Länderberichte
Spätestens seit der Europawahl im Mai 2014 hat sich UKIP als politische Kraft in Großbritannien positioniert, vielleicht sogar etabliert. Mit der Verknüpfung des in Umfragen führenden Problems der Immigration mit einer aggressiven antieuropäischen Rhetorik und einer Forderung eines raschen EU-Austritts katapultierte sich UKIP nicht nur als Wahlsieger bei der EU Wahl an die Spitze, sondern konnte auch bei zwei Nachwahlen (by elections) im Oktober bzw. November in Clacton sowie Rochester and Strood deutliche Siege einfahren. Diese waren durch Parteiübertritte zweier Tory-Abgeordneter (Douglass Carswell und Mark Reckless) zu UKIP erforderlich geworden, in beiden Fällen siegten beide Kandidaten unter neuer Parteiflagge eindeutig und schürten so die Unruhe innerhalb der Konservativen Partei zusätzlich.
Für Labour war und ist dies jedoch kein Grund sich zurückzulehnen. Die Tatsache, dass UKIP ganz offensichtlich auch in der Lage ist enttäuschte Labour-Wähler anzuziehen (mit einer „Anti –Establishment“ Strategie), die wenig überzeugende allgemeine Performance des Labour-Vorsitzenden Ed Milliband (dem kaum einer im Land den Posten des Premierminister zutraut) und die Tatsache, dass die SNP in Schottland laut Umfragen bei der Unterhauswahl deutlich zulegen wird und damit etliche Labour Sitze in Schottland an die SNP fallen würden machen diese Wahl auch für Labour zu einem mehr als schwierigen Unterfangen. Sollte es UKIP dann noch gelingen weitere Wahlkreise zu gewinnen (was nach derzeitigen Umfragen durchaus möglich ist – auch wenn es ausgerechnet für den UKIP-Vorsitzenden Nigel Farange im Wahlkreis South Thanet in Kent derzeit nicht so gut aussieht, wo er 5% hinter dem konservativen Kandidaten liegt) dürfte eine Mehrheitsbildung im neuen Parlament komplexer denn je werden.
Insbesondere gärt es aber (mal wieder) in der Konservativen Partei. Während im unmittelbaren Nachgang zum Parteitag in Birmingham Ende September noch eine gewisse Aufbruchsstimmung zu verspüren war, schlug diese in zunehmende Unruhe bis hin zu leichter Panik im Kontext der beiden verloren by-elections um. Vor allem in Rochester and Strood hatte man sich noch Hoffnung gemacht, den Siegeszug von UKIP stoppen zu können und war mit hoher Intensität im Wahlkampf präsent (David Cameron allein war fünf Mal im Wahlkreis). Dennoch lag auch hier UKIP am Ende mit rund 8% vorne.
UKIP war und ist derzeit der „agenda-setter“, das Migrationsthema verfängt nur allzu leicht, auch unter Ausblendung von Fakten und Tatsachen. Und die Regierung und allen voran David Cameron ließen sich in den letzten Wochen zu immer markigeren Sprüchen und Forderungen hinreißen und dadurch in eine argumentative Ecke treiben, an deren Ende der Austritt aus der EU zur logischen Folge zu geraten drohte. Warnungen aus Brüssel und auch aus Berlin, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU nicht zur Disposition stünde, wurden als „typische EU-Bevormundung“ abgetan und heizten die Debatte und die mediale Kommentierung eher noch an und kamen der UKIP-Argumentation damit zusätzlich zu Gute.
Aktuelle Zahlen und Fakten
Zunächst zeigte eine vom University College of London Anfang November veröffentlichte Studie, dass in den letzten 10 Jahren die innereuropäische Migration dem britischen Staat Nettoeinnahmen von rund 20 Mrd. £ beschert hatte (Steuereinnahmen abzüglich Sozialleistungen) und strafte damit das weit verbreitete Vorurteil Lügen, dass Migranten in erster Linie den britischen Staat via Sozialleistungen „melken“. Demgegenüber kostetet im gleichen Zeitraum die extraeuropäische Immigration den britischen Staat erhebliche Mittel. Letztere wird aber vom Staat direkt durch Visa-Erteilung gesteuert, unterliegt also nicht der „free movement“ Logik der EU.
