Britische Außenpolitik nach „Global Britain“
In seinem Vorwort zur neuen Integrated Review erklärt Premiermister Rishi Sunak, dass der Refresh einen „evolutionären Schritt nach vorne vor dem Hintergrund einer volatileren und umkämpfteren Welt“ darstelle. Am deutlichsten wird dieser evolutionäre Schritt bei Betrachtung des Brexiteer-Schlagworts „Global Britain“, welches die 2021er IR dominierte und bereits im Titel mit aufgenommen wurde: „Global Britain in a Competitive Age“. Mit der EU, so hieß es kurz angebunden, werde man zusammenarbeiten „wo es gemeinsame Interessen gebe“. Diese Formulierung rückte den europäischen Staatenbund, dessen Mitglied das VK schließlich noch bis 2020 war, beinahe in die Nähe von Akteuren wie China, das zwar als „systemischer Wettbewerber“ bezeichnet wurde, jedoch ein Partnerland auf Gebieten sei, „wo es gemeinsame Interessen gebe“. Während von einer Regierung unter Führung Boris Johnsons zwar kein Enthusiasmus für die EU erwartet werden konnte, so war es dennoch kaum möglich, der IR eine Bereitschaft für gemeinsame Projekte auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik zu entnehmen, zumal die Briten eine Institutionalisierung derselben im Rahmen der Verhandlungen über das Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU abgelehnt hatten. „Der sicherheitspolitische Fokus“ des VKs werde zwar auch weiterhin größtenteils dem „euro-atlantischen Raum“ gelten, die Zusammenarbeit mit europäischen Verbündeten werde jedoch bilateral und über die NATO erfolgen.
Der IRR23 bekräftigt nun die übergeordnete Bedeutung des euro-atlantischen Raumes für das VK. In jenem Raum bestehe die „dringlichste Priorität derzeit darin, die Ukraine dabei zu unterstützen, ihre Souveränität wiederzuerlangen und Russland jeglichen strategischen Nutzen aus seiner Invasion zu verwehren“. Das VK werde „weiterhin eine führende, katalytische Rolle bei der Unterstützung der Ukraine spielen“. Um dieser Führungsrolle gerecht zu werden, kündigt die IRR23 eine Vertiefung der bilateralen Kooperation mit europäischen Partnern an. Im Gegensatz zu 2021 wird die EU spezifisch als ein Partner herausgestellt, mit welchem das VK insbesondere in Bezug auf den Krieg in der Ukraine bereits gut zusammengearbeitet habe. Explizit heißt es: "Unser Ziel ist es, noch stärkere Beziehungen zu unseren europäischen Verbündeten und Partnern aufzubauen, die auf Werten, Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit hinsichtlich unserer gemeinsamen Interessen basieren. Dazu gehört auch die EU (...)“. Neben Frankreich, Italien und Polen wird auch Deutschland als besonders wichtiges Partnerland hervorgehoben. Signifikant für die Bundesrepublik ist die neue Ankündigung, dass das VK eine „Reform des UN-Sicherheitsrates unterstützen“ werde. Im Zuge einer Reform würde es „Brasilien, Indien, Japan und Deutschland als ständige Mitglieder begrüßen“.
Nicht nur seien die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu Europa in Folge des russischen Angriffskrieges so stark wie seit Jahrzehnten nicht mehr, auch eine Vertiefung der Zusammenarbeit im Rahmen der „Permanent Structured Cooperation“ (PESCO) werde angestrebt. Bereits 2022 hatte das VK an einem PESCO-Projekt zur Verbesserung der innereuropäischen Mobilität militärischer Verbände teilgenommen und scheint die Zusammenarbeit in weiteren PESCO-Projekten sowie im Rahmen der „European Defence Agency“ (EDA) verstärken zu wollen. Neuerliche Berichte, wonach es bereits Gespräche über nächste Schritte auf diesem Gebiet gebe, scheinen den Eindruck zu bestätigen, dass der konstruktive Ton des IRR23 auch von politischem Willen gedeckt ist. Die gewandelte Rolle der EU stellt laut Tom Howe und Peter Jurkovic vom Think-Tank „UK in a Changing Europe“ den „bedeutendsten Entwicklungsschritt seit 2021“ dar.
