Veranstaltungsberichte
Die bestimmende Frage des Abends lautete: Welche Faktoren führten zum Wahlausgang der Nationalwahlen 2009? Eine Frage, die komplexer kaum sein könnte und Raum für Interpretation lässt. Denn auch in Indien müssen viele Aspekte bei der Wahlanalyse berücksichtigt werden, die Rolle der Kasten, die Stärke des politischen Führungspersonals, die Wahlkampführung der Parteien und regionale Fragestellungen, um nur einige Punkte zu nennen.
Kongress zum Erfolg verdammt
Mit dem deutlichen Wahlergebnis hat der Wähler dem INC einerseits einen deutlichen Regierungsauftrag erteilt, andererseits aber auch einen enormen Erfolgsdruck aufgebürdet. In seiner Wahlanalyse ging Yogendra Yadav (CSDS) insbesondere auf Fragen der Infrastrukturentwicklung und Schwächen in Bildungs- und Gesundheitspolitik ein. Die Wahlforscher von CSDS gehen davon aus, dass der Erfolg für den INC über gute Regierungsführung auf der Ebene der Bundesstaaten geführt hat. Die Grundlage für diese und andere Annahmen zum Wahlausgang bildet die „National Election Study“ (NES), die das Institut bereits seit 1967 durchführt. Während der fünf Wahlphasen haben die Analysten mit der Befragung von insgesamt 36 314 Wählern eine für Indien repräsentative Wahlstudie erstellt. In 536 Wahlkreisen wurden an 2 346 Umfragestationen stichprobenartig Wahlberechtigte interviewt.
Keine nationalen Themen
Eines der NES-Ergebnisse von CSDS ist die Erkenntnis zur Bedeutung der State-Levels für den Ausgang der Nationalwahlen. Die Wähler haben vielfach die im Bundesstaat favorisierte Partei auch auf nationaler Ebene gewählt. Ein national bedeutsames Thema, das den Wahlausgang signifikant beeinflusst haben könnte, ist nicht messbar, das erklärte Yogendra Yadav in seinem Statement. Viele Beobachter waren im Vorfeld der Wahl davon ausgegangen, dass die Anschläge von Mumbai im November 2008 zu einer national bedeutsamen Polarisierung führen würden. Das bewerteten jedoch nur 17 Prozent der Befragten der NES so. Im Zusammenhang mit den Anschlägen wird dem INC ein solides Krisenmanagement konstatiert. Eine Eskalierung zwischen Indien und Pakistan und eine Stigmatisierung der muslimischen Bevölkerung wurde abgewendet. Am ehesten bewegte der Preisanstieg von Lebensmitteln und Alltagsgütern die Menschen zur Wahl einer bestimmten Partei. 18 Prozent der Befragten äußerten diese Tendenz.
INC gewinnt überproportional
Zwar kann der INC nur um etwa zwei Prozent an Stimmen zulegen, in Parlamentssitzen ausgedrückt ist das jedoch eine Steigerung um 61 auf 206 Mandate. Verantwortlich hierfür ist das indische Mehrheitswahlsystem. Diese Tatsache führt in der Wahlanalyse auch dazu, dass die Politikforscher von CSDS nicht von einem fundamentalen politischen Wandel sprechen wollen. Überdies seien die Wähler auch nicht den indischen Multiparteienkoalitionen überdrüssig geworden. Vergleicht man die Akzeptanzwerte der Umfragen 1999 und schließlich 10 Jahre später, bei den Wahlen 2009, so kann man nahezu gleiche Zahlen ablesen. 21 Prozent der Befragten finden eine solche Regierungsform nicht zielführend, aber 39 Prozent glauben, dass unter gewissen Umständen nichts gegen eine Multiparteienkoalition einzuwenden ist.
Führungspersonal nicht entscheidend
Die NES kommt zu dem Ergebnis, dass die Frage, wer der künftige Premierminister sein würde, kaum Auswirkungen auf den Wahlausgang hatte. Die Umfrage belegt, dass die wichtigsten politischen Führer von INC und BJP (Manmohan Singh, Sonia Gandhi und L.K. Advani) nahezu gleiche Zustimmungswerte erhielten. Yogendra Yadav und seine Kollegen bei CSDS gehen davon aus, dass die Wahlniederlage der BJP und ihrer Verbündeten letztlich vor allem dem INC genutzt hat. Es sei der BJP nicht gelungen, eine wählbare Alternative darzustellen.
