Länderberichte
Das Referendum
307 Jahre nachdem Schottland Teil des Vereinigten Königreichs wurde, waren die Schotten am 18.9. aufgerufen im Rahmen eines Referendums die Frage zu beantworten: „Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?“
Nachdem die Scotish National Party SNP mit ihrem charismatischen Vorsitzenden Alex Salmond die Wahlen 2011 mit überwältigender Mehrheit in Schottland gewonnen hatte, setze er alles daran sein Wahlversprechen eines Unabhängigkeitsreferendums einzulösen. Er rang schließlich der britischen Regierung und dessen Premierminister Cameron dieses Zugeständnis ab und begann vor mehr als einem Jahr mit einer breit angelegten Kampagne (YES Campaign) für diese Unabhängigkeit zu werben.
In London war man sich zu diesem Zeitpunkt angesichts der sehr stabilen Umfragewerte (60:40 gegen die Unabhängigkeit) relativ sicher, dass man ohne großen Aufwand ein solches Referendum überstehen könne.
Erst als Anfang 2014 die Umfragewerte in Bewegung gerieten und sich der Abstand zwischen Befürwortern und Gegnern langsam aber konstant verringerte, startete man eine Gegenkampagne unter der Leitung des ehemaligen Labour-Finanzministers Alistair Darling (die sog. Better-Together Campaign). Angesichts der tiefen Abneigung in Schottland gegen die Konservative Partei (die lediglich einen nationalen schottischen Abgeordneten stellt), die noch aus der Thatcher-Regierung herrührt, war es sicher klug einen Labour-Politiker an die Spitze dieser Kampagne zu setzen. Allerdings gelang es dieser bis kurz vor Schluss nicht der positiven, emotionalen YES Kampagne Paroli zu bieten. Die rationalen sachlichen Argumente (Währungshoheit, Wirtschafts- und Sozialpolitik) verfingen nicht, die negativen und drohenden emotionalen Elemente schienen eher die YES-Kampagne zu beflügeln.
Alex Salmond war zudem dem eher blassen Alistair Darling rhetorisch und medial weit überlegen, auch wenn die beiden TV Duelle jeweils 1:1 ausgingen.
Die Sorge auf Seiten der britischen Regierung schlug rund 2 Wochen in regelrechte Panik um, als Umfragen erstmals einen hauchdünnen Vorsprung für die YES-Kampagne prognostizierten und diese bis zum Tag des Referendums letztlich ein Kopf-an-Kopf Rennen vorhersagten mit einem bis zuletzt signifikanten Anteil (rund 10%) unentschlossener Bürger. Angesichts der Tatsache, dass lediglich in Schottland lebende Briten (also keine EU-Bürger und auch keine Schotten außerhalb Schottlands) und erstmals auch Jugendliche ab 16 Jahren wahlberechtigt waren, standen alle Prognosen unter dem Vorbehalt, dass keinerlei vorherige Erfahrungen als Parameter herangezogen werden konnten um die Ungewissheit zu reduzieren.
In der Endphase der Debatten und Diskussionen nahmen die Emotionen deutlich zu und schlugen gelegentlich auch in handfeste Aggressionen um. Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung war ausgesprochen aufgeladen und spaltete Schottland bis hinein in einzelne Familien. Zum Schluss zeigten sich dann auch - angesichts des drohenden Zerfalls des Königreichs – alle Parteien geschlossen in Schottland, Cameron (Conservatives), Milliband (Labour) und Clegg (Liberal Democrats) verfassten einen gemeinsamen Aufruf an die Schotten für einen Verbleib im Königreich zu stimmen und versprachen weitergehende Zugeständnisse und Autonomien fiskalpolitischer und sonstiger Natur.
Britische und internationale Medien kommentierten und analysierten in den Tagen vor dem Referendum jede nur erdenkliche Konsequenz aus einem möglichen Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter, sowohl für Großbritannien (inkl. der Frage des königlichen Staatsoberhauptes, Neugestaltung der Flagge und formalen Bezeichnung des dann verbleibenden Rest of United Kingdom –RUK) als auch für Europa (Auswirkung auf andere Unabhängigkeitsbestrebungen, Mitgliedschaft Schottlands in der EU, Auswirkungen auf das mögliche EU Referendum in Großbritannien 2017, etc.).