Unmittelbar vor der Rede des Premierministers wurden (endlich) auch konkrete Migrationszahlen des nationalen Statistikamtes veröffentlicht . Demnach stieg die Einwanderung nach Großbritannien seit 2011 jedes Jahr deutlich an, allein im letzten Jahr um Netto 78.000 auf inzwischen 260.000.
Damit ist das von Cameron ausgegebene Ziel, die Netto-Migration bis zum Ende der Legislaturperiode effektiv zu senken gescheitert. Hinweise, dass die Migrationszahlen in Deutschland deutlich höher liegen (vergl. OECD Studie 2014 zur Migration ) werden in der Regel mit dem Hinweis abgetan, dass Deutschland wegen sinkender Bevölkerungszahlen auf Migration angewiesen sei, während in Großbritannien die Bevölkerungszahlen steigen und damit die Migration eine erhebliche Belastung für den Wohnungsmarkt, das Gesundheitssystem und die Sozialleistungen darstelle.
Laut Statistikamt sind rund 52% der Migranten des Jahres 2014 Nicht-Europäer (Commonwealth und sonstige Nicht-EU Länder), 10% aus Rumänien und Bulgarien, 13,9% aus sonstigen neuen Mitgliedsländern und 22,3% aus den alten EU-Staaten. Fakt ist und bleibt, dass die Gesamtmigration aus der EU und außerhalb der EU in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, gemessen an absoluten Zahlen die EU Migration aber weiter klar unter der Migration aus Nicht-EU Staaten liegt und von daher die EU-Freizügigkeit das „Problem“ also nur teilweise erklärt oder verursacht.
Unternehmerverbände warnen ohnehin seit Wochen davor, dass die Möglichkeit Arbeitskräfte frei zu rekrutieren eine fundamentale Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit ist und von daher nicht leichtfertig im Zuge einer überhitzten Debatte eingeschränkt werden dürfe.
Eckpunkte der Rede
Cameron wählte mit Bedacht ein mittelständisches Unternehmen in der Grafschaft Staffordshire für seine Rede am 28.11.2014 (deren Eckpunkte schon am Tag zuvor an die Presse durchgesickert waren oder wurden). Im multikulturellen London verfängt das anti-migrants-bashing ohnehin nur bedingt, auch UKIP konnte hier bis dato nicht wirklich punkten. Die Sorgen der Conservatives und die Camerons liegen eher in der englischen Provinz, von daher die Standortwahl.
Durchaus überraschend und bei Unternehmen und in vielen Hauptstädten Europas inklusive Brüssel mit einer spürbaren Erleichterung aufgenommen wurde das klare Bekenntnis Camerons zu Großbritannien als Einwanderungsland („Immigration benefits Britain“, „our openness is part of who we are“, „we are Great Britain because of immigration, not in spite of it“). Dieses war aber auch gepaart mit dem klaren Hinweis, dass er verstanden habe, dass seine Landsleute erwarten, dass die Regierung dies „unter Kontrolle habe“.
Der Seitenhieb auf UKIP fehlte dabei ebenso wenig („isolationism is unpatriotic“) wie der Versuch die britischen Sorgen als europäische Sorgen darzustellen und damit die Lösung in einen europäischen Ansatz zu gießen.
Dies war in der Vergangenheit nun wahrlich kein selbstverständlicher Ansatz und gepaart mit dem klaren Bekenntnis zu den Grundrechten der EU inklusive der Arbeitnehmerfreizügigkeit eine versöhnliche Geste in Richtung Brüssel (und sicher auch Berlin). Pressespekulationen, dass dieser Ton und die Grundausrichtung auch maßgeblich aus Berlin beeinflusst wurden blieben aber unkommentiert. Allerdings hatten entsprechend klare Ansagen der Bundeskanzlerin in der jüngsten Vergangenheit zumindest mit der in Teilen der Konservativen Partei herrschenden Illusion aufgeräumt, dass man mit deutscher Unterstützung die römischen Verträge aushebeln könne.
