Bauten vom Mittelalter bis zur Moderne leuchten frisch gestrichen und unzerstört. Schicke Frauen und Männer kaufen ein. Schüler knipsen sich gegenseitig mit Plüschfiguren. Touristengruppen aus Asien, Europa und Amerika drängen sich. Luxushotels, Straßenbahnen und das riesige Nationalmuseum bilden die Kulisse: Wo vor Jahrzehnten Bilder einer Selbstverbrennung, russischen Panzern und prügelnden Polizisten zu sehen waren, herrscht heute das pralle Leben einer europäischen Hauptstadt: 2019 ist Prags Wenzelsplatz auch das Ziel einer Gruppe von Gästen der Konrad-Adenauer-Stiftung. Während Theologe Petr Krizek seine Erlebnisse aus den Wendezeiten erzählt, wird es still. Applaus brandet auf: „So lebendig geschildert“, hatten sie Geschichte und Politik nicht erwartet. Doch wie steht es um Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit heute? Und was haben 100 Jahre Bauhaus damit zu tun? Antworten erahlten sie auf der Bildungsreise vom 16. bis 19. Mai: „Macht und Ohnmacht in totalitären Systemen – Zeithistorische Auslandstagung zur Villa Tugendhat in Brünn“.
Im stylischen Hotel Occidental Five begrüßen Ines Rerbal und Marcus Schmidt die Gäste – und begleiten sie bis zum Sonntag mit Tipps, Gesprächen und Fotos durch beide Städte. Der Abend beginnt mit einer langen Dokumentation über die Bauhaus-Villa Tugendhat, die sich mehr auf Aussagen der Familie als auf die Architektur bezieht. Das Original dürfen die Reisenden am nächsten Tag bewundern – auf den Hügeln über Brünn.
Zunächst bestaunen die Teilnehmer bei einer der Stadtführung Prags Treffpunkt mit Politgeschichte, ein Jugendstil-Bau, das Reformator-Hus-Denkmal und die weltbekannte Uhr mit den Apostel-Figuren. Auch ein Theater, in dem Mozart zu Gast war, sowie ein Gebäude des Kubismus führten zu angeregten Gesprächen. Scheinbar still wird es trotz des Trubels drumherum, als Krizek eine Demonstration kurz vor der Wende zur Demokratie und Freiheit 1989 spricht: „Die Demonstranten kamen wegen einer Absperrung nicht mehr weiter – hinter ihnen wurde dann die Straße von weiteren Sicherheitskräften gesperrt“. Was dann passierte, ist in der deutschen Öffentlichkeit wenig bekannt: „Die Menschen versuchten sich durch eine winzige Seitengasse zu flüchten – vergeblich“. Einige wurden dort verprügelt. Ein Denkmal ehrt den Toten und die Verletzten vom 17. November 1989. Bronze-Hände, die noch heute mit Blumen geschmückt sind. Bei Knödeln und Spargelcreme-Suppe verdaute ein Teil der Gruppe die ersten Eindrücke: Im Etagencafé „Louvre“, in dem schon der Dichter Franz Kafka und der der Physiker Albert Einstein gespeist haben sollen.
Am zweiten Tag, nach einer Busfahrt auf der Autobahn Richtung Wien, erreicht die Gruppe DAS weiße Haus in Brünn. „Die Räume gehen nahtlos in die Landschaft über“: In der Villa Tugendhat führte Clara Zöttel durch die Schlafzimmer der Eltern, für die Nanny und zwei Kinder. Der Hauptraum mit Arbeitszimmer, rundem Esstisch, Sitzecke für den Abend vor leuchtendem Milchglas, gilt noch heute als revolutionär. „Edelstein der Bauhaus-Schule!“. Klar. Schnörkellos. Auf dem technischen Stand der 30er Jahre. Architekt Ludwig Mies van der Rohe setzte die Idee „Weniger ist mehr“ in annähernder Perfektion um – für die Familie Tugendhat, die rechtzeitig vor der Verfolgung durch Nazis ausreisen konnte. Einen extra Hingucker erklärt Zöttel: „Die Edelsteinwand im Hauptraum überlebte, weil sie vor dem Einmarsch der Russen eingemauert wurde.“ Ihr überraschender effekt: Scheint die Sonne darauf, schimmert der Stein rot. Danach verwandelte man das Haus unter anderem in einem Pferdestall. In den letzten Jahrzehnten wurde fast alles stilecht wiederhergestellt. Tipp für alle, die nicht mit der Stiftung nach Tschechien reisen können: Unter www.tugendhat.eu gibt es eine virtuelle Führung durch das Haus.
Vorträge in Prag und Brünn erklären ausführlich, wie Geschichte die Gegenwart im Land beeinflusst: Am Freitag erläuterte Dr. Tomáš Vilimek vom Institut für Zeitgeschichte und der Karls-Universität Prag unter anderem die „Opposition und Widerstand in der Tschechoslowakei von 1048 bis 1989“. Villimek spricht am Sonnabend zusätzlich über das „Magische Jahr 1989 – zu den unterschiedlichen Aspekten des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei“.
Auf der überfüllten Burganlage über Prag, in der der Präsident Milos Zeman residiert, konzentriert sich die Geschichte und Kultur des Landes: Die Přemysliden, die über 400 Jahre lang bis 1306 das Land führten, die Luxemburger und Habsburger, der Kommunismus und die Demokraten stehen für europäische Geschichte. Viel mehr, als der Prager Fenstersturz, an dessen Schauplatz die Besucher einen Blick nach draußen werfen, erahnen lässt.
Am Sonnabend erklärt noch der Direktor der Rechtsabteilung im Landwirtschaftsministerium „Tschechen und die EU“: Dr. Jiří Georgiev. Am Sonntag, kurz vor der Abreise, stellt sich noch Matyáš Zrno zum Thema Meinungs- und Pressfreiheit. Ein Problem: Viele Superreiche haben sich – nachdem der Premierminister einflussreiche Medien erworben habe – auch um den Kauf von Zeitungen und Sendern gekümmert.
Nach Redaktionsschluss: Ein Hauptthema aller Gespräche war das Wahlverhalten der Tschechen. Das Ergebnis der Europawahl nach verschiedenen Medienberichten am frühen Montag: Ministerpräsident Andrej Babis populistische ANO habe sechs der 21 tschechischen Sitze im EU-Parlament erhalten. Die Bürgerdemokraten, die Piraten, die - als fremdenfeindlich geltende - Freiheit und die Direkte Demokratie seien drin. Voraussichtlich ganz raus sind die Sozialdemokraten unserer Nachbarn.
Verfasst von: Marcus Schmidt
Veröffentlicht von: Jan Detering