Schließlich gelang es zum Ende auch der „better-together Campaign“ mit dem dafür ins Rennen geschickten ehemaligen Labour Premier Gordon Brown (selbst ein Schotte) die so dringend benötige emotionale Komponente zu liefern und entsprechend für das Zusammenbleiben als UK zu werben. Auch Premierminister Cameron reiste nach Schottland und zeigte sich dort von seiner emotionalen Seite („it would break my heat if Scotland leaves…“).
Nach Schließung der Wahllokale um 22.00 h war die Spannung enorm und wohl jeder auf beiden Seiten des Referendums und im ganzen Land sowie in weiten Teilen Europas war sich über die Tragweite dieser Entscheidung bewusst.
Mit einer Wahlbeteiligung von 84,5% stand schließlich nach Auszählung aller 32 Wahlbezirke am Freitagmorgen das Endergebnis fest: 2.001.926 Stimmen für NO (55%), 1.617.989 (45%) für YES, ein eindeutiges Ergebnis, welches angesichts der Umfragen und Aufregung in dieser Deutlichkeit nicht unbedingt erwartet worden war.
Bewertung
Das Ergebnis ist deutlich, allerdings in beiderlei Hinsicht: 55% der Stimmen gegen die Unabhängigkeit und ein Abstand von 10% sind eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Unabhängigkeit Schottlands, die damit als beantwortet gelten kann. Alex Salmond erkannte dies auch in den frühen Morgenstunden (noch vor Bekanntgabe des Endergebnisses an), fügte aber warnend bis drohend hinzu: for this moment ! Er rief alle Schotten dazu auf das Ergebnis anzuerkennen.
Premierminister Cameron trat um 7.00 h morgens vor die Presse und fand ebenfalls den richtigen Ton, indem er einerseits seine Freude und Erleichterung zum Ausdruck brachte, weiterhin in einem Vereinigten Königreich zu leben, andererseits aber auch zu verstehen gab, dass die Sorgen und Wünsche der 45% YES Stimmen ernst zu nehmen seien und dass sich aus diesem Ergebnis Konsequenzen für Schottland, und die anderen Länder Wales, Nordirland und auch und insbesondere England ergeben. Seine Sorge und sein Aufruf gingen insbesondere dahin nun wieder als Nation zusammenzufinden und gemeinsam die anstehend Aufgaben zu meistern.
In der Tat ergeben sich aus dem Ergebnis nun eine Reihe von Fragen und Herausforderungen für Schottland, Großbritannien aber auch für Europa, die nicht nur ernst, sondern konsequent in Angriff genommen werden müssen. Bei aller Erleichterung im Lager der NO-Campaign (und wohl auch mehrheitlich in Großbritannien und Europa) wäre ein „business-as-usual“ oder Übergang zur Tagesordnung eine gravierende Fehleinschätzung und vergebene Möglichkeit Lehren aus diesem Ergebnis zu ziehen.
In Schottland gilt es nun in erster Linie die hoch emotionalisierte Stimmung innerhalb der Bevölkerung zu deeskalieren und die offen zu Tage getretenen Konflikte zu beruhigen. Das wieder friedliche Zusammenleben der Schotten ist eine dringende Aufgabe für Familien, Verbände, Politik und Gesellschaft. Alex Salmond selbst wird voraussichtlich trotz dieser Niederlage vorerst unumstrittener Anführer der SNP bleiben und wird sicher auch die Verhandlungen in London mit der Regierung mit dem notwendigen Selbstbewusstsein und 1,6 Mio. Stimmen im Rücken führen, um die im Wahlkampf geäußerten Versprechen maximal einzufordern. Mit der stellvertretenden Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, die einen immer aktiveren und sichtbareren Part während der Kampagne gespielt hat, ist jedoch auch eine Alternative erkennbar geworden, die in der SNP noch eine größere Rolle spielen könnte.
