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„Wenn ein Bewohner des Staates Idaho heute gefragt würde, was er unter Europa verstehe, so würde er sicher Frankreich, Holland, Italien, Deutschland nennen. Weiter nach Osten reicht sein Wissen nicht, und die dort beheimateten Völker erscheinen ihm als ein Gemisch uninteressanter, zurückgebliebener Stämme. Vielleicht liegt bei dieser Versuchsperson eine „historische Verspätung” vor, das heißt ihr Bewusstsein erliegt überholten Denkgewohnheiten, die schon mit der Wirklichkeit im Widerspruch stehen. Nichtsdestoweniger sind die Ansichten dieses Bürgers von Idaho ernst zu nehmen. Sie haben die Beschlüsse der amerikanischen Politiker beeinflusst, denen sich der Verlust der europäischen „Ostmark” zugunsten Russlands nicht als besonders folgenschwere Konzession darstellte.
Während einer langen historischen Epoche häuften sich auch im Westen Europas Geld und Macht, und dort bildeten sich Kulturvorbilder heraus, die später vom Osten übernommen wurden. So sind zum Beispiel Kirchen und Paläste in Polen von italienischen Architekten gebaut worden, die polnische Malerei auf dem Lande entwickelte sich unter dem Einfluss des Barocks, die polnischen Dichter ahmten gern Formen des französischen Verses nach und so weiter. Die Länder Ost- und Ostmitteleuropas waren „arme Verwandte” und wohnten in einer Art Kolonialgebiet. Der Westen verhielt sich zu ihnen nicht ohne gönnerhafte Geringschätzung, und damit unterschied er sich nicht sehr von den allzu schlichten Ansichten des Bürgers von Idaho.” (Czesław Miłosz)
Jürgen Wahl arbeitet in Bonn als Freier Journalist und Autor. Er wurde 1929 in Krefeld (Niederrhein) geboren. 1957 war Wahl in der katholischen Jugendarbeit tätig. Von 1962 bis 1966 war er Direktor der Bonner Karl-Arnold-Akademie, danach – bis 1970 Leiter des Büros der CDU-Generalsekretärs.
Seit 1970 und bis 1995 arbeitete Wahl als Redakteur der Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, zuletzt als Chefkorrespondent, unterbrochen durch zwei Jahre als deutscher Sprecher der Christlichen Demokraten (EVP-Fraktion) im Europäischen Parlament.
1952 schloss sich Wahl der Europäischen Bewegung an, 1953 der CDU. Er war Mitgründer der Internationalen Kommission der Jungen Union. In dieser Zeit begann seine Zusammenarbeit mit dem polnischen Exil. 1971 wurde er Vorsitzender der Ostkommission des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Es folgten zahlreiche Polen-Reisen.
Jürgen Wahl ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande, Chévalier des polnischen Verdienstordens und Träger der Dankbarkeitsmedaille der polnischen Freiheitsbewegung „Solidarność“.