Verlierer und Gewinner
Diese Wahlen haben, bei 22 Präsidentschaftskan- didatinnen und –kandidaten nicht anders zu erwarten, viele Verlierer. Zu ihnen zählen aber nicht nur Politiker und ihre Parteien, sondern vor allem auch die Demoskopen.
Meinungsumfragen stoßen in Guatemala grundsätzlich auf viel Skepsis und Misstrauen, gelten sie doch überwiegend als interessengeleitet und „bestellt“. Ob methodisch fragwürdig oder bestellt, ein Ruhmesblatt für die Demoskopie sind diese Wahlergebnisse jedenfalls nicht.
Zwar sahen viele Sandra Torres, die Kandidatin der UNE (Unidad Nacional de la Esperanza), im 2. Wahlgang, alles Weitere hatten sie in ihren Erhebungen jedoch nicht eingefangen.
In den letzten Wochen galt als sicher, dass Torres, nach 2015 und 2019 nunmehr zum dritten Mal im 2. Wahlgang, und Edmund Mulet, Kandidat von CABAL, und Drittplatzierter für die Partido Humanista in den Wahlen 2019, in die 2. Runde kämen.
Den Kandidaten der Partei SEMILLA, Bernardo Arévalo, hatte als ernstzunehmenden Bewerber jedoch niemand auf dem Radar. Sehr früh am Wahlabend kristallisierte sich jedoch heraus, dass es zu dieser alle überraschenden Konstellation für den 2. Präsidentschaftswahlgang kommen würde.
Wahlergebnisse der sieben Bestplatzierten:
Kandidat / Partei | Stimmen | Prozentanteil |
Torres / UNE | 868 124 | 15,78 |
Arévalo / SEMILLA | 649 048 | 11,80 |
Conde / VAMOS | 431 428 | 7,84 |
Castillo / VIVA | 400 353 | 7,27 |
Mulet / CABAL | 369 779 | 6,72 |
Rìos / Valor UNIONISTA | 361 205 | 6,56 |
Villacorta | 237 152 | 4,31 |
Im Vergleich zu den Wahlen 2019 ist hervorzuheben, dass die Erstplatzierte zwar mit einigem Abstand vor dem Zweitplatzierten liegt, allerdings nicht mehr mit einer Differenz von 10%, sondern nur noch knapp 4%, und die nachfolgenden Stimmergebnisse ab dem 3. Platz sehr nah beieinanderliegen.
Die übrigen 15 Bewerber erzielten zwischen 0,14% (7738 Stimmen) und 2,55% (140 706 Stimmen). Diese für das Gros des Bewerberfeldes von Beginn an aussichtslose Fragmentierung dient im Ergebnis vorrangig dazu, mittels dieser Kandidaturen die Abgeordnetenlisten zu unterstützen und auf diesem Wege (es gibt keine Sperrklausel), wenn auch nur mit einem Abgeordneten, in den Kongress einzuziehen und damit das rechtliche Überleben der Partei zu sichern.
Zu den weiteren Verlierern zählen zum einen Zury Ríos, Tochter des ehemaligen Diktators Ríos Montt. Ihre Wahlkampfstrategie stieß von Beginn an auf Unverständnis, offensichtlich fühlte sie sich ihrer Sache sicher, zu sicher. Der 6. Platz ist eine harte Landung in der Realität.
Nicht viel besser erging es Mulet, der sich sicher in der 2. Runde wähnte und dann nur auf dem 5. Platz abgeschlagen landete.
Auch der Kandidat des „oficialismo“, der aktuellen Regierungspartei VAMOS, hatte sich vor allem mit Blick auf die starke kommunale Basis seiner Partei bestimmt mehr Chancen ausgerechnet. Auch wenn er in der Schlussphase des Wahlkampfes zugelegt hatte, reichte es nicht für den Einzug in die Stichwahl. VAMOS stellt allerdings im Kongress die mit Abstand stärkste Fraktion und dürfte auch seine kommunale Machtbasis zumindest gehalten haben.
Die Botschaft
Die Wahlbeteiligung erreichte mit knapp 61% das Niveau von 2019. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass sich diese bemisst auf der Grundlage der in das Wahlregister eingeschriebenen Personen. Rund 3 Mio. Guatemalteken (Stand: Mai 2022) haben sich jedoch erst gar nicht eingeschrieben.
