Der Triumph der HTS-Miliz und der Regimewechsel in Damaskus am 08.12.2024 bedeutet nicht nur ein Ende der über 50 Jahre dauernden Assad-Diktatur, sondern signalisiert auch den Übergang zu einem neuen Syrien, von dem jedoch bis jetzt niemand genau weiß, wie es aussehen wird. Sowohl Jordanien als auch der Irak, beides Länder, die seit jeher historisch und kulturell mit Syrien verbunden sind, hatten mit dem plötzlichen Ende des Assad-Regimes nicht gerechnet. Umso wichtiger ist es in diesem Kontext, die Perspektiven und Handlungsoptionen beider Staaten auszuloten.
Vor diesem Hintergrundorganisierte die KAS Jordanien in Zusammenarbeit mit dem Center for Strategic Studies (CSS) der University of Jordan ein Seminar, an dem Experten und politische Berater aus Syrien, Jordanien, und dem Irak sowie Diplomaten und Vertreter internationaler Institutionen teilnahmen. Der Roundtable war thematisch in zwei Abschnitte gegliedert, wobei im ersten Teil der Veranstaltung das Verhältnis Jordaniens zur neuen Situation in Syrien im Fokus stand, und im Anschluss daran die Perspektiven aus dem Irak. Zentrale Themen waren die Grenzsicherheit, die Vergangenheit und Zukunft der neuen Führung um Al-Scharaa, sowie die Rolle ausländischer Akteure in Syrien. Während der Diskussion wurde nicht zuletzt deutlich, inwiefern sich die Positionen Jordaniens und des Irak bezüglich des Regimewechsels in Damaskus unterscheiden. Während beide Staaten die neue Führung in Damaskus zwar anerkennen, zeigt sich Jordanien sehr viel offener für weitreichende Kooperationen mit den neuen Machthabern, während die Iraker Al-Scharaa misstrauischer betrachten.
Der Roundtable wurde vom Leiter des CSS, Dr. Hasan Al-Momani, sowie vom Leiter der KAS Jordanien, Dr. Edmund Ratka, eröffnet. Hierbei betonten sie das gemeinsame historische und kulturelle Erbe von Jordanien, Syrien und dem Irak als „Herz der Levante“. Außerdem wurden die Vorteile der gemeinsamen Betrachtung der Entwicklung in den drei Ländern gegenüber einer isolierten, auf die einzelnen Staaten fokussierten Sichtweise hervorgehoben. Der erste Panelist, ein Syrien-Experte, unterstrich ebenfalls, wie unerwartet der Regimewechsel in Syrien gekommen sei und nannte drei große Herausforderungen, mit denen sein Heimatland nach dem Sturz Assads konfrontiert sei. Zum einen die sicherheitspolitische Herausforderung aufgrund der mangelnden Autorität der neuen Zentralregierung, zum andern die Herausforderung durch ausländische Kräfte in Syrien, und schließlich die ökonomische Herausforderung (insbesondere durch die weit verbreitete Armut und die veraltete Infrastruktur). Der Sprecher forderte Syriens Nachbarn auf, sich am Wiederaufbau zu beteiligen, da dieser auch eine Chance darstelle. Er gab zu das Ahmed Al-Scharaa „nicht leicht zu lesen“ sei, betonte aber die Wichtigkeit, der neuen syrischen Führung vorläufig einen Vertrauensvorschuss zu geben. Außerdem gab er dem verbreiteten Gefühl unter den Syrern Ausdruck endlich „ihr Land zurückzuhaben“, weshalb viele von ihnen in ihr Heimatland zurückkehren wollten.
Ein Teilnehmer aus Jordanien wies ebenfalls auf das gemeinsame Erbe, sowie positive historische Orientierungspunkte der levantinischen Staaten hin, wie den zwar kurzlebigen und dennoch bedeutsamen Syrischen Nationalkongress im Jahr 1920. Er lobte darüber hinaus den relativ unblutigen Machtwechsel in Syrien und forderte, dass dies so bleiben müsse. Ein weiterer jordanischer Sprecher meinte, der Fall Assads eröffne drei unterschiedliche Alternativen für die Zukunft Syriens: Ein demokratisches Regime, was er als die unwahrscheinlichste Option bezeichnete, eine Fortsetzung des Bürgerkrieges, oder eine Diktatur. Er äußerte sich außerdem kritisch zur Rolle der USA und Israels. Israel sei ihm zufolge nicht an einem starken, vereinten Staat in Syrien interessiert und die USA sei in ihrer Außenpolitik stark mit Israel verknüpft. Ein weiterer Teilnehmer stimmte dieser eher pessimistischen Einschätzung bezüglich der Zukunft Syriens zu. Der Sprecher aus Syrien wiederum betonte, dass die Entwicklungen in Syrien bis zum jetzigen Zeitpunkt ein Grund zur Hoffnung seien und ein baldiges Ende der Sanktionen, welches seiner Einschätzung nach durchaus wahrscheinlich sei, die Lage weiter verbessern könnte.
