In den Wochen vor dem Kriegsausbruch war die Londoner Regierung und das Parlament in Westminster mit einer Reihe schwieriger Herausforderungen beschäftigt. Als wären die Bewältigung der Corona-Pandemie sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit und die zähen Verhandlungen mit der Europäischen Union über das Nordirland-Protokoll nicht fordernd genug gewesen, drohte Premierminister Boris Johnson seit Januar 2022 in Folge des „Partygate“-Skandals die Kontrolle über Teile seiner Partei zu verlieren. Inmitten nahezu täglicher Meldungen über unangemessene Feiern in Downing Street 10 während des Corona-Lockdowns, fand ein Beitrag des britischen Verteidigungsministers Ben Wallace über die Bedrohung durch russische Truppenbewegungen entlang der ukrainischen Grenze kaum Beachtung jenseits interessierter Zirkel. Im Nachhinein betrachtet erscheint der Artikel beinahe prophetisch.
Die Vorgeschichte einer Invasion
Verteidigungsminister Wallace ging in seinem auf der offiziellen Regierungsseite veröffentlichten Beitrag „An article by the Defence Secretary on the situation in Ukraine“ vom 17. Januar auf eine Reihe russischer Beschwerden ein. Er legte dar, dass weder die NATO noch die Ukraine das russische Volk bedrohen. Besonders bemerkenswert ist Wallaces forensische Analyse des mittlerweile berüchtigten Artikels, den Wladimir Putin im Sommer 2021 veröffentlicht hatte. Sein Essay „Zur historischen Einheit der Russen und Ukrainer“ war seinerzeit von vielen Kommentatoren als Kuriosum abgetan worden. Wallace aber nahm Putins Argumente ernst. Während er keinen Zweifel an der Inkohärenz der Argumente Putins ließ, nahm Wallace, der schon seit März 2021 auf eine Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine gedrängt hatte, den russischen Präsidenten beim Wort. Er beendete seinen Essay mit einer Mahnung: „Sollten russische Panzer eines kalten Tages im Januar oder Februar wieder einmal über die Grenze zur souveränen Ukraine rollen, (...) erinnert euch an die Worte im Essay des russischen Präsidenten vom letzten Sommer. Erinnert euch und fragt euch, was sie nicht nur für die Ukraine, sondern für uns alle in Europa bedeuten“. Möglicherweise wurde der Artikel des Verteidigungsministers, genau wie der Besuch seines Premierministers in Kiew am 3. Februar, auch deshalb von der medialen Öffentlichkeit mit einem gewissen Argwohn betrachtet, weil sie vermeintlich von der unangenehmen Partygate-Debatte und dem volatilen Zustand der Conservative Party im House of Commons ablenken sollten.
„Die akuteste Bedrohung unserer Sicherheit“
Boris Johnson hatte während seines Besuches in der ukrainischen Hauptstadt klare Worte gewählt. Er sprach von einem „unmittelbar bevorstehenden russischen Überfall“ auf die Ukraine. Drei Wochen vor Beginn der Invasion warnte Johnson, dass das Vereinigte Königreich gemeinsam mit seinen Partnern ein Sanktionspaket vorbereite, dass in Kraft treten würde, „sobald der erste Stiefel eines russischen Soldaten ukrainisches Gebiet“ betrete. Diese Botschaft stand im Kontrast zum Auftreten der Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz, der Unsichtbarkeit und fehlendes Engagement vorgeworfen wurde. Der Besuch Johnsons in Kiew und die ebenso markigen Warnungen von Außenministerin Liz Truss wurden jedoch noch im Licht der heimischen Regierungskrise dargestellt. Vor allem die Besuche der Außenministerin in Kiew und Moskau, wo ihr russischer Amtskollege Lawrow sie nahezu auflaufen lies, wurden in britischen Medien von Spekulationen über die Karriereambitionen der Instagram-affinen Truss begleitet. Gleichwohl basierte diese klare Haltung Londons auf der sogenannten „Integrated Review“ mit dem Titel „Global Britain in a Competitive Age“ vom März 2021, dem Schlüsseldokument britischer Außen- und Sicherheitspolitik. In ihr wurde Russland als „die akuteste Bedrohung unserer Sicherheit“ beschrieben. Die englische Tageszeitung „The Times“ berichtete, dass der Premierminister bereits im Laufe des letzten Jahres die von Ben Wallace angefragten Waffenlieferungen nach Kiew gebilligt hatte. Dennoch zweifelten selbst ranghohe Ex-Militärs und auch Beamte im Foreign Office an der persönlichen Eignung des geschwächten Premiers für die eskalierende Krise im Osten Europas.
