Die Entscheidung, aus den Europäischen Gemeinschaften (EG, EGKS, EURATOM) eine „immer engere Union der Völker Europas“ zu formen, wurde von den Mitgliedstaaten der EG mit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht am 7. Februar 1992 besiegelt. Bereits zu diesem Zeitpunkt war jedoch absehbar, dass in näherer Zukunft eine Vertragsreform unumgänglich war. Eine weitere Regierungskonferenz wurde daher schon im Vertrag von Maastricht vereinbart. Der Reformdruck stieg insbesondere aufgrund von zwei Entwicklungen stetig an: Erstens ließen aktuelle Krisen wie beispielsweise die Jugoslawienkriege in der ersten Hälfte der 1990er Jahre die mangelnde Handlungsfähigkeit der Union offen zutage treten, dies obwohl die Mitgliedstaaten der EU grade erst eine „gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ vereinbart hatten. Zweitens war klar, dass die EU-Institutionen in ihrer damaligen Form nicht auf den Beitritt einer größeren Zahl von Mitgliedern vorbereitet waren. Vor allem die Beibehaltung der Einstimmigkeitsregel bei Entscheidungen im Rat, der Stimmenverteilung im Rat und der Sitzverteilung im Europäischen Parlament hätte die erweiterte EU praktisch handlungsunfähig gemacht. 1994 lagen bereits die Aufnahmeanträge von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten vor und im Jahr darauf traten Österreich, Schweden und Finnland der EU bei.
Die Vorbereitungen für die Regierungskonferenz der Staats- und Regierungschefs in Amsterdam vom 16. bis 17. Juni 1997 begannen 1995. Der Gipfel wurde zunächst von Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich über die Wirtschafts- und Währungspolitik beherrscht: Während Deutschland auf der Verabschiedung eines Stabilitätspaktes für die Währungsunion beharrte, den die Mitglieder auch nach der Aufnahme in die Eurozone dauerhaft erfüllen müssten, drängte die neugewählte sozialistische französische Regierung darauf, zugleich einen Beschäftigungspakt zu schließen. Die ursprünglich prioritären Kernfragen der institutionellen Reformen kamen deshalb zu kurz. Eine nächtliche Marathonsitzung endete schließlich mit dem Kompromiss, diese Punkte auf den nächsten Reformgipfel zu verschieben. Der Vertrag wurde schließlich am 2. Oktober 1997 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet und trat nach der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten am 1. Mai 1999 in Kraft.
Die wichtigsten Neuerungen bzw. Veränderungen des Vertrages von Amsterdam im Vergleich zum Vertrag von Maastricht lassen sich im Wesentlichen in vier Punkten zusammenfassen.
1. Europäische Gemeinschaften (1. Säule der EU)
Der Vertrag von Amsterdam formulierte das Leitbild von Europa als einem „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Auf Drängen der französischen Regierung wurde das Ziel der „Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus“ in den Vertrag aufgenommen. Fortan wurde das Parlament auf diesem Politikfeld im Mitentscheidungsverfahren beteiligt und der Rat konnte diesbezügliche Beschlüsse mit Mehrheit fassen. Des Weiteren wurden eine vertiefte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sozialpolitik sowie Maßnahmen in verschiedenen Bereichen beschlossen, die Bürgernähe und Transparenz der Entscheidungsabläufe in der Union fördern sollten. Ein neues Instrument war die Sanktionierung von Verstößen gegen die Grundrechte und „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ nach Art. 6 EU-Vertrag. Stellt der Europäische Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments fest, dass in einem Mitgliedstaat eine „schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Grundrechte“ vorliegt, können Maßnahmen gegen ihn eingeleitet werden, die bis zum Entzug seines Stimmrechts reichen.
2. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, II. Säule der EU)
Sichtbarste Neuerung des Vertrages war die Schaffung des Amtes eines „Hohen Vertreters“ für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Mit Inkrafttreten des Vertrages übernahm den Posten der bisherige NATO-Generalsekretär Javier Solana, umgangssprachlich bald als „Mr. GASP“ bezeichnet. Ferner beschloss der Rat neue Aktionsformen im Rahmen der GASP (u.a. Grundsätze, Strategien, Aktionen). Die eigentlich vordringliche Vereinfachung und Effektivierung der Entscheidungsverfahren wurde hingegen nicht in Angriff genommen.
3. Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik (III. Säule der EU)
Auf dem Gebiet der Innen- und Justizpolitik wurde ein neues Instrument der Rahmenbeschlüsse eingeführt. Sie definieren ein gemeinsames Ziel, die Mitgliedsstaaten können den Weg dorthin aber frei wählen.
4. Änderungen bei den EU-Institutionen
Der „Gewinner“ von Amsterdam war zweifellos das Europäische Parlament, das mehr Rechte erhielt. Der Vertrag weitete die Zahl der Politikfelder, in denen das Europäische Parlament künftig im Mitentscheidungsverfahren beteiligt war, von 15 auf 38 aus. Seit Amsterdam entschied das Europäische Parlament in circa drei Viertel aller Europäischen Gesetzgebungsverfahren gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Zudem sah der Vertrag vor, dass das Europäische Parlament der Ernennung des Kommissionspräsidenten vorab zustimmen musste und legte er eine Obergrenze von 700 Parlamentssitzen fest.
Mit Blick auf die EU-Kommission bestimmte der Vertrag, dass ihr maximal 20 Kommissare bzw. Kommissarinnen angehören sollten. Das war mit Blick auf die anstehende Osterweiterung problematisch, da zu erwarten war, dass kein Mitgliedstaat auf „seinen“ Kommissar verzichten würde. Ferner stärkte Amsterdam die Position des Präsidenten, indem er das Recht erhielt, künftig an der Auswahl der Kommissare beteiligt zu werden und fachliche Qualifikationen zum Besetzungskriterium zu machen. Obendrein erhielt er eine „Leitlinienkompetenz“ ähnlich der Richtlinienkompetenz des deutschen Bundeskanzlers. Schließlich wurde seine demokratische Legitimation dadurch gestärkt, dass für seine Benennung künftig die Zustimmung des Parlaments notwendig war.
Änderungen sah der Vertrag auch für die beiden Intergouvernementalen Institutionen vor: Der Europäische Rat als Treffen der Staats- und Regierungschefs wurde in seiner Rolle als „permanenter Vertragsarchitekt und Verfassungsgeber“ gestärkt und erhielt weitere Kompetenzen. Die wichtigste Veränderung im Bereich des Ministerrats war neben der bereits erwähnten Benennung eines “Hohen Vertreters“ für die GASP die künftig häufiger anzuwendende Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, bei der ein bestimmtes Quorum an Stimmen bzw. Staaten erreicht werden muss.
Reaktionen
Die Reaktionen auf den Gipfel waren insgesamt verhalten. Während die Regierungschefs die Fortschritte lobten, überwogen in der deutschen Presse die kritischen Stimmen, die Süddeutsche Zeitung sprach beispielsweise von einem „Gipfel der Reförmchen“. Zweifellos war der Vertrag ein Fortschritt auf dem Weg zu der angestrebten „immer engeren Union“, aber kein großer Entwicklungssprung. In der Substanz handelte es sich um graduelle Verbesserungen gegenüber dem Vertrag von Maastricht. Es war daher klar, dass eine weitere Reformkonferenz den Durchbruch bringen musste. Die als „leftovers“ von Amsterdam bezeichneten institutionellen Fragen wie die Stimmgewichtung im Rat, die Größe der Kommission und die Sitzverteilung im Europäischen Parlament in einer Union von weit über 20 Mitgliedern wurden schließlich auf dem Gipfel von Nizza am 11. Dezember 2000 in Angriff genommen. Der Vertrag von Amsterdam war damit der Vertrag mit der kürzesten Gültigkeitsdauer und der einzige, während dessen Laufzeit kein neues Mitglied aufgenommen wurde. Dessen ungeachtet war er ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zu den umfassenden Vertragsreformen, die 2009 schließlich im Lissabonner Vertrag durchgeführt wurden.
Entschließung des Europäischen Parlaments zum Vertrag von Amsterdam (externer Link)