Regionalparteien bleiben stark
Yadav äußerte sich auch zu den regionalen Parteien, die in den vergangenen Jahren zu einer Aufspaltung des indischen Parteiensystems beitrugen und auf nationaler Ebene für die Notwendigkeit von Multiparteienkoalitionen zur Regierungsbildung sorgten. Er sprach sich gegen die Annahme aus, dass mit dem Wählervotum von 2009 der Einfluss dieser Parteien geschwunden sei. Addiert man den prozentualen Stimmenanteil der regionalen Parteien, so liegen diese zusammen mit etwa 30 Prozent vor INC und BJP. Das Gesamtergebnis der regionalen Parteien sei nahezu identisch mit den Wahlergebnissen von 1999 und 2004. Für das künftige Gewicht regionaler Parteien spricht auch die Tatsache, dass der Einfluss der Bundesstaaten auf die nationale Ebene und deren Wahlergebnis eher gestiegen ist. In diesem Zusammenhang als bemerkenswert quotierte Yadav den stetigen Aufstieg der Bahujan Samaj Party (BSP), an deren Spitze die umstrittene Dalit-Vorsitzende Mayawati steht. Schon bei dieser Wahl hatte Mayawati Anspruch auf den Posten des Premierministers erhoben. Wenn diese Ambitionen auch zu hoch gegriffen waren, so ist es doch bemerkenswert, dass diese regionale Partei bei jeder Wahl seit 1984 an Stimmen zugelegt hat.
Wahlergebnis war vorhersagbar
Auch wenn nahezu alle Beobachter von der Deutlichkeit des Wahlergebnisses zu Gunsten der Kongress-Partei überrascht waren, so erklärte Yadav jedoch, dass der Ausgang vorhersagbar war. Denn im Unterschied zu anderen Ländern, würden die Wähler in Indien schon relativ früh ihre Wahlentscheidung treffen. Dies zeige sich, wenn man die Vorwahlumfragen mit den Nachwahlumfragen vergleiche. Signifikante unterschiede seien hier nicht feststellbar. Viele der BJP Kandidaten hätten allerdings nur knapp den Gewinn ihres Wahlkreises verfehlt, daraus ergebe sich eine gewisse überproportionale Verschiebung für den INC, den die Umfragen im Vorfeld nicht hätten erfassen können. Darüber hinaus haben die Forscher des CSDS festgestellt, dass die UPA-Koalition vor allem in den Wahlphasen vier und fünf Stimmen gewonnen haben. Hier ist ein Anstieg von 6,9 Prozent, beziehungsweise 7,4 Prozent im Vergleich zu den Ergebnissen in den jeweiligen Wahlkreisen aus dem Wahljahr 2004, messbar.
Einfluss politischer Randthemen gering
Abschließend erklärte Yadav, dass die CSDS-NES 2009 zeige, dass der Einfluss von Religion und Kastenzugehörigkeit kaum eine Rolle für das Wahlergebnis spielte, im Gegenteil der Versuch der Instrumentalisierung dieser Themen den jeweiligen Akteuren mehr geschadet als genutzt hätte.
Stimmen zur NES 2009 und zum Ausgang der Nationalwahlen 2009
Manish Tewari
Der Sprecher des Indian National Congress zeigte sich erwartungsgemäß mit dem Wahlergebnis sehr zufrieden. Der INC und die UPA-Koalition habe im Jahr 2004 noch Stimmen aus dem linken Lager benötigt, um eine Regierung zu bilden, nun jedoch verfüge man über eine eigene stabile Mehrheit innerhalb der Koalition und könne für die kommenden Jahre nachhaltig Politik gestalten. Als Gründe für den deutlichen Wahlsieg des INC führte Tewari die Politik der vergangenen Legislaturperiode an. Die Verabschiedung einer Sozialcharta mit kos-tenlosen Mittagessen in den Schulen, die Korruptionsbekämpfung, der Verzicht auf Populismus und nicht zuletzt gute Regie-rungsführung hätten die Wähler von einer Wiederwahl des INC überzeugt.