Als sich im Februar jedoch abzeichnete, dass sich die russischen Streitkräfte nicht zurückziehen würden, und US-amerikanische Nachrichtendienste wiederholt bestätigten, dass ein russischer Überfall unmittelbar bevorstand, wurde es immer deutlicher, dass die frühzeitige Lieferung von 2,000 NLAW-Panzerabwehrlenkwaffen und die Entsendung von britischen Ausbildern im Januar mehr als Aktionismus war. Zudem kann die offensive Veröffentlichung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse gemeinsam mit den USA, kombiniert mit der schnellen Überprüfung und auch Widerlegung russischer Behauptungen, als ein Schlüsselelement der britischen Strategie im Vorfeld des Krieges bezeichnet werden. Die britische Regierung hat damit gemeinsam mit der US-Regierung erfolgreich den Informationsraum dominiert und russische Narrative marginalisiert. Ein zusätzlicher Effekt des offensiven Umgangs mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen könnte zudem eine Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung der Nachrichtendienste sein. Als Außenministerin Truss Ende Januar vertrauliche Informationen des britischen Auslandsnachrichtendienstes MI6 veröffentlichte, die darauf hinwiesen, dass Russland einen Staatsstreich in Kiew plante, war dies außergewöhnlich. Zum ersten Mal seit Irak 2003 veröffentlichte die britische Regierung geheime Erkenntnisse, um ihre außenpolitische Haltung zu rechtfertigen. Die informationelle Aufdeckung russischer Kriegspläne könnte möglicherweise zu einer Rehabilitation der Nachrichtendienste nach dem Irakkrieg und den Wikileaks-Enthüllungen beitragen. Für die Abwehr hybrider Angriffe und psychologischer Manipulationsversuche werden sich aus diesen Februarwochen mit Sicherheit Lehren ziehen lassen.
Militärische Reaktionen, Sanktionen und Solidarität
Schon nach der Krim-Annexion im Jahre 2014 hatten die Briten im Rahmen der „Operation Orbital“ mit der Ausbildung von über 20,000 ukrainischen Soldaten militärische Unterstützung geleistet. Als sich die Lage Anfang des Jahres an der Grenze zu Russland zuspitzte, war das Vereinigte Königreich der erste europäische Staat, der defensive Waffen lieferte. Nach Beginn der Invasion verlegte es im Rahmen einer NATO-Kampfgruppe Panzer vom Typ „Challenger 2“ sowie 1,000 Soldaten nach Estland. Zusätzlich wurde das Hochseepatrouillenboot HMS Trent ins östliche Mittelmeer entsandt und vier Typhoon-Kampfflieger nach Rumänien und Polen verlegt.
Während die britische Regierung in der Öffentlichkeit die Geschlossenheit aller NATO-Partner beschwor, hielt sie sich bei der Verhängung von Sanktionen nicht zurück und drängte gemeinsam mit den Staaten der „Joint Expeditionary Force“ (Dänemark, Estland, Lettland, Litauen, Schweden, Norwegen, Island und den Niederlanden) auf eine harte Linie. Bei den Swift-Sanktionen sowie den weitergreifenden Finanz- und Wirtschaftssanktionen spielte London eine führende Rolle. Dieser Eindruck bestätigte sich zuletzt Anfang März, als in enger Abstimmung mit den USA verkündet wurde, russische Ölimporte bis Ende 2022 auslaufen zu lassen. Das Vereinigte Königreich importiert lediglich 4% seines Gasbedarfs und zwischen 6 und 13% seines Ölbedarfs aus Russland. Während das Königreich damit bei weitem nicht so abhängig von russischer Energie ist wie die EU (40% ihrer Gas- und knapp 25% ihrer Ölimporte stammen aus Russland), rechnet das Finanzministerium damit, dass das Embargo die ohnehin schon steigenden Energiekosten im Lande weiter in die Höhe treiben wird. In Anbetracht der explodierenden Lebenshaltungskosten sind die mit dieser Maßnahme verbundenen Belastungen für die Bevölkerung keineswegs zu unterschätzen.