Trotz allen Fortschritts haben sich die regierende Conservative Party im Gegensatz zu Labour jedoch (noch) nicht positiv zu einer generellen vertraglichen Regelung der außen- und sicherheitspolitischen Beziehungen zur EU geäußert. Da es nach wie vor eine beträchtliche Gruppierung innerhalb der Tories gibt, für die eine solche Institutionalisierung ein rotes Tuch wäre, scheint es momentan wahrscheinlicher, dass konservative Regierungen auf einen schrittweisen Ausbau der Zusammenarbeit über konkrete Projekte setzen werden. Ein graduelles Vorgehen wäre auch im Rahmen der "European Political Community“ (EPC) möglich, welche ebenso explizit im IRR23 erwähnt wird. Sie sei ein „bemerkenswertes und willkommenes Forum für europaweite Zusammenarbeit“. Dieser konstruktive Pragmatismus gegenüber europäischen Partnern stammt auch aus einer nüchternen Einschätzung der eigenen Kapazitäten. Diesen steht besonders durch die indo-pazifischen Ambitionen des Landes eine Härteprobe bevor.
Zwischen Euro-Atlantik und Indo-Pazifik
Das prominenteste Element der 2021er IR war der vielbeschworene „Tilt to the Indo-Pacific“. Eine Hinwendung oder Gewichtsverlagerung nach Süd-Ost Asien, wo einerseits Potenzial für vertiefte Handelsbeziehungen gewittert und andererseits das robustere Vorgehen Chinas registriert wurde. Während der IRR23 den „Tilt“ für erfolgreich erklärt, so scheint die Vielzahl jener Stimmen, die spätestens seit dem russischen Überfall vom Februar 2022 anmahnen, dass das VK Gefahr laufe sich strategisch zu überdehnen, auch zu den Autoren der IR durchgedrungen zu sein. Noch stärker als ihr Vorgänger betont die aktuelle Review daher die übergeordnete Bedeutung Europas für das VK. Es wird zwar betont, dass die Sicherheit Europas mit jener des Indo-Pazifiks verbunden sei, doch weisen die verschiedenen Strategien des VKs in beiden Regionen darauf hin, dass man sich in Downing Street 10 sehr wohl der Grenzen britischen Einflusses bewusst geworden ist. Im Euro-Atlantischen Raum wolle man eine Führungsrolle einnehmen, „insbesondere dort wo man den größten Mehrwert beitragen“ könne, speziell als sicherheitspolitischer Akteur. Im Indo-Pazifik soll Einfluss durch Zusammenarbeit mit europäischen Verbündeten und der EU, regionalen Partnerländern und Organisationen ausgeübt werden: „Da das Vereinigte Königreich insgesamt über weniger Ressourcen und eine geringere geografische Präsenz als im euro-atlantischen Raum verfügt, werden wir vorrangig mit Partnern und Institutionen zusammenarbeiten und enge Beziehungen weiterentwickeln, die auf jahrzehntelangen wirtschaftlichen, technologischen und sicherheitspolitischen Bindungen beruhen. Wir werden unsere Bemühungen auch enger mit Partnern abstimmen, die ebenfalls indopazifische Strategien verfolgen, darunter mit der ASEAN, Kanada, der EU, Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, der Republik Korea und den USA.“ Während die disproportionale Bedeutung der weiteren Entwicklung im Indo-Pazifik auf die „Weltwirtschaft, Handelswege, strategische Stabilität und das Völkerrecht“ unterstrichen wird, wird das VK demnach in dieser Region primär mittelbar, durch Partner wirken. Während auch die Vertiefung der Beziehungen zu ASEAN und der erst kürzlich angekündigte Beitritt zum „Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership“ (CPTPP) paradigmatisch für diese Strategie stehen, ist das AUKUS-Projekt mit den Vereinigten Staaten und Australien an dieser Stelle das Aushängeschild britischer Außenpolitik. An seinem Beispiel lassen sich sowohl ihre Stärken ablesen als auch Herausforderungen identifizieren, die in den kommenden Jahren auf sie zukommen werden.
