreichen wollte. Prominente Köpfe der Gegenrichtung waren u. a. Gustav Heinemann, Präses der gesamtdeutschen Synode der EKD und von 1949 bis zu seinem Rücktritt aus Protest gegen Adenauers Politik im Jahr darauf Bundesinnenminister, und Martin Niemöller, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, der eine radikal-pazifistische Position bezog. Heinemann trat im Oktober 1952 schließlich aus der CDU aus und gründet wenig später die Gesamtdeutsche Volkspartei.

Einen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen zwischen den Strömungen ausgerechnet in der Woche der Gründung des EAK in Siegen: Am Montag, den 10. März 1952 hatte der sowjetische Diktator Josef Stalin in einer Note an die Westmächte die Wiedervereinigung Deutschlands um den Preis der Neutralisierung Gesamtdeutschlands angeboten. Nach dem heutigen Stand der historischen Forschung war die Offerte nicht ernst gemeint, sondern sollte die Bildung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und damit die Integration der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis hintertreiben. Heinemann begrüßte die Note in einer Rede am Freitag, dem 14. März und kritisierte die Haltung der Bundesregierung. Wenn sie die Wiedervereinigung wolle, müsse sie „auf die Westeingliederung der Bundesrepublik verzichten, denn sie würde die Ausgliederung des deutschen Ostens bedeuten.“

Demgegenüber stellte die gemeinsame Resolution der drei Arbeitskreise der EAK-Tagung unter der Leitung von Bundestagspräsident Hermann Ehlers fest, durch die Note werde zwar „ein Gespräch zwischen den Mächten veranlaßt“, doch „irgendeine Form der Neutralisierung“ sei „nach unserer Meinung unmöglich“. Schließlich stelle der Verteidigungsbeitrag „das wirksamste Mittel zur Sicherung des Friedens“ dar. Erkennbar in Anlehnung an die Zwei-Reiche-Lehre Martin Luthers und in deutlicher Kritik an den Kreisen um Niemöller und Heinemann, die Westbindung und Wiederbewaffnung indirekt als per se mit dem christlichen Glauben unvereinbar ablehnten, formulierte die Resolution das politische Credo des EAK: „Wir wissen, daß politische Fragen nach politischen Gesichtspunkten entschieden werden müssen. Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, jede politische Entscheidung sowie jede andere Entscheidung unseres persönlichen Lebens darauf zu prüfen, ob sie vor dem Worte Gottes bestehen kann. Wir verwahren uns aber dagegen, daß politische Entscheidungen als Glaubensentscheidungen hingestellt werden.“ Auf der Abschlusskundgebung im Apollo-Theater stellte sich Adenauer ausdrücklich hinter die Resolution und signalisierte damit seine Unterstützung für die Arbeit des EAK.

 

 

Wirkung

Mit dem gemeinsamen Abschlusstext und der prominent besetzten Abschlusskundgebung hatte die Tagung ihre wesentlichen Ziele erreicht: Sie hatte gezeigt, dass sich Protestantismus und CDU nicht ausschlossen und die Protestanten in der Union von den Katholiken weder inhaltlich noch personell an den Rand gedrängt wurden. Ebenso wichtig war, dass die Union in der zentralen Frage der Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung mit einer Stimme sprach und damit als geschlossene Partei wahrgenommen wurde. Neben dem Echo in der regionalen und überregionalen Presse auf die Gründungstagung wirkte das Ereignis zunächst in die CDU und auch die CSU hinein. Unmittelbar im Anschluss an die Tagung wurde ein geschäftsführender Ausschuss des EAK eingerichtet und die Arbeit auf Bundesebene verstetigt. Desweitern wurde die Arbeit auf die Ebene der CDU-Landesverbände und sogar des CSU-Verbandes ausgedehnt, die die evangelischen Unionsmitglieder an der Parteibasis aktivieren sollten. Dass mit Hermann Ehlers ein Spitzenpolitiker aus der ersten Reihe der CDU den EAK führte und nach seinem plötzlichen Tod 1954 mit Bundesinnenminister Gerhard Schröder ein weiterer prominenter und einflussreicher Unionspolitiker die Leitung des EAK übernahm, stellte unter Beweis, dass in der Union die politischen und konfessionellen Interessen des bürgerlich-nationalkonservativen Flügels des Protestantismus auf Augenhöhe mit den Katholiken agierten.

Nach außen hin lag die entscheidende Wirkung des EAK in seinem Beitrag zur Bindung protestantischer Wähler an CDU und CSU. Hatten 1949 lediglich 25 Prozent der protestantischen Wähler für die Union, hingegen 34 Prozent für die SPD gestimmt, erreichte die CDU/CSU bei der Wahl 1953 einen Anteil von 34 Prozent und zog mit der SPD gleich; vier Jahre später wählten sogar 41 Prozent der protestantischen Wähler die Union, während die SPD bei 35 Prozent stagnierte. Nicht zuletzt führte auch das ungeschriebene, aber umso penibler beachtete Proporzsystem zwischen Katholiken und Protestanten bei der Postenvergabe in der Partei, in politischen Ämtern und Stellenbesetzungen in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes dazu, dass das Projekt der überkonfessionellen Volkspartei an Glaubwürdigkeit gewann.

 

 

Dieser Artikel erschien zuerst in: Michael Borchard/Judith Michel (Hrsg.), Erinnerungsorte der Christlichen Demokratie in Deutschland. Berlin 2020. Für die Online-Fassung wurde er leicht gekürzt.

 

Literatur:

  • Buchna, Kristian: Ein klerikales Jahrzehnt? Kirche, Konfession und Politik in der Bundesrepublik während der 1950er Jahre. Baden-Baden 2014.
  • Egen, Peter: Die Entstehung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU. Bochum 1971.
  • Großbölting, Thomas: Der verlorene Himmel: Glaube in Deutschland seit 1945. Göttingen 2013.
  • Martin, Albrecht, Gottfried Mehnert und Christian Meißner: Der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU, 1952-2012. Berlin 2012.
  • Oppelland, Torsten: Der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU, 1952-1969, in: Historisch-Politische Mitteilungen 5 (1998), S. 105–143.

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