Ein wichtiger Faktor war auch die intensive Besuchsdiplomatie der britischen Regierungsspitzen, vor allem im Umgang mit der Ukraine und den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedern. Nicht nur der frühzeitige Besuch von Boris Johnson in Kiew sowie die klare Ansage, Solidaritätsappelle auch mit konkreter militärischer Unterstützung zu flankieren, haben Wirkung entfacht. Es ist daher verständlich, dass Präsident Wolodimir Selensky nach seinem Auftritt im Europäischen Parlament zuerst im Londoner House of Commons gesprochen hat, nicht in Berlin oder Paris. Bemerkenswert waren auch die vielen Begegnungen und öffentlichen Auftritte mit den Regierungsspitzen der mittel- und osteuropäischen Staaten. Es war Boris Johnson und nicht ein EU-Regierungschef, der die Ministerpräsidenten der sogenannten Visegrad-Länder (Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn) empfangen hat. Außenpolitische Reife, die zeitweise in dem einen oder anderen europäischen Partnerland hinterfragt wurde, ist dem britischen Regierungschef hier zuzuschreiben. Es unterstreicht auch das Vertrauen, dass dem Vereinigten Königreich insbesondere von den Staaten Mittelosteuropas entgegengebracht wird. Sie haben mehrheitlich schon lange die Bedeutung von „Hard-Power“ im Umgang mit Wladimir Putin angemahnt und erkennen im durchaus robusteren Vorgehen der Londoner Regierung mehr Verlässlichkeit.
Das Ende Londongrads?
Während das Vereinigte Königreich bei der Lieferung defensiver Waffen und der militärischen Ausbildung ukrainischer Kräfte als auch bei der Verhängung der oben genannten Sanktionen eine Führungsrolle innehatte, hinkte die britische Regierung bei den Sanktionen gegen spezifische Individuen klar hinter ihren europäischen Partnern her. Gerade im Zusammenhang mit der neu entflammten Debatte über die Rolle russischen Geldes in London haben die Verzögerungen bei der Sanktionierung prominenter Oligarchen für Kritik gesorgt. Über viele Jahre war insbesondere die britische Hauptstadt wegen der Intransparenz des britischen Unternehmensregisters, ihres starken Dienstleistungssektors und weitreichender steuerlicher Vorteile zu einem Magneten für russische Oligarchen geworden. Es war möglich bei „Company House“, dem britischen Unternehmensregister, Briefkastenfirmen anzumelden, ohne die persönliche Identität preisgeben zu müssen. Bezeichnungen wie „Londongrad“ oder „Moscow-on-Thames“ symbolisierten eine Dynamik, mit der russisches Geld nicht nur in Unternehmen und Immobilien floss, sondern auch in das britische Parteiensystem. Insbesondere die Konservative Partei soll beträchtliche Summen von russischen Oligarchen erhalten haben.
Ein Bericht des Nachrichtendienstlichen Ausschusses des House of Commons im Jahre 2020 kam zu dem Schluss, dass „russischer Einfluss im Vereinigten Königreich der neue Normalzustand“ sei, und dass es „viele Russen mit sehr engen Verbindungen zu Wladimir Putin gebe, die wegen ihrer Vermögen sozial und wirtschaftlich akzeptiert“ würden. Der „Economic Crime Act“, ein Gesetz, dass helfen soll die Identität von Personen hinter Briefkastenfirmen aufzudecken, war wiederholt auf die lange Bank geschoben worden. Als die Regierung im Zuge des Krieges das Gesetz dann im Eilverfahren durch das Parlament brachte, hatte die ursprünglich darin enthaltene Schonfrist von 18 Monaten auch in den Reihen der Konservativen Partei für Unmut gesorgt. Sie wurde auf sechs Monate reduziert, um zu verhindern, dass mit Sanktionen belegte Individuen ihren Besitz dem Zugriff der britischen Behörden entziehen können.