Nicht ungeschickt auch der Hinweis, dass die übrigen Grundrechte der EU ja auch nicht in jedem Fall zu 100% umgesetzt würden und es immer wieder auch für andere EU-Mitgliedsländer (zuletzt Frankreich) Sonderregelungen gäbe (ein Argument, dass auch Sir John Major in seiner Rede am 13.1.2014 in der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin anführte) und man von daher nicht dogmatisch, sondern pragmatisch mit den Problemen umgehen müsse. Dies fand auch Echo bei Kommissionspräsident Juncker, der gegenüber der FT zu verstehen gab, dass man sich die britischen Vorstellungen „without drama“ anhören solle, da Cameron ja die Grundrechte per se nicht in Frage gestellt habe und von der im Vorfeld lancierten Idee eine Quotierung Abstand genommen hatte.
Konkrete Eckpfeiler seiner angekündigten Maßnahmen waren die drastischen Einschränkungen von Sozialleistungen für Migranten. Zukünftig soll derjenige, der nicht spätestens nach 6 Monaten einen Job vorweisen kann, zurückgeschickt werden. Selbst diejenigen, die einen Job erhalten, sollen in den ersten vier Jahren kein Anspruch auf Sozialleistungen haben (wie Lohnzuzahlungen „tax credit“, Sozialwohnung oder Kindergeld). Auch die Kindergeldzahlungen für nicht in Großbritannien lebende Kinder sollen komplett entfallen. Cameron betonte, dass er diese Forderungen auch für den Fall aufrechterhalten wolle, wenn diese EU-Vertragsänderungen bedingen.
Den harten Ton in Sachen Kürzung von Sozialleistungen und versöhnlichen Ton in Sachen Migration an sich ließ er aber dann doch noch am Ende seiner Rede eine Drohung folgen (und blieb sich damit letztlich treu) : Falls dies nicht zu erreichen sei, würde er nichts ausschließen („I rule nothing out“), womit wohl gemeint war, dass er in diesem Fall auch eine Austritt Großbritanniens aus der EU nicht ausschließe.
Bewertung
Ob Premierminister Camerons rhetorischer Spagat zwischen Friedensangebot an die EU und Besänftigung seiner parteiinternen Kritiker inklusive Eindämmung des UKIP-Höhenflugs wirklich gelingt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. In den britischen und deutschen Medien zumindest wurde der Versuch überwiegend positiv aufgenommen und honoriert.
Es ist klar, dass er den Fokus der politischen Debatte dringend auf die wirtschaftspolitische Agenda verlegen muss, wenn er seine Wahlaussichten signifikant verbessern will. Hier (und nur hier) kann er und können die Tories wirklich gegenüber Labour und auch gegenüber UKIP punkten. Die bisherigen Versuche UKIP das Wasser mit UKIP-Themen abzugraben sind grandios gescheitert. Zumindest fraglich dürfte es aber auch sein, ob die Migrationszahlen mit diesen Maßnahmen wirklich zurückgehen. Solange die britische Wirtschaft schneller wächst als im restliche Europa und der britische Arbeitsmarkt Arbeitskräfte aufnimmt (was bisher der Fall ist), dürfte auch der Migrationsdruck nicht abebben, Großbritannien bleibt so (Migrations)Opfer seines eigenen wirtschaftlichen Erfolgs.
Ob es ihm gelingt, mit den deutlichen Einschränkungen bei den Sozialleistungen seine parteiinternen Kritiker zu beruhigen und zu überzeugen ist auch fraglich, zu sehr hat sich dieser Flügel seiner Partei der UKIP Logik angeschlossen, dass nur ein EU-Austritt Großbritannien wieder „Herr im Hause“ sein lässt. Zumindest in Richtung der übrigen EU-Mitglieder und der Kommission sowie dem Rat mit Donald Tusk an der Spitze gegenüber dürfte diese Rede ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Geduld mit der britischen verbalen Polterei drohte auszulaufen, das jetzige Entgegenkommen und EU-Bekenntnis eröffnet neue Spielräume für Verhandlungen, die in der Tat nicht nur im britischen Interesse liegen.
Was bleibt ist ein gewisses Aufatmen, der Eindruck eines gemäßigten Befreiungsschlages und die Gewissheit eines ungewissen politischen Szenarios mit Blick auf die Wahlen am 7. Mai 2015.