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In allen Ländern ist es unter Politikern üblich, sich als Schüler der Geschichte darzustellen und bestrebt zu sein, die richtigen Lehren aus ihren Ereignissen zu ziehen. In der Tat ist es für die meisten Menschen kennzeichnend, ob nun Politiker oder nicht, sich ihrer Geschichtskenntnisse zu rühmen. Nicht jeder hält sich für einen Finanzexperten, einen Rechtsgelehrten oder Wissenschaftler, doch begreifen sich die meisten von uns als ausreichend bewandert in Geschichte oder glauben eine gesicherte Vorstellung von der Geschichte des eigenen Landes und seiner Nachbarn zu haben.
Zugegebenermaßen bereitet das Geschichtsstudium weitgehend Vergnügen, denn es befähigt, sich ein Urteil über die Vergangenheit zu bilden. Dabei können wir entweder Pessimisten sein, wie Gibbon, für den Geschichte kaum mehr als die "Aufzeichnung von Verbrechen, Torheiten und Missgeschicken der Menschheit" war.
Oder, wir gehören, wie Livy, zu den Bewunderern vergangener Tage, die sie für ein goldenes Zeitalter hielten, in der sich vorwiegend Heilige und Helden tummelten, die klüger und besser als die uns heute umgebenden waren.
Egal welche Einschätzung wir schließlich bevorzugen, in jedem Falle unterscheiden wir Laien uns in gefährlichem Maße von den Akademikern. Stets haben berufsmäßige Historiker, wie von Ranke in Deutschland oder viel später Namier in Großbritannien, dazu geneigt, eine Beurteilung zu vermeiden und sich lieber auf die gefahrlosere Aufgabe der Beschreibung und Analyse zu konzentrieren. Wir Laien aber, setzen unsere Reise fort auf dem Weg der Urteilsfindung, selbst wenn wir uns damit der qualifiziertesten Fremdenführer berauben.
Teilweise wegen dieser Eigenwilligkeit variieren die landläufigen Beurteilungen historischer Ereignisse und Persönlichkeiten beträchtlich von Zeit zu Zeit und von Land zu Land. So gibt es noch heute kaum eine einhellige Meinung zu den Verdiensten Napoleons - und ganz bestimmt keine Übereinstimmung zu Recht und Unrecht im Zusammenhang mit den Ursachen des 1. Weltkrieges.
Winston Churchill, Historiker und Staatsmann, schrieb, "dass die Geschichtswissenschaft mit ihrer flackernden Lampe auf dem Pfad der Vergangenheit entlang stolpert, im Versuch ihre Schauplätze zu rekonstruieren, ihr Echo wieder zu beleben und die Leidenschaft vergangener Tage mit blassem Schimmer wieder zu entfachen".
Winston Churchill sprach über ein für ihn anscheinend bemerkenswert schwieriges Ereignis, nämlich die Ehrung seines Vorgängers, Premierminister Neville Chamberlain im Unterhaus nach dessen Ableben im November 1940. Churchill machte keinen Hehl aus seinen heftigen, noch nicht lange zurückliegenden Differenzen zwischen Chamberlain, dem Verfechter einer Politik der Besänftigung Hitlers und ihm, dem leidenschaftlichen Gegner dieser Linie. Anstatt zu triumphieren, argumentiert Churchill, dass sich die Beurteilung der Geschichte unaufhörlich verschiebt und, dass niemand sicher sein kann, wann dieser Prozess, falls überhaupt, einen Abschluss findet. Voller Weisheit schlussfolgert er: "während die einzige Orientierung für einen Menschen sein Gewissen ist, so sind seine Rechtschaffenheit und seine Taten der einzige Schutz für seine Erinnerung".
Somit gibt es immer wieder Zeiträume in der Vergangenheit, wo das Verstehen angebrachter und ehrenwerter ist als das Fällen eines Urteils, denn die Hauptakteure handelten in Übereinstimmung mit den Ideen und Werten ihrer Zeit und nicht der unsrigen.