Zudem machte die Regierung nur sehr langsam Fortschritte bei der Sanktionierung spezifischer, stadtbekannter Oligarchen mit Verbindungen zum Kreml. Während Außenministerin Truss behauptete, dass die Verzögerungen auf rechtliche Hürden zurückzuführen seien, auf die das House of Lords bestanden habe, passt die offensichtliche Behäbigkeit an dieser Stelle nicht zum selbst verleihten Image eines vom sogenannten Brüsseler „Bürokratiemonster“ entfesselten, reaktionsschnellen Staates. Als in der zweiten Märzwoche sieben Oligarchen, unter anderem der Eigentümer des Chelsea Football Club, Roman Abramowitsch, sanktioniert wurden, wurde das in den Medien als ein längst überfälliger Schritt angesehen. Der „Economic Crime Act“, welcher am 14. März die königliche Zustimmung erhielt, sieht diesbezüglich vor, dass von der EU sanktionierte Individuen ohne weiteres auf die britische Sanktionsliste übertragen werden können.
Noch am gleichen Tag verkündete Außenministerin Truss, dass hunderte weitere Personen mit Sanktionen belegt werden. Auch wenn in diesem Bereich nun aufgeholt wurde, ist wertvolle Zeit verloren gegangen. Es ist daher wenig überzeugend, wenn in Westminster Verfahrensgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für die Verzögerungen verantwortlich gemacht wurden, da die Mitgliedsländer der EU ebenso an die Konvention gebunden sind. Der Eindruck, dass undurchsichtige Verquickungen in Wirtschaft und Politik an dieser Stelle Untätigkeit gefördert haben, ist nur schwer zu vermeiden.
Verwirrung in der Asylpolitik
Im Gegensatz zu der in Großbritannien oft als ineffizient dargestellten EU hat die britische Reaktion auf den Strom von Flüchtlingen aus der Ukraine anfangs einen zögerlichen und auch chaotischen Eindruck hinterlassen. Unter geltendem Recht können nur Familienangehörige von im Vereinigten Königreich ansässigen Ukrainern sowie von britischen Unternehmen oder Gemeinden gesponserte Personen ein Visum erhalten. Bis Mitte März mussten Flüchtlinge entsprechende Bewerbungen in Asylzentren auf dem europäischen Festland einreichen. Nachdem bekannt wurde, dass in der ersten Märzwoche lediglich 500 solcher Visa ausgestellt worden sind, kritisierten Kommentatoren die Regelungen als „unnötig bürokratisch“ und „beschämend“. Auch konservative Abgeordnete gingen auf Konfrontationskurs zu Innenministerin Priti Patel, die mit widersprüchlichen Äußerungen zu Asylzentren in Frankreich für Verwirrung gesorgt hatte. Obwohl das Home Office für den Familiennachzug eine stattliche Obergrenze von 200,000 ukrainischen Flüchtlingen festgelegt hat, hat die Regierung mit ihrem fahrigen Vorgehen gegenüber ukrainischen Flüchtlingen viel guten Willen zunichte gemacht.
Eine Kurskorrektur erfolgte dann mit dem am 14. März angelaufenen „Homes for Ukraine“- Programm, welches Privatpersonen, Unternehmen und gemeinnützigen Vereinen ermöglicht, Flüchtlinge aus der Ukraine zu sponsern. Bereits wenige Stunden nach dem Start der entsprechenden Regierungswebseite, hatten sich über 45.000 Briten dafür angemeldet. Es bleibt zu hoffen, dass die sich abzeichnende Hilfsbereitschaft großer Teile der britischen Gesellschaft der anfänglich als bürokratisch und kaltherzig erscheinenden Reaktion der Regierung neuen Antrieb verleiht. Der Hinweis, dass Ukrainer besser so nah an ihrer Heimat wie möglich untergebracht werden sollten, mag richtig sein, kann aber die widersprüchliche Kommunikation des Innenministeriums und die fehlende Vorbereitung nicht entschuldigen. Frühzeitige Koordination mit seinen europäischen Partnern wäre an dieser Stelle vorteilhaft gewesen und sollte in Zukunft forciert werden.
