Länderberichte
Nach rund zweieinhalb Jahren Fortbestand ist die Koalition der Mitte aus Nea Dimokratia (ND) und PASOK in Griechenland zu Ende gegangen: Schlussendlich war es die griechische Verfassung, die dieser für das Land ungewöhnlichen Zusammenarbeit ein vorzeitiges Ende bereitet hat. Noch 2012 hatte kaum jemand dem zunächst als Dreierbündnis, gemeinsam mit der gemäßigten Linken Dimar, begonnenen Koalitionsprojekt eine lange Lebenszeit vorausgesagt.
Unter hohem Druck der Opposition waren die turnusmäßigen Präsidialwahlen mit ihrem ersten Wahlgang am 17. Dezember zum Lackmustest für die Regierung geworden: Es war ihr mit ihrer ohnehin hauchdünnen Koalitionsmehrheit von nur noch fünf Sitzen nicht gelungen, das Quorum von Zweidrittel der Abgeordneten für ihren Kandidaten zum Amt des Staatspräsidenten sicherzustellen.
Auf die Chance der sich an die drei erfolglosen Präsidialwahlgänge anschließende Parlamentsauflösung und Neuwahl hat die Opposition seit 2012 gewartet. Diese Präsidialwahl fand im Kontext eines seit den Europawahlen im Mai 2014 innenpolitisch zusehends aufgeheizten Klimas statt. Hinzu kamen die gescheiterten Verhandlungen der Regierung mit der Troika der Kreditgeber (Europäischer Kommission, EZB, IWF) zum eigentlich geplanten Auslaufen des griechischen Rettungsprogramms Ende 2014.
Die nicht erzielte Einigung mit der Troika war schließlich auch einer der Gründe für Ministerpräsident Samaras, den Termin für die Präsidialwahlen von Februar auf Dezember vorzuziehen.
Wahl der Widersprüche
55 Prozent der Griechen hatten sich noch vor den drei Wahlgängen im Dezember für die Wahl des Kandidaten Stavros Dimas zum Präsidenten der Republik sowie eine Fortführung der Koalitionsregierung aus ND und PASOK ausgesprochen. Dennoch müssen nun 9,8 Millionen Wahlberechtigte ein Jahr vor Ablauf der Legislaturperiode eine Wahlentscheidung fällen – mit erheblichen innen- und europapolitischen Implikationen.
Dabei ist die Stimmung unter den griechischen Wählern im sechsten Jahr der Krise vor allem von Ratlosigkeit geprägt. Zahllose Meinungsumfragen – ein eigenes, auch in Krisenzeiten lukratives Geschäft in Griechenland – legen diese Ratlosigkeit und Widersprüche offen.
Obwohl die Mehrheit sich noch vor der Präsidialwahl im Dezember für eine Fortsetzung der ND-PASOK-Koalition aussprach, gehen nun 61 Prozent der Griechen davon aus, dass SYRIZA die bevorstehenden Wahlen gewinnen wird.
Zugleich spricht sich mit 75,7 Prozent eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung für den Verbleib des Landes in der Eurozone aus. Angst vor einem „Grexit“, dem möglichen Austritt des Landes aus der Eurozone haben 59,2 Prozent der Befragten.
Dass mit SYRIZA dennoch diejenige Partei, die sich klar gegen das Reformprogramm stellt und schon allein aufgrund ihrer unbezahlbaren Wahlversprechungen den genannten Sorgen den fruchtbarsten Nährboden gibt, die Meinungsumfragen anführt, gehört zu den politischen Widersprüchen Griechenlands im Jahr 2015.
Widersprüchlich ist auch, dass zugleich immer noch 35 Prozent der Griechen Antonis Samaras für den besseren Ministerpräsidenten halten – im Vergleich zu 28,5 Prozent für den SYRIZA-Parteivorsitzenden Alexis Tsipras.