Strategische Ambitionen und politische Realitäten
Im Rahmen von AUKUS soll über mehrere Jahrzehnte Australien mit nuklearen Ubooten ausgestattet werden, um der wachsenden Bedrohung durch China glaubhaft entgegentreten zu können. Es scheint, als wolle das VK gemeinsam mit den USA die Versäumnisse des politischen Westens im Vorlauf des Ukraine-Krieges revidieren. Glaubhafte Abschreckung und das in AUKUS reflektierte sehr langfristige Commitment sollen kommunizieren, dass eine gewaltsame Änderung des Status Quo für Chinas Führung inakzeptable Folgen entfalten würde. “China unter der Kommunistischen Partei Chinas” wird im IRR23 eine “epoch defining challenge” (epochale Herausforderung) genannt, während es 2021 noch als ein “systemic competitor” (systemischer Wettbewerber) eingestuft wurde. Es wird betont, dass die Entwicklung der Beziehungen der beiden Länder nicht vorbestimmt sei, sondern von den zukünftigen Entscheidungen Pekings abhänge. Während China zwar einen potenziellen Partner in der Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen (z.B. des Klimawandels) darstelle, sei der Zusammenarbeit durch die Interessen des VKs Grenzen gesetzt. Der systemische Wettbewerb zwischen den Staaten stelle nun die unmittelbarste und größte Bedrohung für die Interessen des Vereinigten Königreichs dar und rechtfertige ambitionierte strategische Projekte wie AUKUS.
Praktisch gesehen bedeutet AUKUS den Aufbau eines gesamten Wirtschaftszweigs in Australien, gepaart mit einem präzedenzlosen Technologietransfer aus dem VK und den USA sowie dem Transfer amerikanischer Atom-Uboote, um die Jahre zwischen der Ausmusterung der australischen Uboote der Collins-Class und der Fertigstellung der neuen nuklear angetriebenen Boote zu überbrücken. Die endgültige Version der zu entwickelnden Atom-Uboote wird auf einem mit amerikanischen Elementen verstärkten britischen Design beruhen. Sie werden in den späten 2030er Jahren, wahrscheinlich erst zu Beginn der 2040er, an Australien und das VK ausgeliefert. Die industrielle Kraftanstrengung, welche dieses Projekt nach sich zieht, ist in Anbetracht dieses Zeitrahmens, seiner globalen Dimensionen und seiner strategischen Ambition ebenso beträchtlich wie die erforderlichen nachhaltigen Investitionen. Laut Schätzungen der australischen Regierung werden sich die endgültigen Kosten des Projekts zwischen 268 und 368 Milliarden Dollar belaufen. Bei Unterfangen dieser zeitlichen und finanziellen Größenordnung dürfte sich so mancher Beobachter fragen, ob Demokratien in Zeiten stetig wiederkehrender populistischer Strömungen überhaupt noch im Stande sind, diese erfolgreich durchzuziehen. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass früher oder später eine kurzfristiger denkende Regierung abspringt, um stattdessen beliebtere Vorhaben zu finanzieren? Während dieses Risiko sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen ist, ist es offensichtlich, dass es im ureigenen Interesse der drei teilnehmenden Staaten ist, dieses Projekt auch erfolgreich umzusetzen. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen um Demokratien handelt, stellt genau die Stärke dieser Partnerschaft dar, deren drei Staaten über ein gemeinsames Erbe an kulturellen und rechtlichen Traditionen verfügen. Dennoch ist es richtig festzustellen, dass sich an diesem Projekt beweisen wird, ob die in der IR formulierten strategischen Ambitionen des VK auch durch ausreichenden politischen Willen gedeckt sind.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Integrated Review Refresh 2023 eine strategische Reife aufweist, welche dem Vorgängerdokument fehlte. Wie es von einem solch weitblickenden Strategiedokument zu erwarten ist, formuliert es durchaus hochambitionierte Ziele, zu deren Erreichung der Refresh selber nur einen ersten Schritt darstellt. Sowohl bei AUKUS als auch bei der sich abzeichnenden Vertiefung der Zusammenarbeit mit der EU und mit europäischen Partnerländern werden britische Regierungen über die nächsten Jahrzehnte harte Bretter bohren müssen. Die Welt geht in eine geopolitisch rauere Zeit, und die Ressourcen des VKs sind begrenzt. Wie Ian Bond vom Londoner „Centre for European Reform“ anmerkt, sind die selbstgesteckten außenpolitischen Ziele bislang nicht ausreichend solide finanziert. Koordination mit gleichgesinnten Partnern im Ausland und überzeugende politische Führung im Inneren wird daher umso größere Bedeutung zukommen. Diesbezüglich kommentiert Hillary Briffa vom King’s College London, dass der IRR23 mit seinem Fokus auf Kooperation mit einer weiten Gruppe gleichgesinnter Partner in die richtige Richtung geht. Möglicherweise hat sich das VK mit dem Refresh durch die Abkehr vom Schlagwort „Global Britain“ zu Gunsten einer reiferen außenpolitischen Vision seiner wahren globale Rolle angenähert.