Global Britain und die Europäische Sicherheitsordnung
Im Hinblick auf die außen- und verteidigungspolitischen Aktivitäten Londons lässt sich bereits heute feststellen, dass die russische Invasion in die Ukraine das britisch-europäische Verhältnis neu justiert hat. Die „Integrated Review“ von 2021, die als Blaupause des „Global Britain“-Konzeptes gilt, wurde vor allem mit seiner globalen Ausrichtung - weg von Europa in Richtung Indo-Pazifik – wahrgenommen. Dennoch wurde in diesem Konzept an vielen Stellen ausgeführt, dass das Land zuallererst eine „Euro-Atlantische Macht“ sei. Das Königreich bleibe mit der Sicherheit und dem Wohlstand in Europa tief verbunden. Es werde dort mit der EU zusammengearbeitet, wo “unsere Interessen übereinstimmen, zum Beispiel in der Unterstützung von Stabilität und Sicherheit auf unserem Kontinent“. Angesichts der kriegerischen Invasion und dem Angriff Russlands auf die europäische Ordnung legt das Vereinigte Königreich seinen Fokus offensichtlich wieder verstärkt auf diesen europäischen Pfeiler und die Verteidigung des Kontinents.
In den letzten Jahren drehte sich die Debatte um eine Neuausrichtung der Streitkräfte weg vom Szenario „altmodischer“ Panzerschlachten auf dem europäischen Festland und hin zur Sicherung lebenswichtiger Handelsrouten im Indo-Pazifik, weg von einem massiven Heer, hin zu mobilen Eingreiftruppen und Cyber-Operationen. Hierfür soll der Verteidigungshaushalt auf 2.2% des BIP erhöht werden. Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine hat eine schlagartige Veränderung dieser Debatten zur Folge. Geplante Einschnitte bei der Panzertruppe werden nun hinterfragt. Die Truppengattung scheint plötzlich nicht mehr so veraltet wie noch ein Jahr zuvor.
Das Grundmuster der britischen Außen- und Verteidigungspolitik nach dem Brexit war, wo immer möglich, auf bilaterale Kontakte und auch Vereinbarungen zu einzelnen europäischen Staaten zu setzen. Mit Deutschland wurde zum Beispiel im Juni 2021 eine „Joint Declaration“ unterschrieben. Eine Zusammenarbeit mit der EU als Institution wurde bisher vermieden. So wurde im Handels- und Kooperationsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union das gesamte Feld der außen- und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit nicht näher thematisiert. In der „Integrated Review“ aus dem Jahre 2021 wurde die EU zwar als wirtschaftliche Macht und Partner, jedoch kaum als außen- und sicherheitspolitischer Akteur erwähnt. Im März 2022 sieht die Lage anders aus. Fast genau ein Jahr nach Veröffentlichung der „Integrated Review“ forderte Premierminister Johnson in einem Interview mit europäischen Zeitungen eine „gemeinsame europäische Strategie“, um die Abhängigkeit Europas von russischer Energie zu beenden. Außenministerin Truss wurde Anfang März zum Rat für Auswärtige Angelegenheiten der EU-Außenminister geladen und betonte bei der Gelegenheit, dass es „lebenswichtig“ sei, jetzt „vollkommene Einigkeit“ zu zeigen. Der frisch verabschiedete „Economic Crime Act“ beinhaltet, dass die EU bei der Sanktionierung individueller Personen sogar explizit als Vorbild dient.
Vor dem russischen Feldzug in der Ukraine wäre ein solches Vorgehen und eine derartige Kommunikation nicht vorstellbar gewesen. Der Ukrainekrieg hat illustriert, dass auch der Brexit die geographische Lage Großbritanniens in Europa nicht verändern konnte. Zugleich unterstreicht er die Notwendigkeit einer ganzheitlich europäischen sicherheitspolitischen Konzeption, die auch wirtschaftliche und humanitäre Elemente berücksichtigt. Oberflächliche britische Einordnungen der EU als ein geopolitisch schwacher und schwerfälliger Koloss klingen bereits wenige Wochen nach Beginn des Krieges nicht mehr zeitgemäß. Das schnelle und vor allem einheitliche Handeln der EU hat auch in London Eindruck hinterlassen. In der regierungsnahen „The Times“ schrieb Gerard Howlin, dass die EU - in den fünfziger Jahren als Bollwerk der Demokratie gegen böse Ideologien und Machtpolitik konzipiert - sich nun als Großmacht zur Verteidigung derselben Ideale neu erfunden habe. „Auf einmal gleicht die EU mehr denn je einem Staat“, so der irische Kolumnist.