Auf Seiten der britischen Regierung gilt es nun rasch einen konkreten Verhandlungsvorschlag vorzulegen. So schnell sich die Parteien einig waren, den Schotten weitergehende Zugeständnisse zu machen, so unterschiedlich sind diese Vorschläge jedoch auch im Detail (Höhe von Einkommens- und Unternehmenssteuer, Sozialversicherungswesen, Gesundheitssystem, etc.). David Cameron hat bereits Lord Smith of Calvin mit der Ausarbeitung dieses Vorschlags beauftragt, welcher Ende November vorliegen soll und dann als „Scotland Act“ am 25. Januar 2015 (Burns Night) zur Abstimmung dem Parlament vorgelegt werden soll. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass die entsprechend Gesetzgebung noch vom aktuellen Parlament vor den Wahlen 2015 verabschiedet werden wird.
Premierminister David Cameron konnte mit diesem Ergebnis auch für sich persönlich einen Erfolg buchen. Ein Sieg der YES-Campaign hätte seine Führungsautorität deutlich in Frage gestellt und innerhalb der Konservativen Partei im Vorfeld des Parteitags Ende September und der Wahlen im Mai 2015 mehr als nur eine Leadership Debatte entfacht.
Für Großbritannien bedeutet dieses Ergebnis, dass sich das Land fundamentalen Fragen stellen muss, die seit längerem schwelen und nun im Kontext dieses Referendums offen zu Tage getreten sind. Obwohl das worst-case Szenario abgewendet ist und eine territoriale Zersplitterung abgewendet wurde, ist die Frage nach der nationalen Identität Großbritanniens und damit die Frage was das Königreich über die bestehenden Symbole, die gemeinsame Geschichte und das Königshaus hinaus zusammenhält offen und bedarf eines Diskussion- und Klärungsprozesses, der langwierig und komplex sein wird.
Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass eine Debatte über die territoriale Struktur und die politische innere Ordnung des Landes in Gang getreten wurde. Mit den nun angebotenen weiteren Zugeständnissen an Schottland entstehen berechtigte Forderungen aus Wales, Nordirland und insbesondere Englands auf, die letztlich nur im Rahmen einer wie auch immer gearteten föderalen Neuordnung gelöst werden können. Dazu gehört auch die Forderung eines nationalen Parlaments in England sowie die komplexen Fragen hinsichtlich der Abstimmungen im House of Commons.
Für die Europäische Union hat dieses Ergebnis ebenfalls weitreichende Folgen. Einerseits konnte die vorhersehbare negative Auswirkung auf ein mögliches EU-Referendum in Großbritannien (2017) abgewendet werden (bei einer Unabhängigkeit Schottlands wäre die EU-Ablehnung im restlichen Großbritannien mit stärker nationalistischen Tendenzen vermutlich gestiegen) und es drängen sich Lehren aus dem Schottland Referendum für dieses EU Referendum auf Grund der Parallelität der entsprechenden Diskussionen geradezu auf (Vermeidung einer reinen Negativ- und Drohkampagne, Notwendigkeit eines emotionalen Positiv-Plädoyers, etc.).
Andererseits wäre eine Unabhängigkeit Schottlands mit Sicherheit auch Wasser auf die übrigen Unabhängigkeitsbestrebungen in Europa (Katalonien, Baskenland, Venetien, Flandern, etc.) gewesen und hätte komplexe Fragen nach einer Aufnahme Schottlands in die EU aufgeworfen.
Aber auch hier gilt: die 45% Zustimmung für die Unabhängigkeit waren auch eine warnende Stimme an Europa: der Wunsch nach eigener Identität und Selbstbestimmung, die Ablehnung einer Bevormundung und Fremdbestimmung sowie die Verdrossenheit bezüglich einer allzu selbstherrlichen und bürgerfernen Politikerelite sind Elemente, die nicht nur für die Beziehung zwischen Edinburgh und London, sondern sicher auch auf die Beziehungen zwischen Mitgliedsstaaten und der EU gelten. Die Ergebnisse der jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament waren eine deutliche Warnung, das Referendum in Schottland beinhaltet diese Warnung ebenfalls und sollte von daher nicht auf das innerbritische Verhältnis reduziert werden.
Schottland hat gewählt und letztlich nicht nur aus dem Bauch heraus, sondern mit Herz UND Verstand abgestimmt.
Großbritannien hat erlebt, das „together“ in der Tat „better“ ist, bleibt abzuwarten (und zu hoffen) dass sich diese Erkenntnis letztlich auch in der Frage der EU-Mitgliedschaft durchsetzt.