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Anfang August wurde eine vierjährige Freiheitsstrafe wegen Steuerbetruges gegen Silvio Berlusconi in letzter Instanz bestätigt und rechtswirksam. Eine damit verbundene Verurteilung zu einem mehrjährigen Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden, ist zur erneuten Festsetzung der Verbotsdauer an die vorherige Instanz zurück verwiesen worden. Da dem ehemaligen Ministerpräsidenten wegen seines fortgeschrittenen Alters und einer Amnestieregelung ohnehin nur ein Jahr Hausarrest oder Sozialdienst drohen, wiegt dieses anstehende Ämterverbot für ihn sicher schwerer. Am bedrohlichsten für Silvio Berlusconi ist jedoch, dass ihm auf Grundlage des „Severino“-Gesetzes der Verlust seines Senatssitzes droht. Ohne die mit dem Abgeordnetenmandat verknüpfte Immunität, muss er fürchten, von der Staatsanwaltschaft wegen anderer anhängiger Verfahren in Untersuchungshaft genommen zu werden. Gleichzeitig kämpft Silvio Berlusconi um sein wirtschaftliches Lebenswerk, den einflussreichen Mediaset-Konzern und versucht, seine alte Partei „Forza Italia“ (FI, dt. „Vorwärts Italien“) aus der Formation „Popolo della Libertà“ (PDL, dt. „Volk der Freiheit“) heraus wieder zu begründen.
Vor dieser Gesamtschau von Silvio Berlusconis aktuellen Problemen, sind die politischen Ereignisse der letzten Tage in Italien zu interpretieren: Parteiinterne Hardliner setzten letzte Woche die PDL/FI-Abgeordneten unter Druck: Sie sollten ihren Rücktritt erklären. Symbolisch wollte man so zum Ausdruck bringen, dass die Abgeordneten einem Parlament, das Silvio Berlusconi ausschließt, nicht mehr angehören wollen. Am Wochenende (28./29. September) setzte Parteichef Berlusconi mit Hilfe der „Falken“ auch die Rücktrittserklärung „seiner“ fünf Minister aus dem Kabinett durch. Die Nachricht an Premierminister Letta war deutlich: Die Regierung fällt, wenn man Berlusconi beim Versuch, seine Haut zu retten, nicht entgegen kommt. Nachdem Premierminister Letta verlautbaren lies, er wolle nicht um „jeden Preis“ an der Regierung bleiben und für den 2. Oktober eine Vertrauensfrage im Parlament ankündigte, sprach sich Silvio Berlusconi für Neuwahlen aus: „Jetzt muss dem Wähler wieder das Wort gegeben werden“.
Berlusconis PDL in der Zerreißprobe
Alles schien tatsächlich auf ein Ende der Regierung Letta zuzulaufen. Dann jedoch mehrten sich ungewohnte politische Dissonanzen im Berlusconi-Lager: Minister Gaetano Quagliariello hatte sich bereits Ende letzter Woche lange und öffentlich dem Druck widersetzt, seinen Rücktritt einzureichen. Zunächst noch zwischen den Zeilen in den sozialen Medien und schließlich auch ganz offen in den abendlichen Politiktalkshows wurde deutlich, dass auch andere namhafte Politiker der PDL/FI nicht bereit waren, die Regierung zu stürzen bzw. das Parlament zu verlassen.