Im Anschluss begann der Teil des Panels der sich explizit auf die Positionen und Konsequenzen für Jordanien bezog. Laut den jordanischen Referenten seien die Hauptherausforderungen für ihr Land, neben dem gewaltigen Zustrom von Flüchtlingen, vor allem der Drogen- und Waffenschmuggel aus Südsyrien sowie die Gefahr durch den IS, aber auch durch pro-iranische Milizen gewesen. Beide äußerten sich bezüglich der neuen Führung in Damaskus vorsichtig optimistisch und meinten, dass man die vormals genannten Herausforderungen in Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern lösen könne. Einer der beiden Sprecher wies in diesem Zusammenhang auf die positiven Eindrücke Ayman Safadis, des jordanischen Außenministers, bei seinem Besuch in Syrien hin. Der starke Einfluss der Türkei auf HTS wurde als teilweise problematisch bezeichnet, allerdings meinte einer der Sprecher, dass auch die Türkei, genau wie Jordanien, an einem stabilen Syrien interessiert sei.
Die Vorträge der Referenten waren Anstoß für eine Vielzahl von Fragen und Anmerkungen aus dem Plenum. Diskutiert wurde unter anderem, welche Konsequenzen die von der jordanischen Führung in den letzten Jahren betriebene Wiederannäherung an das Assad-Regime haben könnte, ob der Triumph von HTS ein Wiedererstarken des politischen Islam bedeute, und welche Rolle ausländische Kämpfer in Syrien spielten. Nach Einschätzung eines der Panelisten stellten die vergangenen Wiederannäherungsversuche Jordaniens mit Assad kein größeres Problem für die neue Führung in Damaskus dar, da diese „nach vorne“ und nicht so sehr in die Vergangenheit schaue. Bezüglich eines möglichen Wiedererstarken des politischen Islams meinte ein anderer Teilnehmer, dass dies durch den Triumph von HTS nicht gesetzt sei. Die Beziehungen Al-Scharaas zur Muslimbruderschaft seien durchaus ambivalent und auch in Syrien gäbe es starke säkulare Kräfte. Außerdem betonte er, dass die HTS nicht mit Gruppen wie den Taliban oder dem IS gleichzusetzen sei. Zum einen sei die Gruppe ideologisch sehr viel moderater und habe eine starke Transformation in den letzten Jahren unterlaufen, zum anderen sei insbesondere im Unterschied zum IS die Agenda der Gruppierung in erster Linie auf nationale Ziele in Syrien beschränkt. Diese nationale Ausrichtung zeige sich auch in dem Umstand, dass circa 90% der Kämpfer Syrer seien, während ausländische Kämpfer eine klar untergeordnete Rolle spielten.
Die relativ optimistische Einschätzung vieler Teilnehmer bezüglich der Zukunft Syriens wurde jedoch nicht von allen geteilt. Unter anderem wurde von mehreren Seiten zu denken gegeben, dass Syrien durch den Sturz Assads nicht automatisch geeint sei, insbesondere in Anbetracht der ethnischen und religiösen Vielseitigkeit des Landes. Interimspräsident Al-Scharaa werde zwar von vielen internationalen Akteuren besucht, was aber nicht heiße, dass er die volle Kontrolle über das Land habe.
Außerdem äußerten sich mehrere Teilnehmer aus Jordanien kritisch gegenüber der Rolle des Westens in der Region. Zum einen wurde ein unabhängiger Ansatz der arabischen Staaten gefordert, anstatt sich zu sehr auf den Westen zu verlassen. Zum anderen wurde die Unterstützung beziehungsweise das Nicht-Einschreiten von westlichen Staaten gegenüber der gegenwärtigen Syrien-Politik Israels kritisiert. Die israelischen Militärschläge in Syrien sowie die Besetzung weiterer syrischer Gebiete am Berg Hermon würden die politische Transition nach Assad zusätzlich erschweren.
Insgesamt sprach sich das Gros der jordanischen Teilnehmer dafür aus, das neue Regime in Damaskus zu unterstützen. Einer der Sprecher gab darüber hinaus zu denken, dass es im Kontext des Regimewechsel eventuell angeraten sei, sich zuerst auf die Schaffung stabiler Verhältnisse in Syrien zu konzentrieren, bevor man seinen Fokus auf rechtsstaatlich-demokratische Strukturen lege, was der Sprecher auf die einfache Formel „order before justice“ brachte.
Im Anschluss folgte das Panel zur Perspektive das Iraks auf die neuen Entwicklungen in Syrien, bestehend aus drei Sprechern. Auch auf diesem Panel wurden Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern betont, jedoch seien Syrien und der Irak durch „Kolonialismus und Diktatoren“ getrennt worden. Die beiden Länder hätten in den letzten Jahren ein „heiß-kaltes Verhältnis“ erlebt, schwankend zwischen zunehmender Nähe und Feindseligkeit. Auch der Irak sei nicht auf den plötzlichen Wechsel vorbereitet gewesen und viele Iraker stünden den neuen Verhältnisse in ihrem Nachbarland „vorsichtig und skeptisch“ gegenüber. Insbesondere wurde auf das problematische Bild des ehemaligen al-Qaida- Kämpfers Ahmed Al-Scharaas unter vielen Irakern hingewiesen, an dessen Händen, laut einem der Sprecher, „irakisches Blut klebe“.