Auch der Zeitpunkt der Wahl ist auf seine Weise widersprüchlich: das Jahr 2014 hatte Griechenland erstmals nach fünf Jahren Rezession mit einem leichten BIP-Wachstum sowie mit einem Primärsaldo abschließend können; die Arbeitslosigkeit war – wenn auch auf hohem Niveau – leicht rückläufig; Exporte zogen erstmals in sichtbarem Umfang an. Das oftmals beschworene „Licht am Ende des Tunnels“ schien tatsächlich sichtbar zu werden. Doch die Notwendigkeit der Neuwahl des Staatspräsidenten brachte die politische Instabilität zurück in das Land.
Parteipolitische Orientierungslosigkeit
Der abermals von heftigem Populismus geprägte Wahlkampf der oppositionellen
SYRIZA kann von der Reformmüdigkeit und Orientierungslosigkeit der Griechen profitieren.
Die Mehrheit der Bevölkerung hat im Rahmen der Fiskalkonsolidierung Griechenlands in den letzten fünf Jahren Unvergleichliches geleistet – eine derartige Haushaltskonsolidierung sucht in der OECD-Welt ihresgleichen. Einbußen bei Löhnen und Gehältern von im Schnitt rund 25 Prozent waren damit für die breite Bevölkerung verbunden. Zugleich wurden insbesondere der Mittelschicht erhebliche Steuerlasten aufgebürdet. Doch strukturelle Reformen im Bereich von Verwaltung, Marktliberalisierung, Privatisierung und gezielter Förderung von Wachstumspotenzialen wurden in vielen Bereichen – wenn überhaupt – zu spät angegangen, um bereits Erfolge zeitigen zu können. Es sind diese konkreten Ergebnisse – jenseits ökonomischer Kennziffern – die die griechische Bevölkerung sehen können muss, um für den weiteren Reformprozess gewonnen zu werden. Immer noch bedienen sich die Parteien jedoch einer Rhetorik, die die Reformen als von außen erzwungene Agenda charakterisiert.
In dieser Situation ist der griechische Wähler spürbar verunsichert, welche Politik und Strategie die richtige ist. Hinzu kommt, dass schon bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2012 mit dem kometenhaften Aufstieg der SYRIZA klar geworden war, dass alte parteipolitische Bindungen und Gewissheiten, die die Logik von Wahlen in Griechenland über Jahrzehnte dominiert hatte, nicht mehr Bestand haben. Seitdem hat sich die Parteienlandschaft in Griechenland weiter fragmentiert und polarisiert.
SYRIZA verspricht in dieser Situation vor allem denjenigen, die nichts mehr zu verlieren zu haben glauben, sowie denjenigen, die alte Besitzstände wahren wollen – nicht zuletzt im öffentlichen Beschäftigungssektor –, eine Rückkehr zum status quo ante. Außerdem gewinnt die Partei Stimmen von frustrierten Parteigängern aus allen Lagern.
Kompetenz ex negativo
Die Mehrheit der Meinungsumfragen prognostiziert derzeit einen Vorsprung von circa 3 bis 4 Prozent für die reformkritische
SYRIZA vor der konservativen ND. Von soliden 7,5 Prozent noch im November 2014 kommend hat sich der Vorsprung erheblich reduziert. Und auch wenn man die Umfrageergebnisse mit Vorsicht genießen muss (so hatten bei den Wahlen im Juni 2012 seriöse Forschungsinstitute bereits einen Sieg von SYRIZA prognostiziert und schlussendlich falsch gelegen ), scheint sich der Abstand für die Partei auf diesem Niveau zu konsolidieren. SYRIZA vollzieht damit weiterhin die Ablösung der PASOK als große Partei links der Mitte.
Glaubwürdigkeit bezieht das Bündnis der radikalen Linken dabei wesentlich aus der Tatsache, nicht zum vormals etablierten Parteispektrum zu gehören und in den krisenhaften Zeiten Griechenlands sowie in der Ära des „Memorandums“ (der Kreditvereinbarung mit der Troika) nicht in Regierungsverantwortung gewesen zu sein.
