Länderberichte
"Es ist verboten, während Auspeitschungen oder Elektroschocks zu weinen.“ Das war Regel Nummer 6 der Lagerordnung in Tuol Sleng, dem berüchtigten Gefängnis der Staatssicherheit S 21 der Roten Khmer. Als 1979 die vietnamesische Armee in Phnom Penh einrückte und der Schreckensherrschaft Pol Pots ein Ende setzte, lebten in Tuol Sleng noch sieben Häftlinge. Rund 14.000 Menschen wurden in Tuol Sleng gefoltert. Wer nicht daran starb, wurde auf den "Killing Fields“ vor den Toren Phnom Penhs umgebracht.
Als erster hochrangiger Roter Khmer steht seit gestern der einstige Chef des Foltergefängnisses vor dem Tribunal aus kambodschanischen und internationalen Richtern zur Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer. Ohne eine Miene zu verziehen, hörte Kaing Guek Eav, genannt Duch, der Verlesung der Anklagepunkte zu: Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gelassen blieb der heute 65jährige auch, als detailliert Foltermethoden beschrieben wurden: „Gefangene wurden in Wasserfässer getaucht, bis sie fast ertrunken sind. Andere wurden mit Stricken an den Gliedmaßen aufgehängt, oder man hat ihnen die Fingernägel ausgerissen.“
Vor Gericht machte der ehemalige Rote Khmer lediglich Angaben zur Person. "Ich bin 66 Jahre alt und von Beruf Lehrer.“ Die Hände hielt der mit einem weißen Hemd, grauer Hose und schwarzen Sandalen bekleidete Duch in buddhistischer Manier vor der Brust gefaltet, obgleich er inzwischen wie einige tausend Rote Khmer zu einem „wiedergeborenen Christen“ geworden ist.
Der Chefhenker des Regimes beantragte bei der live im Fernsehen übertragenen Anhörung Haftverschonung. „Ich möchte Freilassung gegen Kaution beantragen, weil ich schon acht Jahre, sechs Monate und zehn Tage in Haft war“, sagte er. Das verstoße sowohl gegen kambodschanisches Recht als auch gegen die internationalen Menschenrechte.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet dieser Angeklagte sich auf Menschenrechte beruft. Die Roten Khmer hatten das kleine Königreich auf der südostasiatischen Halbinsel zwischen Thailand und Vietnam von 1975 bis 1979 mit einem beispiellosen radikal-maoistischen Staatsterror überzogen. Die Städte wurden entvölkert und ihre Bewohner in Arbeitslager auf das Land gezwungen. Familien wurden auseinander gerissen und in Männer-, Frauen- und Kinderlager interniert. Religion, Kunst, Geld und Märkte wurden abgeschafft, Krankenhäuser geschlossen.
Das Leben bestand aus schwerster Zwangsarbeit und kommunistischer Propaganda. Ehen wurden von der „Angkar“, der Organisation, auf Befehl geschlossen und nicht von Familien, wie in Kambodscha bis dahin üblich, oder etwa aus Liebe. Viele dieser Zwangsehen halten bis heute. Etwa 1,7 Millionen Kambodschaner oder ein Viertel der damaligen Bevölkerung kamen uns Leben: Erst wurden Gebildete, Bürgerliche, Mönche und Minderheiten gezielt hingerichtet. Später waren es „Säuberungen“ innerhalb des paranoiden Parteiapparats.
Die Nation ist bis heute tief traumatisiert. Fünf der Roten Khmer-Anführer sitzen in Untersuchungshaft, 28 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft unter Führung Pol Pots. Nun kann das rechtsstaatliche Verfahren gegen die greisen kommunistischen Politiker in Kambodscha beginnen. Der Rechtsstaat ist schwach. Die Gerichte gelten als regierungsabhängig und korrupt. Das Tribunal aber ist internationalen Rechtsstandards verpflichtet und steht unter internationaler Aufsicht.
Duch sitzt seit 1999 in Untersuchungshaft, ohne dass vor 2006 Bewegung in den Prozess gekommen wäre. Eine so lange Untersuchungshaft hält rechtsstaatlichen Standards kaum stand. „Ich rechne mit einer längeren Verhandlungsdauer in dieser Sache,“ sagt Jörg Menzel, Jurist von der Universität Bonn und Rechtsberater beim Parlament in Kambodscha. „Ich wäre nicht überrascht, wenn auch die anderen Untersuchungshäftlinge Haftbeschwerden anstrengen würden“, meint die deutsche UN-Juristin Pamela Rauch, von der Staatsanwaltschaft an dem Gerichtshof. Die anderen vier waren bis jetzt frei – in Phnom Penh oder in den Provinzen. Sie sind auch zu Wohlstand gekommen. Edelsteine und Tropenholz haben sie auf die internationalen Märkte bringen können.
