Länderberichte
Die Nacht vom 26. zum 27.Juni 2007 hatte Symbolkraft. Um die Privatwohnung des Premiers über den Diensträumen in 10 Downing Street gleich nach seiner Ernennung durch die Königin am 27.6. für Gordon Brown verfügbar zu machen, waren sämtliche privaten Gegenstände der Familie Blair bereits aus dem Haus geschafft worden. Und so bestand das letzte Abendessen des erfolgreichsten Labour-Premierministers in der Geschichte Großbritanniens in seinem Amtssitz aus einem indischen Take away in Pappkartons und Alufolie, die Nacht verbrachte das Ehepaar Blair auf einer Matratze, die Kinder in Schlafsäcken. Blair war am Boden.
Sonderfall London
In den Umfragen führten die Konservativen mit deutlichem und stabilen Vorsprung, eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung war der Auffassung, Blair sei unglaubwürdig, out of touch, PR-gesteuert und viel zu lange im Amt. Nur rund 25% der Wähler bewerten seine Amtszeit als gut oder sehr gut, mehr als 60% glauben, Großbritannien sei heute ein wenige schöner Platz zum Leben als 1997, dem Jahr, in dem Blair ins Amt kam. Trotz milliardenschwerer Investitionen in öffentliche Dienstleistungen ist die Bewertung über den Zustand des Gesundheitswesens und des öffentlichen Verkehrssystems in Großbritannien negativ. Gleiches gilt für das Bildungswesen. Blair begann seine Amtszeit 1997 mit den „drei Schwerpunkten“: „Education, Education, Education“. Heute, 10 Jahre später, schicken 6% mehr Eltern ihre Kinder auf Privatschulen und geben damit dem staatlichen Schulsystem schlechte Zensuren. Niemals zuvor seit dem 2.Weltkrieg war der Abstand zwischen arm und reich in der britischen Bevölkerung größer, als heute unter einer Labour-Regierung. In 10 Jahren Labour sind die Hauspreise im Schnitt des Landes um 156% gestiegen, die Löhne und Gehälter nur um 35%. Besonders krass sind die Entwicklungen in London.
Die Lebenshaltungskosten in London liegen im Schnitt um 23% über denen in anderen Teilen Großbritanniens. Rund 750.000 Euroverbraucht jemand mehr in seinem Leben, der in London wohnt. Für ganze Gruppen der Gesellschaft ist das Leben in der Hauptstadt nicht mehr bezahlbar. Lehrer, Krankenschwestern, Polizisten müssen täglich immer mehr Zeit auf verstopften Strassen oder in veralteten öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen, um irgendwo anzukommen, wo das Leben für sie bezahlbar ist. Zugleich werden in der City für dieses Jahr mehr als 10 Milliarden Pfund allein an Bonus-Zahlungen erwartet. Aber die Schatten sind lang.
Großbritannien hat heute die höchste Pro-Kopf-Verschuldung in Europa. Nirgendwo sonst sind so viele Familien zerrüttet. Millionen von Briten sind mittlerweile Teil des Teufelskreises von Armut, schlechter Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Die Gesellschaft ist gespalten, in Teilen zerbrochen.
Blairs Europapolitik zu zaudernd
Ein langjähriger, hoher Beamter hat kürzlich über Aspekte der Regierungszeit von Labour gesagt: „Britain is talking the talk, not walking the walk“. Dieses Urteil muss auch über die Europapolitik gefällt werden. Blair hat seine parlamentarischen Mehrheiten, sein Charisma, seinen ursprünglichen Enthusiasmus für Europa nicht genutzt, um seine Vorstellung umzusetzen, „to put Britain at the heart of Europe“. Seit Jahren wird die europapolitische Debatte den Gegnern und Skeptikern Europas überlassen. Dabei spielen Ausgewogenheit und Faktentreue nur selten eine Rolle. In diesem Umfeld ist eine ganze Generation junger Politiker groß geworden, die heute bei Labour und Tories in die Verantwortung kommt. Bei ihnen geht die emotionale Skepsis gegenüber Europa einher mit einem mangelnden Interesse an der Mitarbeit an den komplexen Themen der Europäischen Union. Beides macht es im Ergebnis immer schwieriger, unterschiedliche Konzepte sachgerecht zu überwinden.