Trotzdem ist es wahr, dass die Verantwortlichen eines Landes gelegentlich die Definition menschlicher oder göttlicher Werte in einer die Vorstellungskraft übersteigenden Weise überschritten. Männer wie Hitler und Stalin und ihre direkten Helfershelfer können zur ihrer Verteidigung nicht anführen, dass ihre Taten den anerkannten Werten ihrer Zeit entsprachen. Ebenso wenig können die Verbrechen von Auschwitz damit entschuldigt werden, dass die Verbrechen in den Gulags, die genauso grausam und zerstörerisch waren, nicht dieselbe Verurteilung finden.
Deutschland, so fürchte ich, wird für immer unter dem Erbe der äußerst dramatischen Ausmaße der im Dritten Reich begangenen Verbrechen zu leiden haben. Unintelligente Erziehungswissenschaftler in Großbritannien entwickeln Lehrpläne für das Fach Geschichte, durch die unsere Kinder mit Kenntnissen über die Nazis überschüttet werden, doch haben sie keine Ahnung von der Deutschen Aufklärung des 18. Jh., noch von der bemerkenswerten Wiederentdeckung der Demokratie in Deutschland nach 1945, ganz zu schweigen von Staatsmännern wie Stresemann, die sich nach dem 1. Weltkrieg gegen die Gefahr eines zweiten einsetzten.
Trotz der leider fehlenden Ausgewogenheit in unserem Bildungswesen glaube ich dennoch nicht, dass weder die Kinder noch die Erwachsenen in meinem Land von einer generellen Feindseligkeit gegenüber Deutschland durchdrungen sind. Nach meiner Erfahrung beschäftigen sich deutsche Botschafter am Hof von St James viel zu sehr mit einer etwas anderen Sache. Sie fühlen sich niedergeschlagen durch die ständige Konzentration der britischen Medien auf Großbritanniens Geschichte im 2. Weltkrieg, insbesondere auf die Periode von 1940/41, als wir und die Länder des British Commonwealth die einzigen Verbündeten im Krieg gegen Hitler waren.
Dieser starke, zuweilen skurrile Stolz auf das durch unsere Eltern und Großeltern damals Erreichte ist meiner Meinung nach vollkommen gerechtfertigt und wird wahrscheinlich die Zeit überdauern. So ist es gut möglich, im britischen Fernsehen eine Wiederholung der Serien von "Dads Army" oder der Filme "The Dam Busters" oder "In Which We Serve" zu erleben, während gleichzeitig das moderne Deutschland akzeptiert wird, das kein Feind mehr ist, dem man misstraut, sondern ein Freund und Partner, der mit uns alle wichtigen Werte teilt.
Unsere Kinder sollten sich auch der folgenden, immer noch kaum verstandenen Tatsache bewusst werden. Weit entfernt von einer Vernachlässigung oder Verdrängung dessen, was im Dritten Reich geschah, bemühen sich heute deutsche Historiker, Romanautoren und Filmemacher immer wieder, die Beurteilung jener Zeit und ihrer Akteure in einem furchtlosen und unweigerlich kontroversen Geiste zu untersuchen und zu überarbeiten, und das sollten wir respektieren. Das Bild, das sich aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit ergibt ist nuanciert, subtil und für uns alle von Bedeutung.
Die ersten beiden Premierminister, unter denen ich diente, Ted Heath und Margaret Thatcher, leiteten erstaunlich unterschiedliche Schlussfolgerungen aus dem 2. Weltkrieg ab. Margaret Thatcher, aufgewachsen in einem von Bomben getroffenen und geschundenen Großbritannien, hatte ein über die Jahre zunehmendes Misstrauen nicht nur gegenüber Deutschland, sondern gegenüber dem gesamten kontinentalen Europa entwickelt. Positiv verbucht sie fast nur den vorrangigen Wert des angloamerikanischen Bündnisses. Ted Heath hingegen, zog eine andere Schlussfolgerung als er 1945 als junger Armeeoffizier durch die völlig zerstörten Städte Deutschlands ging. Er hielt sich an Churchill und glaubte, dass die Antwort auf die Geschehnisse in der Aussöhnung und Integration innerhalb Europas liegen muss. In der Auffassung, dass Großbritannien Teil dieses Prozesses sein muss, ging er über Churchill noch hinaus und schaffte es, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen, indem er Großbritannien in die Europäische Gemeinschaft führte.
