Länderberichte
Ende April wird die japanische Regierung auf ihrer Internetseite rückwirkend zum ersten Mal die Zusammenfassung ihrer Sitzungsprotokolle veröffentlichen. Allerdings werden die Dokumente keine Informationen enthalten, die die nationale Sicherheit des Landes bedrohen könnten. Die ersten Memos auf der Internetseite werden deshalb wohl nur einen Ausschnitt der Diskussion unter den Regierungsmitgliedern abbilden. Denn sie betreffen die Abstimmung am 1. April. An dem Tag hat die japanische Regierung entschieden, das Exportverbot für Rüstungsgüter zu lockern. Es hatte, wenn auch mit Ausnahmen, fast 50 Jahre lang Bestand. Viele Beobachter bewerten den Schritt daher als eine Kehrtwende in der japanischen Sicherheitspolitik.
Rüstungsexporte aus Japan sind auch nach der Entscheidung von Anfang April aber nur unter strengen Auflagen zulässig. Länder, die derzeit oder absehbar in einen militärischen Konflikt verwickelt sind oder unter einem Waffenembargo der Vereinten Nationen stehen, dürfen nicht beliefert werden. Das Gleiche gilt für Länder, die gegen die von Tokio mit unterzeichneten internationalen Abkommen, darunter etwa die Chemiewaffenkonvention, verstoßen. Zulässig sind Rüstungsexporte hingegen dann, wenn sie „zum internationalen Frieden beitragen“. Dazu zählen beispielsweise Einsätze der Vereinten Nationen. Auch können japanische Patrouillenboote an Länder geliefert werden, die damit entlang ihrer Küste die ungehinderte Versorgung mit Rohstoffen schützen. Nur mit Zustimmung Tokios dürfen Rüstungsgüter aus Japan zudem an Drittstaaten weiterverkauft werden.
„Proaktiver Pazifismus“
Trotz der Lockerung des Exportverbots halte das Land mithin an seiner pazifistischen Grundhaltung fest. „Japan trägt proaktiv zum internationalen Frieden bei. Daran wird sich“, versprach Verteidigungsminister Itsunori Onodera nach der Kabinettssitzung vom 1. April, „künftig nichts ändern.“ Das Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftsministerium in Tokio sollen die Rüstungsexporte überwachen. Das Wirtschaftsministerium wurde zudem verpflichtet, über alle genehmigten Rüstungsgeschäfte mit ausländischen Staaten jährlich Berichte zu veröffentlichen. Bei besonders sensiblen Lieferaufträgen hat der Nationale Sicherheitsrat des Landes das letzte Wort. Er wurde von der japanischen Regierung nach US-amerikanischem Vorbild erst im Dezember vergangenen Jahres ins Leben gerufen.
Unter strengen Auflagen waren Rüstungsexporte aus Japan schon vor der jetzt getroffenen Entscheidung zeitweise zulässig. Neben den weiterhin gültigen Beschränkungen durften ab Ende der 60er Jahre aber auch kommunistische Länder nicht beliefert werden. Ab Mitte der 70er Jahre war die Ausfuhr von militärisch nutzbarem Gerät dann zunächst komplett untersagt, bevor 1983 mit den USA eine erste Ausnahmeregelung getroffen wurde. Seitdem hat die japanische Regierung fast zwei Dutzend Kooperationen im Ausnahmefall genehmigt. Für humanitäre Zwecke dürfen Rüstungsgüter bereits seit 2011 aus Japan exportiert werden.
Recht auf kollektive Selbstverteidigung
Die Anfang April beschlossenen Richtlinien sind Teil der von Premierminister Shinzo Abe verfolgten Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik. Sie soll dem Inselstaat das Recht auf kollektive Selbstverteidigung gewähren. Dazu gehört, dass Japan seine Verbündeten, hier allen voran die USA, im Verteidigungsfall unter bestimmten Bedingungen militärisch unterstützen darf. Als Voraussetzung dafür ist eine Änderung oder wenigstens die Neuinterpretation der pazifistischen japanischen Nachkriegsverfassung erforderlich. Sie untersagt dem Land militärische Einsätze im Ausland. Bei UN-Einsätzen dürfen japanische Soldaten unter Umständen zwar zur eigenen Selbstverteidigung von der Waffe Gebrauch machen, nicht aber, um die Soldaten anderer UN-Kontingente bei einem Angriff zu verteidigen.
Der kleine Koalitionspartner der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) von Premierminister Abe, die Partei „New Komeito“, war mit der jetzt beschlossenen Lockerung des Exportverbots erst nach Zugeständnissen einverstanden. Dazu zählte das in den neuen Richtlinien festgeschriebene beziehungsweise erneut bekräftige Verbot von Waffenexporten an Konfliktstaaten ebenso wie die Verpflichtung der Regierung, die Bevölkerung über Rüstungsgeschäfte mit dem Ausland ausreichend zu informieren. Denn in der Öffentlichkeit und im Parlament ist die von Premierminister Abe verfolgte Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik keineswegs unumstritten. Die Gegner befürchten, dass Nippon seine nach dem Zweiten Weltkrieg eingenommene pazifistische Haltung teilweise aufgeben könnte. Regierungssprecher (Chef des Kabinettssekretariats) Yoshihide Suga beeilte sich deshalb zu versichern, dass Japan „nach den neuen Richtlinien (...) durch die Nutzung der Verteidigungsausrüstung des Landes aktiver zum Frieden und zur internationalen Zusammenarbeit beitragen werde“.