Labours Bilanz
Unter dem Druck insbesondere der Murdoch-Presse und ihrer aggressiven Kampagnen gegen Europa stand Blair, als er 2004 völlig unerwartet eine Kehrtwende machte und gegen alle vorangegangenen Erklärungen ein Referendum zum damaligen Verfassungsvertragsentwurf der EU ankündigte. Gleiches versuchen die „Sun“ und der „Daily Telegraph“ heute mit Brown. Die außenpolitische Heimatlosigkeit Großbritanniens wird damit zunehmend größer, denn auch das Verhältnis zu den USA ist durch den Irak-Krieg erschüttert. Nichts aber hat Tony Blair mehr geschadet, als dieser Krieg und seine vermeintlich bedingungslose Gefolgschaft zu George W.Bush. Seine weitgehend einsame Entscheidung zu einem vollen britischen Engagement an der Seite der Amerikaner hat Blair letztlich um sein Ansehen und seinen Job gebracht.
In seiner Abschiedsrede verwies er darauf, daß nach 1945 nur die von ihm zehn Jahre lang geführte Labour-Regierung sagen könne, sie habe es erreicht, dass
- mehr Arbeitsplätze entstanden sind,
- weniger Menschen arbeitslos sind,
- das Gesundheitswesen, Schule und Ausbildung verbessert wurden,
- die Kriminalität gesunken,
- und die Wirtschaft in jedem Quartal gewachsen ist.
Das ist richtig, aber es erschien als nicht ausreichend, um die Erwartungen auch der eigenen Partei, die Unzufriedenheit über Irak und die Zweifel an Blair’s Glaubwürdigkeit zu überwinden. Während er 2001 vermeintlich über Wasser hätte laufen können, war 2006 auch eine richtige und erfolgreiche Politik nicht mehr geeignet, den Trend zu drehen. Gordon Brown hat dies alles in Ruhe und aus der zweiten Reihe beobachten und für sich Lehren daraus ziehen können. Niemand im Vereinigten Königreich hat sich auf einen Job, für den er bestimmt zu sein schien, besser vorbereiten können, als Brown – wenn man einmal von Prince Charles absieht. Er war der mächtigste Mann nach Blair und er hat stets sichergestellt, dass er in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sein eigner Herr sein konnte. Den Haushalt bekam Blair gelegentlich erst wenige Stunden zu sehen, bevor ihn Brown dem Unterhaus in zumeist eindrucksvollen Reden präsentierte.
Großbritannien und der Euro
Zur von Blair immer wieder angestoßenen Mitgliedschaft Großbritanniens in der Euro- Zone entwickelte Brown mit seinen engsten Mitarbeitern fünf Kriterien, die seither die Messlatte bilden – nicht die politischen Vorgaben des Premiers. Und so bleibt auch die insgesamt erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung Großbritanniens der letzten 10 Jahre in erster Linie am bisherigen Schatzkanzler und nicht am Premier hängen, wenngleich dieses Urteil in Teilen ungerecht ist.
Über das Verhältnis Blair/Brown gibt es ganze Regale von Büchern, die dem zu empfehlen sind, der sich für die Feinheiten der politischen Intrige interessiert. Die beiden waren ein kongeniales Paar, das dem Land ganz zweifelsfrei genutzt hat. Jetzt regiert Brown alleine. Es gibt keinen, auf den er mit dem Finger zeigen kann. Die Jahre der Beobachtung und Vorbereitung – so scheint es – haben sich für ihn gelohnt. Er proklamiert einen Neuanfang, als habe es Brown in hoher Verantwortung vorher nie gegeben. Er setzt sich in Stil rücksichtslos von Blair ab und raubt den Tories ihre Themen. Hinzu kamen schon in den ersten Tagen Herausforderungen, die es Brown erlaubten, Kompetenz und Führungskraft zu zeigen. Das waren die versuchten und verhinderten Terroranschläge in Glasgow und vor einer Diskothek in London und eine Flutkatastrophe, bei der er Führung und Mitgefühl zugleich zeigte.