Margaret Thatcher fürchtete die deutsche Vereinigung, weil sie glaubte, dass dies zu einer direkten und kolossalen Erhöhung der Wirtschaftskraft Deutschlands führen würde, das ohnehin schon der stärkste Wirtschaftspartner in Europa war. Natürlich war genau das Gegenteil der Fall, doch war sie in diesem Glauben nicht die einzige. Es will mir scheinen, dass die nach der Vereinigung entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten jetzt zu einem übermäßigen Pessimismus in Bezug auf das nationale Ansehen hier in Deutschland führen. Deutscher Stolz auf technische oder unternehmerische Leistungen Deutschlands sollte nicht mit Unbescheidenheit oder Überheblichkeit verwechselt werden. In der kleinen Londoner Straße, in der ich wohne sieht man fast ausschließlich deutsche Autos. Wir sind keine vollkommen dummen Kunden, wie Ihre Exportzahlen belegen. Niemand, der die Straßen oder Supermärkte Englands kennt, kann glauben, dass Deutschland gebrechlich oder gar dem Untergang geweiht ist, ein Produzent von Waren und Dienstleistungen, die in der Welt gebraucht werden.
Die Lehren der Geschichte sind jedoch meist komplex. Die Europäische Union ergibt sich aus zwei Sachzwängen der europäischen Geschichte, wovon beide noch gültig sind. Der erste ist die Notwendigkeit der Versöhnung, wie sie von Churchill und Adenauer, von Heath und Kohl gesehen wurde. Der zweite ist die Existenz der Nationalstaaten Europas mit ihren tiefen Wurzeln und unterschiedlichen Kulturen. Weil wir diese Sachzwänge in Einklang bringen müssen, gestaltet sich der Fortschritt langsam. Wir besitzen kein genaues Modell als Anleitung, sondern versuchen etwas Einmaliges zu erschaffen. Die Geschichte gibt dabei keine genaue Orientierung vor. Wir sollten uns vor Politikern hüten, die behaupten, die geschichtlichen Lehren zu befolgen, dabei aber ausschließlich jene Wegweiser der Historie beachten, die in die von ihnen selbst bevorzugte Richtung weisen.
Der zeitgenössische Historiker Mark Mazower erinnerte kürzlich an Friedrich Schlegel, der die Meinung vertrat, dass uns das Studium der Vergangenheit einen "gelassenen sicheren Überblick über die Gegenwart und ein Maß für ihre Größe oder Kleinheit" gegeben hat. Er fügte noch eine Bemerkung über die Geschichte hinzu, die ich voll unterstütze: "als eine Disziplin ist sie weder eine prophetische noch eine praktische Anleitung zum Handeln; ihre Lehren sind nicht so exakt fest zu machen. Sie bleibt jedoch ein wesentliches Hilfsmittel zur Überprüfung des eilfertigen Moralisierens, der ideologischen Gewissheiten und der überschwänglichen Behauptungen, die uns in den Ohren tönen". Klug angewendete Lehren der Geschichte können uns Vergnügen bereiten und uns ein nützliches Hilfsmittel in die Hand geben; doch sollten wir nicht zu ihren Sklaven werden.
Am Beginn eines neuen Jahrhunderts sind sich Großbritannien und Deutschland über den 2. Weltkrieg endlich einig geworden, doch verfolgt uns heute ein neues historisches Problem. Die Tragödie des 11. September hat die amerikanische Supermacht elektrisiert, und die anschließenden Turbulenzen haben uns in Europa zweigeteilt. Weder in Großbritannien noch in Deutschland können wir darüber glücklich sein, wie wir den Krieg im Irak angegangen sind. Doch die neuen Probleme erfordern neue Anstrengungen und der Schlüssel für eine sichere Welt muss ein starkes Europa sein, das in Partnerschaft mit einem starken Amerika zusammen arbeitet. Um dies zu erreichen, müssen wir die Geschichte und unsere Politik ständig neu hinterfragen, damit wir das nötige Verständnis erreichen, das wir für die Zukunft brauchen.