Nalin Kohli
Der Sprecher der Bharatiya Janata Party räumte die Wahlniederlage seiner Partei unumwunden ein. Es sei der BJP im Jahr 2009 nicht gelungen, flächendeckend repräsentiert zu sein. Zwar sei die Partei in neun Staaten an der Regierung beteiligt, dennoch habe es leere Flecken auf der Landkarte gegeben. Zudem habe die Partei in 19 Bundesstaaten Stimmen und Mandate eingebüßt. Hierbei unterstrich Kohli, dass 48 unterlegene BJP-Kandidaten bei den Wahlen jeweils nur mit bis zu fünf Prozent Abstand hinter dem INC-Kandidaten gelegen hätten. Die Sitzverteilung in der Lok Sabha und das Wahlergebnis fallen also deutlicher aus, als es die Wähler in den Wahlkreisen beabsichtigt hätten. Eine Führungsdebatte wollte Kohli nicht eingehen. Den wegen seines Alters und einigen inhaltlichen Positionen umstrittenen BJP-Führer Advani erwähnte er in seinen Ausführungen nicht.
Neerja Choudhury
Die führende Journalistin des Indian Express interpretierte den Wahlausgang anders, als die Wahlforscher von CSDS. Aus ihrer Sicht sei mit den Anschlägen von Mumbai im November 2008 ein national wahlbestimmendes Thema entstanden, das auch heute noch nachwirke. Das deutliche Votum für den INC zeige, dass die Partei von einer Polarisierung der Wählerschaft gegen Muslime und Pakistan profitiert habe. Darüber hinaus hätte der INC auch aus seinem beherzten Handeln in dieser Phase einen Nutzen gezogen. Choudhury thematisierte überdies die Rolle Rahul Gandhis (INC) im Wahlkampf. Ihm und seiner Partei sei es gelungen, ihn als neue Jugendikone des INC aufzubauen, eine Tatsache, die viele der jungen Wähler motiviert habe abzustimmen. Choudhury betonte in ihrem Statement auch den politischen Generationenwechsel in der Lok Sabha, 80 der 543 Abgeordneten seien 40 Jahre und jünger. Für die Zukunft prognostizierte sie schwierige Herausforderungen für Indien. Die wachsende Unzufriedenheit in der Unterschicht müsse durch bessere Bildungschancen und eine effektivere Gesundheitsversorgung abgemildert werden.
In der anschließenden Diskussion wurde insbesondere angeregt, gegen kriminelle Abgeordnete vorzugehen. Gegen 150 Abgeordnete der Lok Sabha seien Gerichtsverfahren anhängig, 73 seien rechtskräftig verurteilt. Die Anklagen seien durchaus ernst zu nehmen, sie gingen bis hin zu Entführung und Mord. Darüber hinaus wurde positiv angemerkt, dass der Wähler zunehmend gute Regierungsführung belohne. So seien noch vor zehn Jahren 75 Prozent der amtierenden Regierungen in den Bundesstaaten und auf nationaler Ebene abgewählt worden. Heute zeige sich ein Trend, dass erfolgreiche Regierungen regelmäßig im Amt bestätigt würden. Die Quote der Wiederwahl sei auf über 50 Prozent gestiegen. Die anwesenden Vertreter der politischen Parteien wurden ermahnt die ländlichen Regionen und insbesondere die lokale politische Ebene nicht zu vernachlässigen. Sie sollten die Menschen in das wirtschaftliche Wachstum Indiens stärker einbeziehen. Es gäbe immer noch Regionen in Indien, die deutlich unterentwickelt seien. Der nachhaltigen Entwicklung dieser Regionen müsse die neue Regierung nun nachkommen. Darüber hinaus müsse die UPA-Koalition ihre komfortable Mehrheit in der Lok Sabha nutzen, um wichtige Projekte schneller voranzutreiben (z.B. in der Infrastrukturentwicklung). Die hohe Anzahl an Fragen und Anmerkungen und die Lebhaftigkeit der Diskussion wurde von der hohen Teilnehmerzahl geprägt. Etwa 150 Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Diplomatie und Medien nahmen an der Veranstaltung teil.