Der „Nürnberger Prozess“ in Deutschland war das erste moderne internationale Kriegsgericht. Es kam schnell zu Urteilen. Das Khmer-Tribunal steht nach dem Ruanda- Jugoslawien-, Osttimor- oder Sierra-Leone-Tribunal als jüngstes in seiner Tradition und ist doch etwas Neues: es ist das erste „hybride“ Gericht mit kambodschanischem und internationalem Personal. Die Kambodschaner stellen die Mehrheit der Richter und Staatsanwälte. Aber ein Urteil gegen ein ausländisches Votum kann nicht ergehen.
Zweifel werden geäußert, ob die kambodschanischen Juristen unabhängig seien. Einige heutige Kabinettsmitglieder waren selbst Rote Khmer und erst in der Endphase des Regimes nach Vietnam geflohen – sei es aus Angst vor innerparteilichen „Säuberungen“ oder aus Abscheu vor dem Morden. Chinas „Kulturrevolution“ war den Roten Khmer Vorbild. China wird auch die Unterstützung der Roten Khmer nachgesagt mit Waffen und Geld. Es ist kaum anzunehmen, dass die neue Großmacht daran in der Weltöffentlichkeit erinnert werden möchte. Ex-König Sihanouk hatte sich mit den Roten Khmer verbündet, nachdem er 1970 von der Macht geputscht worden war und hat mit ihnen gemeinsam seinen Nachfolger Lon Nol bedrängt.
Welche politische Wendung nach Lon Nols Niederlage und Flucht kommen sollte, das hatte er nicht wissen können. Die Vereinten Nationen unter maßgeblichen Einfluss der „freien Welt“ haben der von Vietnam und vom Warschauer Pakt dominierten neuen Volksrepublik Kampuchea nach 1979 die internationale Anerkennung verweigert.
In der UN-Vollversammlung traten die Roten Khmer gemeinsam mit den beiden anderen Bürgerkriegsgruppen gegen das vietnamesisch dominierte kommunistische Kambodscha auf, Royalisten und Liberalbuddhisten. Es war die Zeit des Kalten Krieges und die Kambodschaner haben wie kein anderes Volk darunter gelitten. Viele haben Angst davor, dass ihre indirekte Mitschuld in die Öffentlichkeit getragen wird.
Japan bezahlt fast die Hälfte der Prozesskosten des Tribunals in Höhe von 56,3 Millionen US-Dollar. Tokio hat zwar Vorwürfe über seine imperialistische Zeit in Asien zu ertragen, ist aber in das Leiden Kambodschas nicht verstrickt. Bisher liegen keine Anklageschriften vor. Mit der ersten Hauptverhandlung sei Mitte 2008 zu rechnen, sagte Robert Petit, der internationale Hauptankläger. In Kambodscha wird das Tribunal intensiv verfolgt. Es bietet Anlass zur Beschäftigung mit einer lange verdrängten Vergangenheit.
Die Geschichtsbücher für den Schulunterricht klammern die Rote-Khmer-Zeit aus. Jetzt fördern viele Nichtregierungsorganisationen Aufklärungsarbeit im Lande. Denn Menschen, die lieber verdrängen als von der Vergangenheit lernen wollen, gibt es in Kambodscha ebenso wie im Deutschland nach dem Nationalsozialismus. Von deutscher Seite sind vor allem der Deutsche Entwicklungsdienst und die Konrad-Adenauer-Stiftung an der Aufklärungsarbeit beteiligt.
Das Tribunal bietet auch eine Chance zur Demonstration von rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren im notorisch schwachen Rechtssystem des Landes. Wo so viele Interessen berührt werden wie bei diesem Prozess über politische Verbrechen, die so lange zurückliegen, wird bedroht und sogar gemordet, um Schuld zu vertuschen. Deshalb brauchen aussagewillige Opfer und Zeugen Schutz. Auf welcher Rechtsgrundlage und wie dieser Schutz gewährt werden kann, ist Inhalt eines Projekts der Konrad-Adenauer-Stiftung. Deutsche Polizeioffiziere schulen kambodschanische Kollegen. Die Bevölkerung wird über all dies informiert. Denn welche Rechte Bürger in einem Rechtsstaat haben, das ist nach Jahrzehnten Krieg und Genozid in Kambodscha nur noch schwer vorstellbar.
Wolfgang Meyer, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Kambodscha