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Georgien wählt: Ruhe vor dem Sturm?

von Stephan Malerius, Florian Binder

Am 26. Oktober stimmen Georgierinnen und Georgier über ein neues Parlament ab. Es ist eine Richtungswahl, Europa ist gefragt.

Erstmals seit 2012 scheint die Opposition in Georgien eine ernsthafte Chance zu besitzen, die Regierung des pro-russischen Oligarchen Bidsina Iwanischwili abzulösen. Viele Beobachter sprechen von einer Wechselstimmung im Land. Zwar dürfte die Regierungspartei des Georgischen Traums wieder die stärkste politische Kraft werden, die notwendige Mehrheit jedoch verfehlen. Breite Proteste während des Wahlkampfs blieben bislang aus, doch das kann sich ändern. Die aktuelle relative Ruhe scheint trügerisch, eine große Konfrontation könnte bevorstehen. Wird die Regierung versuchen, die Wahlen zu manipulieren? Wie verhält sich Iwanischwili? Wie verläuft die Machtübergabe, wenn die Opposition gewinnt? Welche Rolle wird die Präsidentin spielen? Es ist eine Wahl mit vielen Unbekannten.

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Der Wahlkampf

Schalwa Papuaschwili ist Sprecher des Georgischen Parlaments und hatte zuvor 17 Jahre lang das Rechtsstaatsprogramm der GIZ in Georgien geleitet. Dann wechselte er zum Georgischen Traum und trägt nun seit Jahren aktiv zur Abwicklung der Demokratie in seinem Land bei. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Kachetien Anfang Oktober erklärte er, die OSZE-Beobachtermission stelle in ihrem Zwischenbericht fest, der Wahlkampf im Land verlaufe friedlich, ohne Gewalt und den Einsatz „administrativer Ressourcen“. Damit ist ein direkter oder indirekter Druck der Regierung auf abhängige Personen gemeint, Staatsbedienstete oder Empfänger von staatlichen Hilfen. Im Original des OSZE-Berichts liest es sich allerdings anders: Der Wahlkampf sei geprägt von einer polarisierenden Rhetorik, bei den Gerichten seien gut 120 Beschwerden über eben administrativ-staatlichen Druck und die Verletzung von Wahlkampfregeln eingegangen, und lokale Wahlbeobachtungsinitiativen beklagten eine vergiftete Atmosphäre und Stigmatisierung, die auf das „Agentengesetz“ zurückgeht, das im Frühsommer vom Parlament verabschiedet und von Papuaschwili unterschrieben worden war. Es nötigt NGOs, die vom Ausland gefördert werden, sich als ausländische Agenten zu registrieren. Etwa, wenn sie sich, von der EU unterstützt, für freie und faire Wahlen einsetzen.

Dass sich im Wahlkampf die Spaltung fortsetzt, die die politische und mediale Landschaft in Georgien seit Jahren durchzieht, ist vor allem dem Georgischen Traum und Iwanischwili zu verdanken, der sich im Dezember zum Ehrenvorsitzenden seiner Partei kürte. Er lässt den Georgischen Traum mit dem Thema Krieg (Opposition) oder Frieden (Regierung) Wahlkampf machen, erklärte auf einer Veranstaltung in Mzcheta, nach den Wahlen die Oppositionsparteien verbieten und einen „Nürnberger Prozess“ gegen sie anstrengen zu wollen und schürt immer wieder die Angst vor einer „Globalen Kriegspartei“, die das Land ins Chaos und seine Regierung stürzen wolle. Dass Iwanischwili, der viel lieber als Privatperson aus dem Hintergrund die Stippen zieht, jetzt den Wahlkampf seiner Partei anführt und die Nr. 1 auf der Liste ist, zeigt, wie ernst es um den Georgischen Traum steht.

 

Wechselstimmung

Meinungsumfragen sind in Georgien nur selten belastbar und dienen vor allem dazu, die öffentliche Stimmung im Sinne ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. So veröffentlichte das notorisch regierungsnahe Institut „Gorbi“ im September ein projektiertes Wahlergebnis von 59,8% für den Georgischen Traum, was derart realitätsfern war, dass es bereits entrückt anmutete. In der Vorwahlkampfzeit wurden Meinungsumfragen aber auch zur Blockbildung innerhalb der Opposition eingesetzt: „Ihr findet weniger Zustimmung, deshalb ist es besser, wenn ihr euch uns anschließt.“

