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Länderberichte

Götterdämmerung in Indien?

von Dr. Adrian Haack, Elias Marini Schäfer

Eine Analyse der indischen Parlamentswahlen

Indien hat gewählt und der Premierminister heißt erneut Narendra Damodardas Modi. Entgegen den letzten Wahlprognosen musste die Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Modi jedoch deutliche Sitzverluste hinnehmen. Hatte die BJP im Jahr 2019 noch einen erdrutschartigen Sieg mit 303 Sitzen errungen, so kam sie diesmal auf 240 Sitze. Im 543 Sitze zählenden Unterhaus, der Lok Sabha, kann die BJP damit nicht mehr allein regieren, die absolute Mehrheit wäre mit 272 Sitzen erreicht. Modi wird sich nun zum ersten Mal auf seine Koalitionspartner aus der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) stützen müssen, um eine Regierung zu bilden. Das Parteienbündnis erhielt insgesamt 292 Stimmen. Indien kehrt nun nach einer jahrzehntelangen Unterbrechung zu einer Koalitionsregierung zurück - ein Modell, das Modi weder während seiner drei Amtszeiten als Ministerpräsident des Bundesstaates Gujarat noch während seiner zwei Amtszeiten als Premierminister kennengelernt hat.

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Klarer Regierungsauftrag trotz Verlusten

Entscheidende Regierungsverbündete der BJP für die nächsten fünf Jahre sind nun zwei regionale Parteien. Die Telugu Desam Party (TDP) aus dem Bundesstaat Andhra Pradesh, die 16 Sitze gewonnen hat, und die Janata Dal United (JDU) aus dem Bundesstaat Bihar, die 12 Sitze errungen hat. Insbesondere die Janata Dal United ist jedoch ein komplizierter Koalitionspartner für die BJP. JDU-Parteichef Nitish Kumar hat in den letzten 11 Jahren mehrmals die Seiten zwischen BJP und Kongress gewechselt. Die BJP wird sowohl ihm als auch der Telugu Desam Party wichtige Zugeständnisse machen müssen, um ein stabiles Bündnis zu schmieden.

Trotz des bitteren Verlustes von 63 Sitzen hat die BJP einen klaren Regierungsauftrag der Bevölkerung erhalten. Sie erreichte einen Stimmenanteil von 36,5 %, die zweitstärkste Kraft, die Kongresspartei, erhielt 21 % der Gesamtstimmen und gewann 99 Sitze. Die Wahlen haben der BJP jedoch gezeigt, dass ein Wahlkampf mit betont hinduistisch-konfessionellen Inhalten nicht funktioniert, wenn er nicht durch praktische Verbesserungen für das Leben der breiten Bevölkerung untermauert wird. Besonders im Bundesstaat Uttar Pradesh mit seinen 80 Sitzen wurde dies deutlich, nachdem die BJP ihr Ergebnis von 62 Sitzen im Jahr 2019 nun auf 31 Sitze halbierte. Bestes Beispiel hierfür ist der Wahlbezirk Faizabad um die Stadt Ayodhya, in dem Modi im Januar dieses Jahres medienwirksam den kontroversen Ram Mandir - einen Tempel für die hinduistische Gottheit Ram und eines der zentralen Versprechen auf der politischen Agenda der BJP - einweihte. Die Eröffnung wurde im ganzen Land teilweise euphorisch begleitet und es setzte sofort ein reger Besucherstrom ein. Allerdings verlor der BJP-Kandidat diesen Wahlkreis. Wahrscheinlich da die Sorgen über die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit oder auch die anhaltend hohe Inflation die Begeisterung für den historischen Tempel, der auf den Ruinen einer Moschee errichtet wurde, überwogen. Trotz des Tempels bleibt die Region ein Armenhaus des Landes. Zwar verzeichnet Indien insgesamt stabil hohe Wachstumsraten und die öffentliche Infrastruktur hat sich in der Modi-Dekade verbessert, doch offenbar kommt dieses Wachstum nicht bei allen Wählerinnen und Wählern an.

 

Freie und faire Wahlen

Im Vorfeld und auch während der Wahlen wurden von Oppositionellen Bedenken hinsichtlich der Fairness der Wahlen geäußert, die auch in Teilen der Wählerschaft Widerhall fanden. Dies ist allzu verständlich, da Ermittlungsbehörden zu zentralen Akteuren in diesem Wahlkampf wurden. Im Januar 2024 wurde der Ministerpräsident des Bundesstaates Jharkand, Hemant Soren, von einer direkt der Regierung unterstellten Strafverfolgungsbehörde wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet. Etwa zwei Monate später wurde sein Amtskollege aus Delhi, Arvind Kejriwal, von der gleichen Strafverfolgungsbehörde in Gewahrsam genommen - es bedurfte eines Urteils des Obersten Gerichtshofs, um Kejriwal, den Parteichef der Aam Aadmi Party, zur Wahl zuzulassen. Dies schürte die Befürchtung, dass das Wahlgeschehen manipuliert werden könnte.

Lange bevor die Gewinner und Verlierer feststanden, stellte sich daher die Frage nach der Integrität des Prozesses selbst. Vor diesem Hintergrund wurde die Wahlkommission[1] ihrer Rolle gerecht, auch wenn sie Kritik und Kontroversen hervorrief. Unter anderem erteilte sie den Vorsitzenden der BJP und des Kongresses Mahnungen, weil deren Spitzenkandidaten gegen den Verhaltenskodex verstoßen hatten. In Teilen des Bundesstaates Westbengalen kam es bei den Wahlen zu Ausschreitungen, doch die Ordnungskräfte sorgten dafür, dass die Unruhen vor einer größeren Eskalation eingedämmt wurden. Keiner der unterlegenen Kandidaten - auch nicht einer, der lediglich um 48 Wählerstimmen unterlegen war - hat die Fairness des Ergebnisses in Frage gestellt. Dies zeugt von der Widerstandsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des Wahlverfahrens und der Wahlmechanismen des Landes. Dies ist umso beeindruckender, da noch nie in der Menschheitsgeschichte so viele Menschen zum Urnengang aufgerufen waren. Die Umsetzung einer so großen Wahl ist eine praktische Herausforderung und wurde durch das politisch aufgeheizte Klima erschwert. Indien hat mit diesen Wahlen eine große Herausforderung gemeistert.  