Um vor allem „New Komeito“ für eine Neuinterpretation der japanischen Verfassung zu gewinnen, arbeitet die Regierung in Tokio derzeit an einer Art Minimalkompromiss.
Er würde den Streitkräften das Recht auf kollektive Selbstverteidigung zumindest auf eigenem Territorium, in den japanischen Hoheitsgewässern und im Luftraum des Landes gewähren. Nach Medienberichten dürfte „New Komeito“ selbst unter diesen Einschränkungen von Premierminister Abe jedoch ein klares Bekenntnis dafür fordern, dass militärische Einsätze im Ausland mit dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung ausdrücklich nicht vereinbar sind.
Mit einer Einigung auf diesen Minimalkompromiss soll eine Verfassungsänderung vermieden werden. Denn für sie wären eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments sowie die Mehrheit in einem Volksentscheid notwendig. Die Aussichten dafür stehen derzeit jedoch schlecht. Aber selbst für eine sehr enge Auslegung des Rechts auf kollektive Selbstverteidigung ist die Unterstützung von „New Komeito“ keineswegs gesichert. „Wir müssen die Angelegenheit mit Umsicht beraten“, mahnte Ende März der Generalsekretär der Koalitionspartei, Yoshihisa Inoue, in einem Interview. „Öffentliche Unterstützung wird (für das Thema) nicht leicht zu gewinnen sein.“
Unterstützung im Bündnisfall
Ein wichtiger Streitpunkt bei der Kompromissfindung innerhalb des Regierungsbündnisses könnte beispielsweise die Frage betreffen, ob das Recht auf kollektive Selbstverteidigung innerhalb des eigenen Hoheitsgebietes auch dann bestünde, wenn bei einem Hilfseinsatz in japanischen Gewässern zum Beispiel ein US-amerikanisches Kriegsschiff bedroht würde, ob also in dem Fall die japanische Marine militärische Unterstützung leisten dürfte. Mit Blick auf die Territorialkonflikte zwischen Japan und China und vor dem Hintergrund der Bedrohung durch Nordkorea gewinnt das Szenario für Japan und die USA deutlich an Brisanz.
Erst im März haben Washington und Tokio die Einrichtung eines ständigen Beratergremiums beschlossen. Das „Japan-U.S. Coordination Office“ soll im Falle einer Eskalation der Spannungen zwischen Japan und China in den von beiden Ländern beanspruchten Territorien im Ostchinesischen Meer auch
die Abstimmung über mögliche militärische Gegenmaßnahmen erleichtern und beschleunigen. Das neue Gremium soll Bestandteil des japanisch-amerikanischen Verteidigungsbündnisses werden. Dessen Überarbeitung ist bis Ende 2014 vorgesehen. Ebenfalls im März hat das japanische Verteidigungsministerium die Einrichtung einer Spezialeinheit gegen Cyber-Angriffe mitgeteilt.
„Extrem kleine Veränderungen“
China hat auf die im Dezember mit der Verabschiedung einer Nationalen Sicherheitsstrategie und der Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates begonnene und zuletzt mit den neuen Bestimmungen für Rüstungsexporte fortgesetzte Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik wiederholt mit Besorgnis und Kritik reagiert. Japanische Experten bewerten die in den letzten Monaten getroffenen Maßnahmen hingegen als „extrem kleine Veränderungen zur bisherigen Sicherheitspolitik“. In der Tat hat sich Tokio bereits 2007 mit der Frage beschäftigt, ob es (1.) ein Schiff der US-amerikanischen Marine, das in japanischen Gewässern unter Beschuss gerät, schützen könnte, ob es (2.) im japanischen Luftraum eine Rakete abschießen könnte, mit der ein anderes Land angegriffen werden soll, ob es (3.) ausländische UN-Kontingente retten könnte, die bei einer Friedensmission der Vereinten Nationen angegriffen werden, und ob es (4.) wünschenswert sei, dass Japan für UN-Friedensmissionen auch darüber hinaus keine ausreichende Unterstützung leisten könne. In ihrem Bericht an den damaligen Premierminister Yasuo Fukuda kamen die mit der juristischen Prüfung beauftragten Experten 2008 zum Ergebnis, dass die vier Fragen grundsätzlich alle verneint werden müssten.
Die Befürworter der jetzt von Premierminister Shinzo Abe angestrebten Neuausrichtung der japanischen Sicherheitspolitik argumentieren vor diesem Hintergrund, dass es sich bei den Maßnahmen der vergangenen Monate vielleicht um eine Abkehr vom „passiven Pazifismus“ der Vergangenheit handele, dass sich Japan nach internationalen sicherheitspolitischen Standards damit im Grunde genommen aber nur darauf zubewege, ein „normales Land“ zu werden.