Mit einer ähnlichen Logik baut auch die ein knappes Jahr alte Gruppierung To Potami um den bekannten Journalisten Stavros Theodorakis ihr Narrativ auf. Die explizit nicht als Partei aufgestellte Bewegung ist heißer Kandidat für den dritten Platz und könnte damit zum Königsmacher werden. Die erst im März 2014 gegründete „Bewegung der Radikalen Mitte“ konnte bei den Europawahlen immerhin aus dem Stand bereits zwei Parlamentarier nach Brüssel entsenden.
Inhaltlich weist To Potami wenig klar definierte Positionen auf. Theodorakis verortet die Bewegung bei Sozialdemokratie und Liberalismus zugleich und hält sich damit die Koalitionsoptionen in alle Richtungen, also zu SYRIZA und ND, offen. Man steht für Meritokratie, den Kampf gegen Korruption und eine starke Position Griechenlands in der EU.
Die Strategie von To Potami beruht wesentlich auf den mitwirkenden Personen, die sich in der Parteiliste finden: junge, dynamische, zuvor oftmals parteipolitisch ungebundene – wie unerfahrene –, neue Gesichter. Motto: „Politik ohne parteipolitische Vergangenheit.“
Auch hier greift das Konzept einer Vertrauenswürdigkeit durch die Verkörperung der Idee, nicht Teil des parteipolitischen Esta-
blishment zu sein. Dies reicht in den Umfragen derzeit für rund 6,5 Prozent der Wählerstimmen. Die parteipolitische Frustration des griechischen Wählers drückt sich auch im Erfolg dieser a-parteipolitischen Bewegungen aus.
Zur weiteren Fragmentierung der Parteienlandschaft Griechenlands trug die Neugründung der „Bewegung demokratischer Sozialisten“ Kidiso durch den ehemaligen griechischen Ministerpräsidenten Georgios Papandreou bei. Kidiso kann als Reaktion auf die anhaltende Krise der PASOK, deren Einzug in das nächste Parlament nicht sicher ist, gewertet werden. Auch wenn es für Kidiso selbst in den Umfragen derzeit noch nicht besser aussieht, könnte die neue Bewegung vormalige PASOK-Stimmen, die zur SYRIZA gewandert waren, an sich binden. Derweil liefern sich die Parteiführer der gespaltenen Sozialdemokraten, Venizelos und Papandreou, öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzungen.
Die kommunistische KKE, eine feste und konstante Größe in der griechischen Parteienlandschaft, wird in das Parlament einziehen und sich – bar jeder Koalitionsambitionen – in Fundamentalopposition ergehen. Der vormalige Regierungspartner DIMAR sowie die rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen ANEL werden aller Voraussicht nach nicht den Weg in das neue Parlament finden. Die neofaschistische Chrysi Avgi muss mit Stimmeinbußen im Vergleich zu ihren fulminanten 9,4 Prozent bei den Europawahlen rechnen, ist aber dennoch ebenfalls Kandidat für die drittstärkste Kraft im neuen griechischen Parlament.
Diese neu gewählte Voulí wird politisch extremer und von Strömungen durchwirkt sein, die keine Parteien mehr sein wollen. Und aus sehr vielen neuen Abgeordneten bestehen. Das mag im Sinne politischer Erneuerung vermeintlich gut zu Gesicht stehen, birgt aber vor allem das Risiko politisch unerfahrener Akteure in Zeiten, in denen das Land stark sowohl auf politische als auch technokratische Expertise angewiesen ist.
Auf Vertrauenswürdigkeit durch Erfahrung sowie auf „Alithia“, auf Wahrheit, baut die Wahlkampfstrategie der ND. In Abgrenzung zu den populistischen Versprechen von SYRIZA setzt man darauf, dem Wähler die ganze Wahrheit über die Situation zu sagen. Damit will man sich deutlich gegen das Ziel der Aufkündigung der Programme seitens SYRIZA sowie die als unrealistisch eingestuften Wahlversprechen in Kostenhöhe von geschätzten gut 11 Milliarden Euro abgrenzen.