 

Herrschaft der Alten im Land der Jungen

In der Wahlanalyse sollte nicht untergehen, dass Indien eine Gerontokratie ist. Der Begriff bezeichnet die „Herrschaft der Alten“ und sollte im indischen Kontext nicht humoristisch unterschätzt werden. Die indische Debatte wird ebenso wie die Deutsche von der Frage der Geschlechterrepräsentation im Parlament bestimmt. Darüber wird leicht übersehen, dass Indien im Jahr 2024 das älteste Unterhaus seit 1952 gewählt hat. In den Anfängen der indischen Republik war das Parlament rund zehn Jahre jünger als heute. Im neuen Unterhaus wird es 60 Abgeordnete zwischen 25 und 40 Jahren geben. In den Legislaturperioden zuvor waren es zwischen 64 und 90 Parlamentarier in dieser Altersgruppe, so dass in 30 Jahren ein Abfall um ein Drittel zu verzeichnen ist. Umgekehrt zeigt sich, dass jeder dritte Abgeordnete der Altersgruppe zwischen 60 und 70 Jahren angehört.

Auch die Anzahl der Parlamentarier, die über 70 Jahre alt sind, ist weiter angestiegen, obwohl sie bereits in der vergangenen Legislaturperiode auf einem Höchstwert war. Es gibt sogar einige Abgeordnete, die zwischen 80 und 90 Jahren alt sind, was für ein Land mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund 70 Jahren bemerkenswert ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Hälfte der Inderinnen und Inder jünger ist als 30 Jahre ist, dies aber nur auf etwa 1 Prozent der Parlamentarier zutrifft. Diese Analyse der Altersstruktur ist für sich genommen neutral und muss nicht zwangsweise politische Implikationen haben. Doch Indien hat trotz seines stabilen Wirtschaftswachstums wegen der sehr jungen Demografie eine Jugendarbeitslosigkeit von 23 Prozent, die in manchen Gegenden auch bei 40 Prozent liegt. Diese Werte werden künstlich kleingehalten, weil die Hochschulen weit über dem Bedarf ausbilden und so Massen junger Leute für ein paar Jahre aus der Arbeitslosenstatistik heraushalten. Drei von vier Hochschulabsolventen finden jedoch keinen Job. Kurzum: Ein zentrales Problem in Indien ist die Jugendarbeitslosigkeit und dieser Herausforderung steht ein Parlament gegenüber, das mehrheitlich über 55 Jahre alt ist.

 

Suche nach den Gründen

Die in den westlichen Medien vorherrschende Interpretation des Ergebnisses ist die Abfuhr an den Hindunationalismus. Dem modernen Stil des journalistischen Storytellings kommt diese Lesart sehr entgegen. Doch einem Blick in die Zahlen hält diese Interpretation nicht stand. Die von der BJP geführte Allianz NDA hat noch immer eine absolute Mehrheit und die BJP selbst hat so viele Wahlkreise geholt wie der Kongress (INC) in den letzten drei Wahlen zusammen. Tatsächlich hat die BJP landesweit nur 0,8% ihrer Stimmen eingebüßt. Schließlich sollte man nicht verkennen, dass Teile der Opposition wie beispielsweise die AAP oder die Shiv Sena auch ausgeprägte Vertreter der Hindutva-Bewegung sind. Die Konfliktlinie zwischen Regierung und Opposition liegt nicht zwangsläufig zwischen Hindunationalismus und Multikulturalismus.

Anders als in Deutschland vergeben die Parteien die Wahlkreise zentral. In den Wahlkreisen, die die Regierungspartei verloren hat, wirft das zwangsläufig die Frage nach der Kandidatenselektion auf. In der Parteizentrale dürfte bereits diskutiert werden, ob die Auswahl der Kandidaten bei der Opposition effektiver war. Gleichzeitig müssen sich unterlegende Kandidaten natürlich fragen, ob sie sich zu sehr auf die persönliche Popularität von Modi verlassen haben und im Wahlkampf zu wenig Einsatz gezeigt haben.

Ein weiterer Aspekt, der die Debatte prägt, ist die Kampagne der BJP. Modis Partei warb gemeinsam mit ihren Verbündeten offen damit, dass sie 400 Sitze erringen wollten. Dies wurde von einigen renommierten Politikwissenschaftlern als realistisch eingeschätzt. Es mag sein, dass diese Zielsetzung bei den Wählerinnen und Wählern als zu selbstbewusst wahrgenommen wurde oder Sorgen um eine zu dominante Rolle einer einzelnen Partei geschürt hat. Die BJP-Parteizentrale wird jedoch nicht viel Zeit haben, um Fehler zu analysieren. Im November dieses Jahres stehen zwei wichtige Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Haryana an. In beiden Staaten hat die BJP bei den Parlamentswahlen schwere Verluste erlitten. Diese Wahlen werden nun als Lackmustest dafür dienen, ob die „Modi-Magie“ zurückkehrt oder ob sich die vom Kongress geführte Opposition weiter im Aufwärtstrend befindet.


[1] Die Wahlkommission ist eine autonome Verfassungsbehörde, die für die Verwaltung des Wahlprozesses in Indien zuständig ist.

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