Bei aller Vorsicht lassen sich dennoch Trends ausmachen. Demnach dürfte der Georgische Traum, der unter Listennummer 41 antritt, zwar mit etwa 35 % der Stimmen wieder die stärkste Kraft werden, die angestrebte Mehrheit jedoch klar verfehlen. Ihm gegenüber stehen vier Wahlblöcke der Opposition, die sich erst in den letzten drei Monaten formiert haben: Auf Listenplatz 4 findet sich „Achali“ (georgisch „Neu“), ein Zusammenschluss von liberal-konservativen Parteien oder Bewegungen aus dem Umfeld der bis 2012 regierenden Vereinigten Nationalbewegung. Mit Listenplatz 5 tritt eben diese Vereinigte Nationalbewegung an, an deren Spitze seit Juni mit Tina Bokutschawa eine profilierte Politikerin steht, die zuvor Fraktionsvorsitzende ihrer Partei im Parlament war. Sie muss den Wahlkampf ihres Wahlblocks immer noch mit dem dritten Präsidenten Georgiens, Michail Saakaschwili, abstimmen, der seit seiner Rückkehr aus dem Exil vor drei Jahren im Gefängnis sitzt. Sollte die Opposition gewinnen, ist mit seiner Freilassung zu rechnen. Der Wahlblock Starkes Georgien, Nr. 9 auf der Wahlliste, ist ein Bündnis links-liberaler Gruppierungen, die auch die zivilgesellschaftlichen Bewegungen abbilden, welche die Proteste gegen das „russische Agentengesetz“ im Frühjahr prägten. Und schließlich tritt auf dem Listenplatz 25 der ehemalige Ministerpräsident und Innenminister Giorgi Gacharia mit Für Georgien an. Gacharia hatte sich 2021 mit Iwanischwili überworfen und will nun helfen, den Georgischen Traum abzulösen, indem er in dessen Wählerschaft wildert.

Den vier Oppositionsblöcken werden jeweils zwischen 10 und 19% der Stimmen vorausgesagt, wenngleich unklar ist, ob vor allem „Für Georgien“ den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Zwar herrscht Wechselstimmung in Georgien, die Menschen sind müde von den nicht eingelösten Versprechen der Regierung, die aggressive Rhetorik wirkt abstoßend, und auch die offensichtliche Desinformation nach russischem Muster verfängt nicht. Es wäre aber wohl auf jeden Fall eine Abstimmung gegen die Regierung und nicht so sehr für die Opposition. Es kann auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die Wahlen durch breite Manipulation – Wählerkauf, Druck auf Wahlkommissionen, fingierte Stimmauszählung – doch noch im letzten Moment zugunsten des Georgischen Traums ausgehen.

 

Der Tag danach

Drei Fragen sind wegweisend für den Wahltag und die Tage danach bzw. bereits für die Stunden nach Schließung der Wahllokale: 1. Wird es lokalen und internationalen Wahlbeobachter mit ihren Apellen gelingen, einen weitestgehend fairen Ablauf der Wahlen sicherzustellen? Die OSZE ist mit einer robusten Mission von 1.100 Wahlbeobachtern vertreten, die ergänzt wird von zahlreichen kleineren europäischen und internationalen Beobachtergruppen sowie vielen lokalen Initiativen. So ruhen eine Vielzahl von Augen auf dem Ablauf der Wahlen sowie der Stimmauszählung. Sollten die Beobachtungen jedoch nicht gut koordiniert seien oder klar kommuniziert werden, könnte das den Blick trüben. 2. Wie unabhängig agiert die Zentrale Wahlkommission bei der Verkündung der Resultate? Wird der Georgische Traum den Wahlausgang anerkennen? Was passiert, wenn massive Wahlfälschungen die Legitimität des Ergebnisses in Frage stellen? Die Opposition gibt sich entschlossen, ihren möglichen Wahlsieg zu verteidigen. Falls der Georgische Traum versuchen sollte, die Wahlen zu stehlen, werde man auf die Straße gehen. Dann wiederholt sich das Szenario aus dem Frühjahr, als wochenlang gegen das Agentengesetz demonstriert wurde und das öffentliche Leben zeitweise zum Erliegen kam. Dieses Mal verspricht die Konfrontation noch ernster zu werden, eine Eskalation scheint nicht nur vorprogrammiert, sie wird sogar erwartet. Möglich ist aber auch Folgendes: 3. Was passiert bei einem knappen Sieg der Opposition? Wenn der Georgische Traum eingesteht, nicht die Mehrheit erlangt zu haben, aber trotzdem die Regierung bilden will? Ein solches „polnisches Szenario“ scheint gegenwärtig am wahrscheinlichsten. Straßenproteste würden in diesem Fall ausbleiben, denn es steht der stärksten Kraft zu, als erstes einen Regierungsauftrag zu erhalten. Das Geschehen würde sich dann in die politischen Hinterzimmer verlagern. 150 Sitze sind im georgischen Parlament zu vergeben. Sollten auf die Opposition 80 Sitze und auf den Georgischen Traum 70 Sitze entfallen, ist davon auszugehen, dass Iwanischwili alles daransetzen wird, sechs Abgeordnete zu finden, die bereit sind, die Seiten zu wechseln. Geld wird fließen. Seine Milliarden werden dabei hilfreich sein. Eine durch Hinterzimmerdeals erreichte Fortsetzung der aktuellen Regierung würde das Land in eine tiefe politische und moralische Depression stürzen.