Der Anteil der Wahlenthaltung der eingeschriebenen Wähler ist im Vergleich zu 2019 erkennbar gestiegen. Dramatisch ist die Vervierfachung der „votos nulos“, der ungültigen Stimmen.
2019 | 2023 | |
Eingeschriebene Wahlberechtigte | 7 856 189 | 9 361 068 |
Abgegebene Stimmen - absolut | 4 378 271 | 5 510 345 |
Abgegebene Stimmen - prozentual | 61,84 | 60,58 |
Wahlenthaltung - absolut | 452 708 | 541 324 |
Wahlenthaltung - prozentual | 8,98 | 9,8 |
Ungültige Stimmen - absolut | 209 444 | 823 289 |
Ungültige Stimmen - prozentual | 4,16 | 14,94 |
Knapp ein Viertel der abgegebenen Stimmen entfällt auf Enthaltungen und ungültige Stimmen.
Allein die ungültigen Stimmen erreichen fast das Ergebnis der Bestplatzierten Sandra Torres.
Zurückzuführen ist das auf mehrere Gründe. Zum einen wurde der Prozess der Zulassung der Kandidaten stark kritisiert. Während Zury Ríos entgegen einer Verfassungsbestimmung zugelassen wurde, scheiterten andere Kandidaten mit teils fragwürdigen Begründungen. Einem in den Umfragen von Beginn an mit weitem Abstand führenden Kandidaten wurde wenige Wochen vor der Wahl nach Klage einer anderen Partei die Zulassung entzogen, da der Nominierungsparteitag bestimmte Verfahrensregularien nicht eingehalten habe. Vor allem von diesem Kandidaten wurde dann eine massive „voto nulo“-Kampagne betrieben.
Nicht zuletzt dieser Vorgang mitten in Wahlkampf zeigt die kafkaesken Züge einer grenzenlosen Justizialisierung des Wahlprozesses, die wesentlich mit zur Vertrauenskrise in die Institutionen beiträgt und vom Gesetzgeber nicht ernstgenommen wird.
Zwei Tage vor den Wahlen berichtete die New York Times von Korruption innerhalb des Obersten Wahlgerichtshofes, dessen Mitglieder angeblich von der Regierung mit monatlich 6000 Dollar bedacht würden.
Insgesamt dürfte in diesem Wahlverhalten aber auch die hohe Unzufriedenheit der Guatemalteken mit Regierung und Politik insgesamt zum Ausdruck kommen.
Diese Zahlen müssten ein Alarmruf an die politische Klasse sein. Ob dies so wahrgenommen und zum Anlass genommen wird, zum einen das Wahlsystem zu reformieren, zum anderen aber vor allem zu anderen Politiken und politischem Verhalten zu kommen wird in Guatemala eher skeptisch gesehen.
Ausblick
Der Ausgang des 2. Wahlgangs am 20. August ist völlig offen. Diese unerwartete Kandidatenkonstellation stellt auch die Analysten vor eine Herausforderung.
Galt bei dem erwarteten Duo Torres – Mulet als ausgemacht, dass Mulet als Sieger hervorgeht, ist nun die Verunsicherung groß.
Das geht sogar so weit, dass selbst das guatemaltekische Bonmot in Frage gestellt wird, wonach eine Kandidatin Torres automatisch den Sieg des Gegenkandidaten bedeutet.
Torres hat aus ihrer Zeit als Ehefrau des Staatspräsidenten Alvaro Colón und ihren vor allem der Landbevölkerung zugute kommenden Sozialprogrammen in den ländlichen Bereichen eine gute und recht stabile Ausgangsbasis.
Dennoch ist Torres die Kandidatin mit dem höchsten Ablehnungsanteil in Umfragen. Das hat weniger mit ihrer Politik als ihrer Person und ihrem als eher autoritär charakterisierten, nicht auf Konsens und Vertrauen bedachten Temperament zu tun. Hinzu kommt auch die Frage, ob der guatemaltekische „machismo“ wirklich schon für eine Frau im höchsten Staatsamt bereit ist.