Fazit und Aussicht
Der Anspruch des „Global Britain“-Konzeptes war, nach dem Brexit eine eigenbestimme und ambitioniertere Außenpolitik zu gestalten. Die Vorstellung war von einem Vereinigten Königreich, dass selbstbewusst für die eigenen Werte und Interessen an der Seite gleichgesinnter Verbündeter einritt und autoritären Regimen unmissverständlich entgegentritt. Russlands Krieg in Europa hat deshalb gerade auch London auf eine harte Probe gestellt.
Zusammenfassend betrachtet hat die britische Reaktion Schwächen und Stärken offengelegt. Die Verzögerung bei der Sanktionierung individueller Personen mit Kontakten zu Putin sowie das anfangs chaotische und zögerliche Vorgehen bei der Aufnahme von Flüchtlingen hat sicherlich mit der Ambition eines „Global Britain“ nicht zusammengepasst. Hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit noch auseinander.
Anders zu bewerten ist das Handeln bei der frühzeitigen Lieferung defensiver Waffen, bei den schnellen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen Russland sowie beim Agieren an der diplomatischen Front, vor allem im Hinblick auf die Ukraine selbst sowie die mittel- und osteuropäischen Staaten. Hier hat die britische Regierung eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen. Während die sogenannte „Special Relationship“ zu den Vereinigten Staaten nicht zuletzt durch die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit nach wie vor gefestigt erscheint, bleibt zu hoffen, dass das Momentum einer Wiederannäherung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union verstetigt werden kann. Das betrifft vor allen die Außen- und Sicherheitspolitik, da hier der größte Nachholbedarf besteht. Doch es könnte auch die anhaltenden schwierigen Verhandlungen zum Nordirland-Protokoll beeinflussen und eine zeitnahe Einigung möglich machen.
Ambitioniert, aber notwendig wäre es, das im Handels- und Kooperationsabkommen fehlende Kapitel der außen- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit neu anzugehen. Bislang war für die Regierung in Westminster die außenpolitische Autonomie stets die Grundkonstante ihrer Vision eines „Global Britain“. Institutionalisierte Kooperationen oder vertragliche Vereinbarungen mit der EU waren in diesem Bereich kaum möglich, da sie als einschränkend wahrgenommen werden. Der Krieg in Europa erfordert eine neue Lagefeststellung. Zumindest wäre es jetzt an der Zeit ein klares Signal zu setzen.
Eine Reihe von möglichen Maßnahmen und Kooperationsmodellen wurden schon früher diskutiert. Sie reichen von regelmäßig informellen Treffen der britischen Außenministerin mit ihren europäischen Amtskollegen im „Gymnich“-Format, einem Informationsaustausch und intensivierter Kommunikation auf Expertenebene bis hin zu Überlegungen, wie das Vereinigte Königreich im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) in sicherheitspolitische Strukturen der EU verflochten werden kann. Die Ideallösung wäre eine wie auch immer geartete Sicherheitspartnerschaft mit der Europäischen Union. Hier müssen aber beide Seiten ihre Hausaufgaben machen. Die britische Seite muss ideologische und dem Brexit-Narrativ geschuldete Vorbehalte gegenüber der EU als Institution bei Seite legen. Der Chefkommentator der „Financial Times“, Robert Shrimsley schrieb, „Großbritannien braucht jetzt einen soliden Rahmen, um mit der EU auf dem Feld der Sicherheitspolitik zusammenzuarbeiten anstatt sie zu umgehen“. Die EU-Seite muss ebenfalls über ihren Schatten springen und sich überlegen, wie sie London ein überzeugendes Angebot machen kann, dass der Bedeutung des Vereinigten Königreichs als europäischer globaler Akteur mit ausgeprägten Fähigkeiten in vielen Bereichen gerecht wird. Wenn die Ereignisse der letzten Wochen eines gezeigt haben, dann ist es sicherlich die Erkenntnis, dass „Global Britain“ seinen Anspruch nur gerecht werden kann, wenn es seine vielschichtigen Verbindungen nach Europa und in die Europäische Union als Chance begreift.