Arrangements
Da sich die Parteien sämtlich keiner substantiellen Inhalte – jenseits ihrer Position zum Memorandum – annehmen, wächst die Bedeutung der Akteure. Der Wahlkampf der beiden großen Parteien ist ganz auf Samaras und Tsipras zugeschnitten. Hinzu kommen in den letzten Tagen ungewöhnliche strategische Bewegungen vorheriger Abgeordneter und politisch Aktiver zwischen den Lagern.
Parteien nehmen Kandidaten aus teilweise ganz konträren politischen Spektren auf, um sich politisch und strategisch breiter aufzustellen. So ist die dem rechtspopulistischen Lager der ANEL entstammende Rachil Makri nun in der Kandidatenliste der SYRIZA zu finden. Diese persönliche Entscheidung von Alexis Tsipras gegen parteiinternen Widerstand kann als Strategie der Machtzentralisierung innerhalb der SYRIZA gelesen werden.
Der Abgeordnete Vasilis Oikonomou, vormals PASOK, hat die Partei wegen seiner Fundamentalopposition gegen das Memorandum verlassen und wurde nun in die ND-Liste integriert, nachdem er bei der Präsidialwahl für Stavros Dimas gestimmt hatte.
In der griechischen Öffentlichkeit viel beachtet war der Transfer der ehemaligen PASOK-Vizeministerin für Kultur Antzela Gkerekou zur ND. Die Abgeordnete von Korfu hat enge Bindungen an Georgios Papandreou und es war allgemein erwartet worden, dass sie sich seiner Parteineugründung anschließen würde.
Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Versuche des ehemaligen FDP-Europaabgeordneten Jorgos Chatzmarkakis, in die griechische Innenpolitik einzusteigen: Nachdem er bereits bei den Europawahlen mit seiner eigenen, liberalen Parteineugründung Partei Hellenische Europabürger gescheitert war, anschließend von Vizepremier und Außenminister Evangelos Venizelos zum „griechischen Sonderbotschafter für Europäische Wirtschafts- und Entwicklungsthemen“ ernannt worden war, hatte er seine Kontakte zur PASOK intensiviert. Schließlich war er bis zum Schluss – trotz seiner Positionierung gegen das Memorandum in seiner Zeit als Europaabgeordneter – als möglicher Kandidat für die ND gehandelt worden. Schlussendlich ist er nun nirgends dabei.
Diese Bewegungen spiegeln die inhaltliche und parteipolitische Orientierungslosigkeit der Bevölkerung auch auf Seiten der politischen Akteure wieder.
Ausblick
Eine der beunruhigenderen Fragen ist die nach der verwaltungstechnischen Management-Kapazität SYRIZAS im Fall eines Wahlsieges – jenseits aller ideologischen Programmatik. Griechenland hat nicht die Zeit, nach Koalitionsfindung und Regierungsbildung abzuwarten, dass sich politisch, inhaltlich und administrativ völlig unerfahrene Akteure in ihre Ämter einfinden und den – ohnehin schwerfälligen – öffentlichen Apparat in den Regierungsmodus bringen.
SYRIZA steht einem Wahlsieg so nahe wie nie zuvor. Die Partei propagiert Maßnahmen, die für Griechenland weder im europäischen Kontext politisch darstellbar noch finanzierbar sind. Sollte die Partei nach einer möglichen Regierungsübernahme eine rasante Wende vollziehen, bleibt das Risiko aufgrund interner Friktionen hoch. Ganz zu Schweigen vom hohen Verlust parteipolitischer Glaubwürdigkeit. Bis dahin verfangen die Botschaften SYRIZAS jedoch bei den reformmüden Griechen.