Kabinett aller Talente
Brown wirkt ruhig und bedächtig, wo Blair aktionistisch erschien. Seine Reden und Stellungnahmen wirken nicht mitreißend, wie bei Blair. Aber sie beruhigen und schaffen Vertrauen. Kluge Entscheidungen der ersten Tage haben der konservativen Opposition Teile ihrer Munition geraubt. Brown hat z.B. demonstrativ die Rolle des Parlaments gestärkt, wo Blair es durch Nichtbeachtung strafte. So soll das Unterhaus künftig über die Beteiligung Großbritanniens an Kriegen entscheiden – dies hat Blair im Fall von Irak und Afghanistan allein getan. Das Kabinett wird wieder zum Beschlussgremium – und nicht nur konsultiert, wenn es passt. In der zweiten Reihe der Regierung sitzen jetzt ein paar parteipolitisch ungebundene Fachleute, die es Brown erlauben, von einem „Kabinett aller Talente“ zu sprechen. Und die Entscheidung Blairs, den von ihm ernannten politischen Beratern Weisungsrecht gegenüber den Beamten zu geben, ist bereits von Brown widerrufen, ein Signal gegenüber den civil servants, dass ihre Kompetenz und Beratung wieder gefragt sind.
Browns Agenda
Noch vor der jährlichen Rede der Königin zur Eröffnung der neuen Saison des Parlaments, in der jeweils die Regierungspolitik des nächsten Jahres angekündigt wird, hat Brown ein 39 Milliarden-Pfund-Programm vorgestellt, das auf viele Punkte der Kritik eingeht, die an seinem Vorgänger geübt wurde. So sollen massive Mittel in die Verbesserung des Nahverkehrs und insbesondere der Eisenbahn gesteckt werden, um Pendlern zu helfen.
Der Verteidigungshaushalt wächst außerplanmäßig um zusätzlich 1,5%. Davon sollen zwei neue Flugzeugträger für insgesamt 3,9 Mrd. Pfund gebaut und 10.000 Arbeitsplätze gesichert werden. Eine Milliarde geht in die Erneuerung des nuklearen Waffensystems Trident und 550 Mio. Pfund in die Verbesserung der Unterkünfte der britischen Soldaten. Bis 2010 sollen 3500 neue Zentren für die Betreuung von Kleinkindern entstehen, um berufstätige Mütter zu unterstützen. Und mit 8 Mrd. Pfund sollen zwischen 2008 und 2011 tausende neuer Häuser und Wohnungen gebaut werden, um insbesondere jungen Familien einen Einstieg in den Wohnungsmarkt zu eröffnen. Diese Entscheidungen und ein neuer Stil zeigen Wirkung. Nach jüngsten Umfragen liegt Labour erstmals seit Jahren wieder mit 10% Vorsprung vor den Tories.
Viele der Tory-Granden, die in den letzten Monaten geschwiegen haben, als die Konservativen mit deutlichem Abstand vor Labour führten und David Cameron, ihr junger Vorsitzender, wie ein Moviestar gefeiert wurde, melden sich jetzt zu Wort, wo es anders aussieht. Häme, Kritik und Besserwisserei zeigen eine Partei, die nur im Erfolg geeint ist.
Zugleich aber zeigt sich, dass es zumindest voreilig von den Tories war, ihren charismatischen Vorsitzenden als „Erben Blair’s“ zu feiern. Diese Erbschaft würde im Moment eine wohl große Mehrheit der Briten ausschlagen. Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass Brown kurzfristig Neuwahlen ansetzt, um die Zustimmung zu nutzen, die er im Moment erhält. Das kann 2009 oder 2010, wenn spätestens zu wählen sein wird, schon anders aussehen. Dann mag sich Großbritannien nach einem Mann vom Schlage Blair’s zurücksehnen.
So wird es nicht lange dauern, bis in den britischen Wettbüros Geld darauf gesetzt wird, ob Elizabeth II nach Churchill, Eden, Macmillan, Douglas-Home, Wilson, Heath, Callaghan, Thatcher, Major, Blair und Brownauch noch einen zwölften Premierminister ernennen wird oder Gordon Brown als erster Regierungschef in nahezu 60 Jahren einem neuen König beim Tee Bericht erstattet.