 

Die Präsidentin

In dieser Situation maximaler Unsicherheit kommt der Präsidentin Salome Surabischwili eine wichtige Rolle zu. Dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst ist, hatte sie bereits im Sommer mit einer Initiative gezeigt, die sie „georgische Charta“ nannte. Darin schlug sie vor, das Land nach den Wahlen für eine begrenzte Zeit von einer Expertenregierung regieren zu lassen, die sich auf die Umsetzung der Empfehlungen der EU konzentriert, um den Weg zu Beitrittsverhandlungen zu bahnen. Nach einem Jahr und unter veränderten Rahmenbedingungen sollte es dann Neuwahlen geben. Ihr jüngster Versuch, den Konsolidierungsprozess innerhalb der Oppositionsblöcke zu unterstützen, blieb zwar erfolglos, sie ist gegenwärtig jedoch die einzige staatliche Autorität, die von der Opposition und einer breiten Bevölkerungsschicht anerkannt wird. Der Georgische Traum hingegen kritisiert ihr Agieren scharf und hat bereits angekündigt, nach den Wahlen Ende Oktober ein neues Amtsenthebungsverfahren gegen sie zu starten. Die Ankündigung ist nichts mehr als ein plumpes Scheingefecht, denn bereits im Dezember wird ein neuer oder eine neue Präsidentin gewählt, erstmals durch eine Wahlversammlung, die ähnlich zusammengesetzt ist wie in Deutschland. Surabischwili hat es bislang offengelassen, ob sie noch einmal antritt. Auf jeden Fall wird ihr Wort am Wahltag und in den Tagen danach nicht nur in Bezug auf die (Ill)Legitimität der Wahlergebnisse von großer Bedeutung sein. Sie ist es auch, die den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt, und es ist zu erwarten, dass sie den Verhandlungsprozess eng begleitet. Wenige Tage vor der Wahl ermutigte Surabischwili in einer Stellungnahme die Georgierinnen und Georgier, keine Angst zu haben, die Stimme abzugeben und das Ein-Parteien-System sowie die Polarisierung und den Hass abzuwählen.

 

Sturmwarnung

Vor etwas mehr als zehn Jahren hatte ein korrupter und zunehmend autoritär agierender Präsident Janukowitsch in der Ukraine lange mit der EU verhandelt, um schließlich dem russischen Druck nachzugeben und im November 2013 kein Assoziierungsabkommen mit Brüssel abzuschließen. Darauf folgten wochenlange Proteste einer europafreundlichen Bevölkerung, die im „Euro-Maidan“ kulminierten, vor dem Janukowitsch im Februar 2014 kapitulierte und nach Russland floh. Korruption und zunehmend autoritäres Vorgehen sind in den letzten Jahren auch die Markenzeichen des Georgischen Traums, Iwanischwilis und seiner Großwesire geworden. Auch sie stehen offenkundig unter russischem Druck, mit Europa zu brechen und alles zu tun, damit es nicht zu Beitrittsverhandlungen zwischen Georgien und der EU kommt. Von einer neuen „Farbenrevolution“ ist dieser Tage in Moskau die Rede, die der Westen in Georgien vorbereite und die Russland verhindern werde. Und erneut ist es eine ganz überwiegend europafreundliche Bevölkerung, die sich die europäische Perspektive für ihr Land nicht nehmen lassen will und die wild entschlossen ist, dafür zu kämpfen.

Wenn die Wahlen am 26. Oktober nicht frei und fair ablaufen, droht sich diese Entschlossenheit Bahn zu brechen, und zwar noch massiver als während der Proteste im Frühjahr. Ein gewaltiger Herbststurm in Tiflis scheint dann unausweichlich. Auch in Kiew war die Situation im Februar 2014 eskaliert, auf dem Maidan wurde geschossen, es gab Dutzende Tote. Damals gelang es drei Außenministern, aus Deutschland, Polen und Frankreich, erfolgreich zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Europa könnte in diesem Herbst ein weiteres Mal gefragt sein. Es sollte vorbereitet sein.

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Stephan Malerius

Stephan Malerius

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus

stephan.malerius@kas.de +995322459112
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3. Juni 2024
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