Auf der anderen Seite nun Arévalo, eher unbekannt, außer in den Sozialen Medien im zurückliegenden Wahlkampf nicht besonders aufgefallen, mit eher urbanem Rückhalt.
Die Brisanz dieser Konstellation rührt nicht zuletzt aus der Tatsache, dass erstmals in der Geschichte des stark konservativ geprägten Guatemala, bei aller Oberflächlichkeit und eingeschränkter Belastbarkeit ideologischer Etiketten in diesem Land, zwei der demokratisch-gemäßigten Linken zuzuordnende Parteien im 2. Wahlgang stehen. Und da in vielen Ländern Lateinamerikas für manche Parteien und Eliten das Wort „sozial“ gleichbedeutend mit „sozialistisch“ ist, kann dies für eine weitere Polarisierung in einem eh bereits stark polarisierten Land bedeuten, ohne dass im
2. Wahlgang eine genuine Alternative bestünde.
Die offene Frage ist daher, wie sich die gemäßigte bis signifikant rechte Wählerschaft und politische und wirtschaftliche Elite in der anstehenden Entscheidung positioniert. Das dürfte auch davon abhängen, welche Form der Wahlkampf zwischen den beiden Kontrahenten in den nächsten beiden Monaten annimmt. Schon kursieren Gerüchte gegen Arévalo und SEMILLA, sie wollten Unternehmen und Fincas enteignen.
Sandra Torres könnte daher von einem lateinamerikanischen Sprichwort profitieren: „Más vale malo conocido que bueno por conocer“. Heißt im übertragenen Sinn: Man setzt lieber auf das Bekannte, auch wenn man es für schlecht hält, als auf das Unbekannte, auch wenn es gut sein könnte.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt: Vielleicht hat diese Konstellation auch zur Folge, dass nach vielen burlesken Wahlkampfteilen in der nun anstehenden zweiten Phase eine fundierte und konkrete inhaltliche Debatte stattfinden und zur Versachlichung und individuellen Entscheidungsfindung beitragen kann.
SICHERSTELLUNG VON REGIERBARKEIT
Wie auch immer die Entscheidung am 20. August ausgehen wird, eines dämpft die eh geringe Hoffnung der Wählerschaft auf einen grundlegenden Wandel der Politik: Die Regierung kann vieles, aber bei Weitem nicht alles. Sie braucht eine tragfähige Mehrheit im Kongress.
Nach den bislang vorliegenden Informationen sind zwar „nur“ noch 16 und nicht mehr 28 Parteien im Kongress vertreten. Die Parteien von Torres und Arévalo verfügen jedoch lediglich über 28 bzw. 23 der insgesamt 160 Sitze. VAMOS, die Partei des aktuellen Staatspräsidenten, verfügt alleine über knapp ein Viertel der Mandate.
SITZVERTEILUNG:
Partei | Mandate |
VAMOS | 38 |
UNE | 28 |
SEMILLA | 23 |
CABAL | 18 |
UNIONISTA-VALOR | 12 |
VIVA | 11 |
TODOS | 6 |
BIEN | 4 |
VOS | 4 |
CREO | 3 |
NOSOTROS | 3 |
Victoria | 3 |
AZUL | 2 |
ELEFANTE | 2 |
CAMBIO | 1 |
URNG-MAIZ-WINAQU | 1 |
Dies bedeutet, dass Koalitionen geschlossen werden müssen, und diese haben ihren Preis - hinzukommen vielfältige außerparlamentarische Einflussfaktoren. Der Spielraum jeder Regierung ist von vornherein eingeschränkt. Eine Regierung „pur“ irgendeiner der beiden Parteien wird es daher nicht geben. Da neun Parteien aufgrund fehlender parlamentarischer Vertretung nun vor der Streichung aus dem Parteienregister stehen, darunter auch die indigene MLP, die 2019 mit 8,97% noch den 4. Platz bei den Präsidentschaftswahlen belegte, bleibt abzuwarten, wie sich das auf die künftige Ausgestaltung des Parteiensystems insgesamt auswirkt. Zunächst aber stehen Guatemala nahezu zwei weitere intensive Wahlkampfmonate bevor.