Am 1. Oktober, am Vorabend der Vertrauensabstimmung, hatte Letta den zurückgetretenen PDL/FI-Ministern erklärt, er werde ihren Rücktritt nicht annehmen, und sprach ihnen so sein Vertrauen aus. PdL-Generalsekretär Angelino Alfano rief seinerseits offen dazu auf, Premierminister Letta das Vertrauen auszusprechen: „Ich bleibe fest davon überzeugt, dass unsere ganze Partei morgen Letta das Vertrauen aussprechen muss. Es gibt keine Gruppen und Grüppchen“. Eine Spaltung der PDL/FI schien sich dennoch abzuzeichnen. Maurizio Lupi, Vizepräsident des Abgeordnetenhauses, einflussreicher PDL/FI-Politiker und Infrastrukturminister in der Regierung Letta erklärte in der TV-Sendung „Porta a Porta“: „Wir sind nicht gegen Präsident Berlusconi, aber er muss noch einmal zeigen, dass er es gut mit dem Land meint. Ich wünsche mir, dass diese Spaltung nicht vollzogen werden muss“. Am Vorabend der Vertrauensabstimmung hielt Silvio Berlusconi persönlich dagegen: „Eine Allianz zwischen PD und PDL-Überläufern wäre so würdelos und erniedrigend, dass sie auf öffentliche Zurückweisung stoßen würde.“ Die Drohkulisse war perfekt. Die Presse diskutierte wieder einmal das Ende von Silvio Berlusconi. Am nächsten Morgen, bevor die Abstimmung im Senat begann, ruderte der ehemalige Premierminister dann jedoch bereits zurück und sagte zu den wartenden Journalisten: „Wir werden sehen, was passiert… Jetzt hören wir die Rede von Letta und dann entscheiden wir.“
Premierminister Letta wurde in der Aula des Senats deutlich: "In einem demokratischen Staat respektiert man Urteile," sagte er an die Adresse Silvio Berlusconis. Ein neuer und tragfähiger Regierungspakt sei notwendig, um die Zukunft Italiens nicht zu gefährden. „Mut und Vertrauen ist das, worum ich euch bitte“, wandte sich Enrico Letta an die Abgeordneten. „Es hängt von einem Ja oder einem Nein ab.“ Um das entscheidende Vertrauensvotum im Senat zu gewinnen, brauchte Premierminister Letta Stimmen aus dem Berlusconi-Lager. Im Abgeordnetenhaus verfügt Enrico Lettas „Partito Democratico“ (PD, dt. „Demokratische Partei“) über die absolute Mehrheit.
Renato Brunetta, einer der „Falken“, verbreitete noch während der Diskussion zur Vertrauensfrage über Twitter und weitere elektronische Kommunikationskanäle seine Position: „Es gab ein formales Treffen der Senats-Fraktion mit dem Fraktionsvorsitzenden Renato Schifani und Präsident Berlusconi zu der auch der Fraktionsvorsitzende des Abgeordnetenhauses eingeladen war und nach einer langen und überzeugenden Diskussion mit dutzenden Beiträgen, sprachen sich die Anwesenden einstimmig für ein Misstrauensvotum aus.“ Dann jedoch kam wieder einmal alles anders: Silvio Berlusconi nahm in der Aula des Senats Stellung und kündigte dann überraschend an, seine Partei werde der Regierung Letta das Vertrauen aussprechen.
Viel Lärm um nichts?
Ein Zerbrechen der Regierungskoalition in Italien ist vorerst abgewendet und die Regierung Letta bleibt im Amt. War also alles nur „viel Lärm um nichts?“. Nicht ganz. Die PDL/FI steckt nun tief in der Krise. Zum einen sackte die Partei in Umfragen ab, weil es offensichtlich nicht mehr gelang, die politische Linie Silvio Berlusconis der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Zum anderen bildeten sich während der letzten Tagen innerhalb der Partei zwei Lager: Die „Falken“, die sich rund um Berlusconi scharen und ihn um jeden Preis vor einer Haftstrafe schützen wollen. Und die „Tauben“, rund um Angelino Alfano, die – trotz aller Solidarität - ihre politische Linie nicht vollständig den juristischen Probleme ihres Parteivorsitzenden unterordnen wollen.
Michele Brambilla von „La Stampa“ schreibt am 2. Oktober: „Die ‚Plastikpartei’ ist gestern eine echte Partei geworden: Mit Diskussionen, Meinungsverschiedenheiten und der Fähigkeit, dem Chef in die Augen zu sehen, ohne den Kopf zu senken. All das wurde durch das neue Verhalten desjenigen möglich, der nur als ‚Schein-General¬sekretär’ betrachtet wurde“. Gemeint ist damit Angelino Alfano, der während der letzten Tage in der Tat an politischem Profil gewonnen hat.
Eine Atempause zur Lösung der parteiinternen Probleme kann sich nun jedoch niemand in der PDL/FI gönnen: Am Freitag (4. Oktober) steht die letzte Sitzung des Immunitätsausschusses des italienischen Senats an. Der Ausschuss hat über die Frage zu befinden, ob Silvio Berlusconi sein Mandat als Senator weiter ausüben darf. In den darauf folgenden Tagen muss das Plenum darüber abstimmen. Spätestens dann steht der Regierung Letta - aber auch der PDL/FI - die nächste Zerreißprobe bevor. Bevor man sich in Italien wieder mit voller Kraft den notwendigen Reformen zur Überwindung der schweren Wirtschaftskrise - in der sich das Land nach wie vor befindet - zuwenden kann, wird es also noch etwas dauern.