Länderberichte
“The British Economy - How is it really doing ?” fragte The Economist auf seiner Titelseite vom 10. August 2013. Und in der Tat stellt sich nicht nur für Ökonomen die Frage, ob die leicht positiven Konjunkturdaten in Großbritannien eine tatsächliche Kehrtwende aus dem bisher stagnierenden und eher düsteren Wirtschaftsszenario oder nur eine vorübergehende und v.a nicht nachhaltige Aufhellung darstellen.
Mit einem Wachstum von 0,6 Prozent des BIP im 2. Quartal (nach 0,3 Prozent im ersten Quartal) 2013 hat sich das Wachstum leicht beschleunigt und die Aussichten für 2013 von +1,2 – 1,5 Prozent erscheinen durchaus realistisch. Damit hätte die britische Wirtschaft rund die Hälfte des in den Krisenjahren 2008-2009 um 7,2 Prozent geschrumpften BIP wieder wettgemacht. So steht Großbritannien mehr oder weniger auf einer Stufe mit den nahezu zeitgleich veröffentlichten Wachstumsdaten aus der Eurozone, insbesondere aus Frankreich und Deutschland.
Motor des Wachstums ist der Immobiliensektor, wo der PMI-Index mit 59,29 deutlich über der 50er Marke (= Wachstum) liegt. Die Inflationsrate im August von 2,8 Prozent liegt allerdings noch klar über dem von Regierung und Zentralbank anvisierten Ziel von 2,0 Prozent, welches die britische Zentralbank außerdem gemeinsam mit einer Arbeitslosenrate von 7 Prozent als Grenzwerte definiert hat, um an der bisherigen Niedrigzinspolitik festzuhalten.
Kehrseite dieser positiven Entwicklung ist die nach wie vor bei 7,8 Prozent stagnierende Arbeitslosequote und eine mit 2,8 Prozent zwar moderate Inflation, die aber seit 36 Monten über der Lohnentwicklung liegt. Damit befindet sich zwar die Wirtschaft in den Worten des Finanzministers George Osborne auf dem Weg von der Rettung zur Erholung („from rescue to recovery“), allerdings spüren die meisten Briten davon bisher wenig. Gemäß einer aktuellen Studie der Regierung haben 52 Prozent der Briten Probleme ihre Rechnungen zu bezahlen.
Diese Durchschnittszahlen verdecken allerdings noch ein weiteres und gravierendes Problem. Als eine „Oase in der Wüste britischer Depression“ bezeichnete die FAZ am 2. August das Phänomen der Dominanz Londons. Ohne die Wirtschaftsleistung der britischen Hauptstadt, die rund 20 Prozent des BIP ausmacht, stünde Großbritannien wahrlich schlechter da. Die Durchschnittsgehälter in London liegen 30 Prozent über denen im Rest des Landes, die Immobilienpreise stiegen in London im vergangenen Jahr um über 20 Prozent (der Irrsinn erreichte mit einem für 290 Millionen Euro angebotenen Wohnhaus seinen vorläufigen Höhepunkt) und die Wohlstandsschere öffnet sich so zwischen London und dem Rest Großbritanniens immer weiter.
Und dennoch: nach mehr als drei Jahren wenig Hoffnung machenden Wirtschaftsnachrichten führten diese sanft positiven und mit den oben beschriebenen Fragezeichen versehenen Nachrichten zu einem kollektiven Durchatmen und bescherten vor allem der Regierung Cameron und seiner Konservativen Partei mitten in der Sommerpause einen kaum noch erwarteten Rückenwind im Hinblick auf die Wahlen 2015.
Noch weit entfernt von einem echten Aufschwung wird dennoch von immer mehr Briten die derzeitige Situation als Wendepunkt wahrgenommen. Auch wenn immer noch 56 Prozent der Briten die Wirtschaftslage als „schlecht“ einstufen, so sind das jedoch schon signifikant weniger als noch 72 Prozent im April.
Noch erfreulich liest sich aus der Sicht der Regierung jedoch die jüngste ICM Umfrage des Guardian: Auch wenn hier Labour mit 35 Prozent noch drei Punkte vor den Conservatives mit 32 Prozent liegt (LibDem 14 Prozent und Ukip 10 Prozent), so wird den Tories in dieser Umfrage aber nun mit 40 Prozent eindeutig die größere Wirtschaftskompetenz zugeschrieben (ein Zuwachs von 12 Prozent gegenüber Juni). Ed Milliband und sein Schatten-Finanzminister Ed Balls liegen mit 24 Prozent da deutlich zurück. Damit hat sich die Stimmung bei den Parteien wenige Wochen vor den Parteitagen im September signifikant gedreht. Vom „Sommer der verpassten Chancen“ bei Labour und „Camerons Sonnenwende“ bei den Tories spricht von daher auch zu Recht die FAZ (14. bzw. 12. August).
