Länderberichte
Insgesamt haben 111 Abgeordnete dem Antrag zugestimmt, darunter 19 von Labour und auch die eine Abgeordnete von den Grünen sowie ein Liberaldemokrat. Es gab 15 Tory-Enthaltungen. Unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung hätte das Votum keine bindende Wirkung für die Regierung entfaltet.
Der Antrag sah vor, dass der Bevölkerung die Möglichkeit gegeben werden sollte, über drei Alternativen abzustimmen: einem Verbleib des Status quo, dem Verlassen der EU oder eine Neuverhandlung des Verhältnisses Großbritanniens zur EU. Es wurde in den Medien dabei nur vereinzelt auf die Problematik einer Abstimmung mit drei Möglichkeiten hingewiesen. Denn diese kann im Ergebnis jede Eindeutigkeit vermissen lassen.
Vielmehr ging es in der Auseinandersetzung um die grundsätzliche Frage, wie das Verhältnis des Vereinigten Königreiches zur EU gestaltet werden sollte.
Unmut über zu große Entscheidungsbefugnisse in Brüssel
In der fünfstündigen Debatte wurde vor allem der Unmut der Abgeordneten in London über den zunehmenden Einfluss aus Brüssel zum Ausdruck gebracht. Sie verwiesen darauf, dass inzwischen zu häufig in den Wahlkreisen erklärt werden müsse, dass Vorschriften nicht änderbar seien, da sie aus Brüssel kommen. Den Abgeordneten sei ihr demokratisches Recht für die Gesetzgebung aus den Händen genommen worden und der Wähler hätte keine Möglichkeit mehr, seinen Willen durch Abwahl von Politikern, die diese Entscheidungen heute treffen, Ausdruck zu verleihen. Denn die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden nicht über das Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen, sondern über Listen ihrer Parteien gewählt und die Repräsentation der Wähler erfolgt nicht in gleicher Proportion über alle EU-Mitgliedstaaten. Dadurch sind nach Auffassung vieler britischer Unterhausabgeordneter die Europaabgeordneten nicht direkt in Form einer Abwahl zur Verantwortung zu ziehen.
Viele Redner bemängelten, dass die Bevölkerung bislang nie eine Chance hatte, über die Frage des Verhältnisses zur EU abzu-stimmen. Beim letzten Referendum zu Europa im Jahre 1975 ging es um den Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Common Market). Heute sehe die EU aber vollkommen anders aus als 1975.
Cameron versteht und teilt den Unmut, hält den Zeitpunkt für ein Referendum aber für falsch
Der Ministerpräsident machte deutlich, dass er den Unmut verstehe. Er selbst wünsche eine radikale Reform der EU. Der Zeitpunkt für ein Referendum über einen Verbleib in der EU sei aber derzeit nicht geeignet. Die EU stehe großen Herausforderungen gegen-über. Deshalb müsse Großbritannien engagiert am Verhandlungstisch sitzen und seine Interessen vertreten. „Wenn das Haus des Nachbarn brennt, muss man alles tun, es auszutreten, damit das Feuer nicht auf das eigene Haus überschlägt.“ so Cameron in der Parlamentsdebatte. Regierungspolitik ist es deshalb, sich konstruktiv innerhalb der EU einzubringen und nicht ein Referendum zum jetzigen Zeitpunkt abzuhalten.
Ihm war bewusst, dass der Widerstand aus den hinteren Reihen seiner Partei sehr groß ist. Europa ist schließlich seit Jahren für die Konservative Partei ein Feld für Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund wurde ein „three-line whip“ ausgegeben. Das heißt, eine abweichende Abstimmung gegen die Linie der Regierung hat Konsequenzen für die eigene Karriere. Regierungsmitglieder würden ihre Position verlieren. Zwei Abgeordnete, Adam Holloway und Stewart Jackson, legten dann auch ihre Funktion als Parliamentary Private Secretary nieder, um dem Antrag zustimmen zu können.
Es dürfte aber eine Reihe von Regierungsmitgliedern und Backbencher geben, die bei einer freien Abstimmung ebenfalls den Antrag unterstützt hätten. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Zahl der Tory-Abgeordneten, die sich selbst als euroskeptisch sehen und eine auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum beschränkte Beziehung zur EU vorziehen würden, deutlich größer ist, als die Stimmen für den Antrag, einge-schlossen die Enthaltungen, widerspiegeln.