Außerdem wiesen alle Sprecher darauf hin, dass sich die Perspektive auf den Machtwechsel in Syrien stark zwischen den unterschiedlichen Gruppen im Irak unterscheide. Während viele irakische Sunniten dem Machtwechsel positiv gegenüberstünden, wäre die Meinung unter den Schiiten nicht geeint und im Allgemeinen eher skeptischer. Auch die Kurden, die zwar den Sturz Assads grundsätzlich begrüßten, seien besorgt um den starken Einfluss der Türkei auf die HTS-Miliz. Die Zentralregierung in Bagdad fahre gegenüber den neuen Machthabern in Damaskus bisher eine zurückhaltende Position, was sich unter anderem in den bisher limitierten diplomatischen Kontakten zeige. Nichtsdestotrotz sei die irakische Regierung an stabilen Verhältnissen in ihrem Nachbarland interessiert und von Anfang bereit gewesen, an regionalen Initiativen zur Zukunft Syriens, wie dem Aqaba-Gipfel, teilzunehmen. Außerdem wurde betont, dass der Irak im Gegensatz zu anderen Ländern der Region schon während des syrischen Bürgerkrieges so gut wie möglich versucht hatte, sich aus den inner-syrischen Verhältnissen herauszuhalten.
Die Sprecher waren sich einig, dass die wichtigsten Anliegen des Irak bezüglich der Entwicklungen in Syrien sicherheitspolitischer Natur seien. Die größte Sorge der Iraker sei dabei ein Wiedererstarken des IS. Als potenzielles Risiko wurde dabei insbesondere die unklare Zukunft des Al-Hol-Camps bezeichnet, in dem IS-Mitglieder und ihre Familien leben, unter ihnen viele Iraker. Das Einfrieren amerikanischer Hilfen und der Abzug von US-Soldaten könnte die ohnehin prekäre Lage rund um das Camp weiter verstärken. Die Rückführung der derzeit in Al-Hol und weiteren Camps befindlichen Iraker wurde als wichtiges Ziel bezeichnet. Zusammenfassend betonten alle Sprecher, dass man trotz Skepsis auf eine Zusammenarbeit mit der neuen syrischen Führung hoffe. Einer der irakischen Panelisten betonte jedoch auch, dass Al-Scharaa „sich beweisen“ müsse, um das Misstrauen innerhalb der irakischen Bevölkerung zu entkräften. Ein Teilnehmer aus dem Plenum meinte darauf, dass es wichtig sei die positiven Signale al-Sharaas in Richtung Bagdad ernst zu nehmen. Der Panelist antwortete, dass die problematische Vergangenheit Al-Sharaa’s nicht geleugnet werden sollte. Stattdessen sollte der Machthaber sich bewähren und zeigen inwieweit, er beispielsweise bereit sei den freien Besuch von schiitischen Schreinen in Syrien zuzulassen. Darüber hinaus betonte der Panelist, dass es ein großer Trugschluss sei anzunehmen schiitische Iraker stünden aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit automatisch auf der Seite des Irans.
Außerdem wurde auch während dieses Panels die Rolle ausländischer Akteure kontrovers diskutiert. Ein Panelist betonte in diesem Kontext, dass es keine natürliche Allianz zwischen Israel und den Kurden gäbe. Derselbe Panelist hob außerdem hervor, wie sehr der Irak, Syrien und Jordanien Getriebene globaler Machtdynamiken seien. Eines der Hauptprobleme sei in diesem Zusammenhang der Mangel an „Führung“ unter den arabischen Staaten. Zusammenfassend sprachen sich zwar alle Panelisten für eine Kooperation mit der neuen Regierung in Damaskus aus, es wurde jedoch deutlich, dass die irakische Perspektive auf die Entwicklungen in Syrien von sehr viel mehr Zurückhaltung und Sorge geprägt ist als die jordanische.
Das Experten-Seminar zeigte, dass trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze sowohl Jordanien als auch der Irak grundsätzlich bereit sind, mit der neuen Führung um Al-Scharaa zu kooperieren und dass das oberste Interesse beider Staaten Stabilität in der Region ist. Außerdem wurde klar, dass beide Staaten einen regionalen Ansatz mit Unterstützung des Westens, nicht aber einen vom Westen diktierten Ansatz präferieren.
Der Roundtable schreibt sich ein in die langjährige Kooperation zwischen KAS Jordanien und CSS. Dabei werden über Experten-Seminare die geopolitische Lage und Politikoptionen für Jordanien und seine Partner in zentralen außenpolitischen Handlungsfeldern ausgeleuchtet.