Zu dieser Situation passt, dass bei den Tories vorerst etwas mehr Ruhe eingekehrt ist. Nach den heftigen und öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen im Kontext der Parlamentsdebatten zur gleichgeschlechtlichen Ehe und der Debatte um die steigende Präsenz der United Kingdom Indepence Party (UKIP) – die in den Umfragen Boden gut macht und trotz irritierender sowie entgleisender Kommentare einiger Mitglieder wie die des UKIP MdEP Godfrey Bloom über Milliarden-Subventionen „an Bongo Bongo Länder“ - offenbar den Liberaldemokraten den dritten Platz in der Wählergunst streitig macht, hat die Sommerpause den Tories gut getan.
Auswirkungen der positiven Umfragewerte
Die positiven Umfragen und damit die Aussicht im Jahr 2015 weiter an der Regierung zu bleiben, scheinen beruhigend gewirkt zu haben, die Personaldiskussion um die Führungsautorität David Camerons sind abgeklungen (selbst Londons schillernder Bürgermeister Boris Johnson hat seine Ambitionen vorläufig zurückgestellt) und der neu verpflichtete australische Wahlkampfmanager Lynton Crosby scheint die Tories auf eine klarer definierte Strategie mit wenigen harten Zielen eingeschworen zu haben. Der Parteitag Ende September wird zeigen, ob dies auch nach der Sommerpause Bestand hat.
Damit könnte ein gewisses deja vu Erlebnis eintreten, wie Jim Pickard in der FT vom 12. August schreibt. Während vor 16 Jahren im Wahlkampf gegen Tony Blair der Slogan „Britain is blooming – don’t let Labour ruin it“ letztlich nicht erfolgreich war, könnte es diesmal passen und eventuell sogar zum Wahlsieg reichen.
Die Erfolgsaussichten haben aber auch mit der bisher dürftigen Performance vom Hauptgegner, Ed Milliband und Labour zu tun.
Während Cameron und die Tories die Sommerpause durchaus wirkungsvoll nutzten und sich medial mit diversen Themen wirkungsvoll in Szene setzen konnten (Energie, Eindämmung von Pornoseiten im Internet und nicht zuletzt die militärischen Muskelspiele vor Gibraltar), war von Labour weit und breit nichts zu sehen.
Auch die NSA-Abhöraffäre charakterisierte sich in Großbritannien durch einen weit geringeren Erregungsgrad als in Deutschland. Lediglich der „Guardian“ widmete dem Thema auf Grund der unmittelbaren Betroffenheit, v.a. nach der mehrstündigen Festhaltung des Guardian Journalisten Miranda am Heathrow Airport in London, eine breitere Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass die britische Regierung davon Kenntnis hatte (wie Innenministerin Theresa May bestätigte), bis hin zur Vermutung, dass No. 10 Downing Street dieses harte Eingreifen unter Hinweis auf Terrorismusbekämpfung ausdrücklich billigte, wurde in Großbritannien eher gelassen aufgenommen und bot Labour keine signifikante Angriffsmöglichkeit. Eine durch diese Ereignisse losgetretene Grundsatzdebatte über innere Sicherheit vs. Meinungsfreiheit ist hier zumindest bis dato nicht zu erkennen.
Der Auftritt der populären Boy Group „One Direction“ am Leicester Square, welcher ein massives Verkehrschaos in der Londoner Innenstadt verursachte, führte zu weitaus mehr medialen Schlagzeilen im britischen Sommerloch.
Vor den Ferien hatte sich Ed Milliband noch mit den Gewerkschaften angelegt (die ihn einst auf den (Labour)Schild hievten) und während der Ferien begannen einige Labour Granden (z.B. George Mudie, Minister unter Blair) öffentlich an seiner Führungskompetenz zu zweifeln. Der parteiinterne Konflikt zwischen „Blairites“ und „Antiblairites“ ist unverändert heftig und der von Milliband verfolgte politische Zick-Zack Kurs ruft bei Anhängern Verwirrung sowie bei Gegnern Schadenfreude hervor.