Unmut hat tiefere Wurzeln
Die Entwicklung bis zu diesem Antrag liegt (dabei) weiter zurück. Die Europaabgeordnete Nikki Sinclaire (Mitglied bei UKIP aber nicht in der Fraktion von UKIP im EU-Parlament) übergab am 8. September 2011 100.000 Unterschriften an Downing Street 10, die ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU forderten. Am Montag, dem 12. September 2011, traf sich im House of Commons zum ersten Mal eine Gruppe von Abgeordneten der Konservativen Partei, die sich im Besonderen mit Europafragen beschäftigen will. Rund 120 Abgeordnete waren anwesend. Fragen, die bei diesem Treffen eine Rolle spielten, waren die Rückholung von Entscheidungsbefugnissen von Brüssel nach London und die Abhaltung eines Referendums über den Verbleib Großbritanniens in der EU. Eingeladen hatte der konservative Abgeordnete George Eustice.
Die neue Gruppe könnte so etwas wie ein Ventil bilden: Die Fragen der Europagegner werden aufgegriffen und diskutiert, aber in einem mehr moderaten Kreis eingebettet und damit abgefangen. Allerdings entfalten Gruppen nicht selten auch eine Eigendynamik und nach der Abstimmung vom Montag kann davon ausgegangen werden, dass die Euroskeptiker das EU-Thema nicht zu den Akten legen werden. Letztlich ist die Spaltung innerhalb der Tories zur EU-Frage, die schon seit Jahren besteht, eher größer und nicht kleiner geworden.
Zudem ist vielen der Backbenchers der Tories nicht nur die Europapolitik der Regierung ein Dorn im Auge. Sie ärgert der Umstand, an eine Koalition gebunden zu sein – nicht zuletzt ein Grund für die pragmatische Europapolitik des Europaministers David Li-dington, die in ihren Augen deutlich von den Vorhaben der Konservativen Partei in Oppositionszeiten abweicht. Aber auch eine Reihe anderer Entscheidungen führt zur Frustration unter den Abgeordneten, unter anderem die Änderung der Wahlkreisgrenzen, die Absenkung der Aufwandsentschädigung und geringe Karriereperspektiven. Vor diesem Hintergrund könnte nicht nur die EU im Fokus stehen, sondern auch der Parteivorsitzende der Konservativen Partei, David Cameron.
Frage bleibt, wie eine reformierte EU aussehen sollte
Die Abstimmung über den Antrag war für die Regierung nicht zu verlieren, da auch die anderen Parteien im Parlament ihre Ab-geordneten verpflichteten, den Antrag abzulehnen. Trotzdem hat das Abstimmungsergebnis den Druck auf Cameron erhöht, zu zeigen, dass er sich um ein neues Verhältnis zur EU bemüht. Er muss seine Vorstellungen klar kommunizieren, welche Kompetenzen er von Brüssel nach London zurückverlagert sehen will. In Diskussionen ist am häufigsten die Arbeitszeitdirektive als ein Beispiel für Regulierungen aus Brüssel zu hören, die eigentlich in die Befugnis der nationalen Parlamente gehörten. Aber diese dürfte nicht der einzige Verhandlungsgegenstand sein.
Es wird von vielen Politikern in London davon ausgegangen, dass es aufgrund der Bemühungen zur Krisenbewältigung innerhalb der Eurozone zu Vertragsdiskussionen kommen wird. Dann bestünde die Chance, dass jedes Land auch eigene Interessen artikulieren kann. Die Aussicht, dass es nur eine minimale Anpassung in Bezug auf die Euro-Länder geben wird, verspricht neue Enttäuschungen. Für Cameron könnte es deshalb in absehbarer Zukunft schwierig werden, wenn von den Euroskeptikern in den eigenen Reihen nach konkreten Ergebnissen gefragt wird.
Was der Wähler will, ist ungewiss
Es gibt keinen Zweifel, dass vor allem in England die Bevölkerung eher europaskeptisch ist. Die Medien tragen sicherlich ihren Teil zu dieser Haltung bei. Dazu kommt, dass grundsätzlich die Wähler gefragt werden möchten. Das Abhalten von Referenden wird überwiegend positiv gesehen. Von allen Themen, zu denen Referenden abgehalten werden könnten, rangiert das EU-Thema ganz oben.
Das gibt aber keinen Aufschluss darüber, wie der Ausgang solch eines Referendums sein würde. Das letzte Beispiel ist die Ab-stimmung über ein neues Wahlrecht im Mai dieses Jahres. Zu Beginn der Debatte gab es eine klare Präferenz für eine Änderung. Das Referendum endete mit einem sehr eindeutigen Ergebnis für die Beibehaltung des Status quo. Das EU-Thema als solches steht auf der Liste der dringenden Probleme mit 1% weit unten. Es könnte gut sein, dass bei einer ausführlichen Debatte des Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft besser gesehen wird, dass es von Vorteil ist, aktiver Teil der Entscheidungen in Europa zu sein.