Der Blick über Inselgrenzen hinaus
Allerdings ist es bis 2015 noch ein weiter Weg. Die Wirtschaftskompetenz allein (als Kombination aus harten Fakten und subjektiver sowie medialer Wahrnehmung) wird den Tories den Weg nicht ebnen. Solange 70 Prozent der Briten immer noch der Meinung sind (siehe YouGov Umfrage), dass die wirtschaftliche Erholung nicht den mittleren und niedrigen Einkommen zu Gute kommt (was die harten Fakten ja auch belegen) gibt es noch so etwas wie ein „Gerechtigkeitsdefizit“ oder wie Martin Kettle im Guardian vom 14. August suggeriert, „the cost of living crisis“.
Dieses Problem glaubwürdig und mit nachhaltigen Konzepten in Angriff zu nehmen dürfte die entscheidende wirtschafts- und sozialpolitische Herausforderung für die nächsten zwei Jahre sein. Die Regierung hat die Chance hier klare Maßnahmen einzuleiten, die Opposition kann ihre Alternativen dazu entwickeln. Gelingt es keinem von beiden, steigen die Chancen für populistisches Marktgeschrei. Das aber kann in Großbritannien niemand besser als UKIP.
Aber vor der Wahl in Großbritannien im Jahr 2015 wird derzeit eine ganz andere Wahl mit hohem Interesse verfolgt: Die Bundestagswahl in Deutschland hat begonnen die politische Debatte vor allem in der Europafrage aber auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht in Großbritannien zu beleben. Die positiven Daten aus der Eurozone und insbesondere aus Deutschland sowie die guten Umfragewerte der Bundeskanzlerin werden in Großbritannien als Zustimmung zur deutschen Konsolidierungspolitik gewertet. Das Bild der Kanzlerin (Daily Telegraph adelte sie sogar zur „Queen of Europe“ 19. August) ist in Großbritannien im Gegensatz zu vielen Ländern des südlichen Europas anerkennend positiv oder zumindest von Respekt geprägt. Die europapolitischen Differenzen scheinen sich zudem signifikant zu reduzieren, so zumindest die hiesige Interpretation einiger Kernsätze der Bundeskanzlerin aus einem Fernsehinterview letzte Woche in Deutschland, bei dem sie u.a. gesagt hat: „Mehr Europa ist mehr als nur die Verlagerung einer Kompetenz vom Nationalstaat nach Europa.“ Und: „Wir können auch überlegen: Geben wir wieder einmal etwas zurück?“
Fast euphorisch reagierten einige Tory-Abgeordnete auf diese Aussagen, sahen sie doch darin eine Bestätigung der britischen Bemühungen Kompetenzen von Brüssel zurückzuführen („repatriation“). Laut FAZ vom 17. August habe man in Berlin „mit Erstaunen registriert, dass diese Äußerungen der Kanzlerin als Schützenhilfe für die Bestrebungen der britischen Regierung gewertet wurden“.
Inmitten der Diskussion über die Frage ob und wie sehr diese Bemerkungen der Bundeskanzlerin auf Großbritannien und David Cameron gemünzt waren, stellt der „Guardian“ in einem Leitartikel vom 19. August drei Gründe in den Vordergrund, warum Großbritanniens Premierminister David Cameron an einem Fortbestand der Regierungskoalition in Deutschland und an einem Wahlsieg der Bundeskanzlerin Angela Merkel interessiert sei.
Erstens: Trotz aller Differenzen und Distanzierungen seien Tories und CDU nach wie vor Schwesterparteien, daran habe auch der Austritt der Tories aus der EVP nichts geändert.
Zweitens: eine Wiederwahl Merkels wäre ein gutes Zeichen für amtierende Regierungen. Nachdem diese überwiegend in Europa abgewählt wurden (Zapatero, Berlusconi, Brown, Sarkozy) wäre ein Wahlsieg der Bundeskanzlerin auch ein Licht im Tunnel der Tories als Regierungspartei.
Drittens: der wichtigste Grund sei jedoch, dass eine Wiederwahl Merkels ein wesentlicher Impuls für Camerons EU-Strategie bedeute. Mit Bezug auf das o.a. Interview wird auch hier eine Annäherung deutscher und britischer Positionen herausgelesen, wobei v.a. in Migration- und Arbeitsmarktfragen Übereinstimmungen gesehen werden. Im Umkehrschluss, so der „Guardian“ gäbe es für die extremen Euroskeptiker unter den Tories nichts schlimmeres als eben diese Wiederwahl, da diese einen wesentlichen Impuls für eine Zustimmung zum Verbleib Großbritannien in der EU beim geplanten Referendum 2017 geben könnte.