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Länderberichte

Hart an der Grenze

von Dr. Hubert Gehring, Henning Suhr

Venezuela schürt Konflikt mit Kolumbien

Das Verhältnis zwischen Kolumbien und Venezuela während der letzten Jahrzehnte ist wahrlich ein interessantes und des Öfteren spannungsreiches Nebeneinander und weniger ein Miteinander. War vor 15 Jahren Venezuela aufgrund des Ölbooms noch in einer Art Goldgräberstimmung mit bis heute zwischen 5,5 und 6 Millionen kolumbianischen Einwanderern, ändert sich in den letzten Jahren zunehmend die Wanderungsrichtung; immer mehr Menschen aus der Mittelschicht Venezuelas versuchen das Land z.B. in Richtung Panama, USA oder auch Kolumbien zu verlassen.

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Die grüne Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela war vor allem seit Beginn der Ära Chávez in immer stärkerem Maße ein Tummelplatz von Schmugglerbanden und Drogenhändlern, der kolumbianischen FARC, Paramilitärs und korrupten venezolanischen Generälen und Militärangehörigen. Und schon Hugo Chávez hat in unregelmäßigen Abständen den rhetorischen Konflikt mit Kolumbien gesucht, um von problematischen Entwicklungen im eigenen Land abzulenken. Vor allem mit dem kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe hatte er bis 2010 einen Gegenspieler, der dann auch regelmäßig so reagierte wie es Chávez wohl erwartete und wollte - hart und immer bereit für ein kriegerisches Wortscharmützel.

An diese Vorfälle aus der Vergangenheit dachte im Juli 2015 in Bogotá wohl niemand, als Nicolás Maduro, rhetorisch und politisch weit weniger raffiniert als sein Vorgänger Hugo Chávez, einen alten Grenz- und Territorialstreit mit dem kleinen östlichen Nachbarland Guayana wieder aufleben ließ. Die Kommentatoren und Politiker in Bogotá waren froh, dass die „Nebelkerzenaktion“ Maduros dieses Mal nicht sie, sondern einen anderen Nachbarn traf. In den Oppositionskreisen in Caracas ging man mit Blick auf die Parlamentswahlen am 6. Dezember ebenfalls von einem Ablenkungsmanöver der venezolanischen Regierung aus. Mit großem Aufwand versuchte Maduro einen Konflikt mit Guayana zu inszenieren, dabei war es der politische Übervater Chávez selbst, der seinerzeit Guayana freie Hand bei der Entwicklung der umstrittenen Grenzregion gab. Im Gegensatz zu Kolumbien verbindet die meisten Venezolaner ein recht unemotionales Verhältnis mit dem Nachbarland Guayana, weshalb das Schüren nationalistischer Gefühle nicht zündete.

Maduro nutzt die Fotos von ausgewiesenen Kolumbianern für den Wahlkampf

Auch international traf der Fall Guayana wohl nicht auf die Reaktion, die Maduro sich erwartet hatte. Die Aufregung verpuffte relativ schnell. Und so kam es dann am 19. August 2015 in der venezolanischen Grenzstadt San Antonio zu einem Vorfall, der Kolumbien wieder in den Vordergrund rücken sollte. Drei venezolanische Soldaten und ein Zivilist wurden verletzt, als Unbekannte auf Motorrädern auf sie schossen. Maduro machte sofort kolumbianische Paramilitärs für den Angriff im Grenzgebiet verantwortlich. Am 21. August rief der venezolanische Präsident in sechs Grenzgemeinden des Gliedstaates Táchira den Ausnahmezustand aus und schickte ca. 5000 Soldaten der venezolanischen Nationalgarde in die Grenzregion – dies sei notwendig „im Kampf gegen Paramilitärs und Kriminelle, gegen Schmuggel, Drogenhandel und Entführungen“ . Für 60 Tage erhält der chavistische Gouverneur von Táchira, José Vielma Mora, die Aufgabe, das Dekret umzusetzen. Dazu zählen u.a. die Inspektion verdächtiger Wohnviertel, das Verbot von Menschenansammlungen oder die Kontrolle sämtlicher Waren- und Personentransporte. Der verhängte Ausnahmezustand schränkt somit diverse Grundrechte empfindlich ein. In dem entsprechenden Amtsblatt ist die Möglichkeit einer Verlängerung des Ausnahmezustands um weitere 60 Tage vorgesehen, so dass nicht nur der Zeitraum vor, sondern auch nach den Wahlen betroffen ist. Da die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) in dem Gliedstaat Táchira derzeit sehr unpopulär ist, hat die Regierung durch den verhängten Ausnahmezustand den wenig überraschenden Nebeneffekt erzeugt, den Wahlkampf der Opposition behindern oder sogar kurzfristig die Wahlen in den betroffenen Wahlkreisen aussetzen zu können.

Am 28. August verhängte Nicolás Maduro den Ausnahmezustand in weiteren vier Gemeinden Táchiras . Am 7. September folgten drei Grenzgemeinden des Gliedstaates Zulia. Die verschiedenen Gemeinden wurden in drei „Sondergrenzregionen“ eingeteilt, in denen die Grenzübergänge seither geschlossen sind. Bisher konnte die Grenze schon nur tagsüber passiert werden, und nun ist jeglicher legaler Grenzverkehr in den betroffenen Grenzposten untersagt.

Besonders die drei Gliedstaaten Zúlia, Táchira und Apure leben großenteils von dem legalen und illegalen Handel mit den kolumbianischen Nachbarn. Die Schließung der Grenze hat zur Folge, dass das wirtschaftliche Leben auf beiden Seiten der Grenze zunehmend zum Erliegen kommt. Maduros Anliegen, den Schmuggel mit billigen – weil preisregulierten – Waren von Venezuela nach Kolumbien zu verhindern, dürfte nur mäßig erfolgreich sein. Laut Augenzeugenberichten passieren nach wie vor zahlreiche schwer beladene Lastwagen die Grenze gen Kolumbien. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das venezolanische Militär und die Nationalgarde in dem illegalen Grenzhandel verstrickt sein sollen. Entsprechend aussichtslos kann eine effektive Bekämpfung des Schmuggels betrachtet werden.

Kolumbianer werden zu Sündenböcken einer hausgemachten Krise erklärt

Maduro verband seine Aktionen mit einem Schritt, der angesichts der Flüchtlingswellen in Europa, dem Nahen Osten und Afrika auch für die Medien elektrisierend wirkte. Er wies bis heute ca. 1500 Kolumbianer aus Venezuela aus. Armselige Behausungen von Kolumbianern wurden von Soldaten mit einem „D“ für „Demolición“, zu Deutsch Abriss, gekennzeichnet. Kurz darauf erfolgte die Zerstörung der Hütten mit schwerem Gerät. Es erfolgten zahlreiche Hausdurchsuchungen mit ebenso vielen legalen wie illegalen Konfiszierungen. 8000 weitere kolumbianische Staatsbürger ergriffen aus Angst vor Repressalien die Flucht. Die öffentlichkeitswirksamen Fotos, die zeigen, wie Männer und Frauen mit Koffern, Baumaterial und anderen Habseligkeiten den Grenzfluss Táchira durchwaten, fand man in vielen Medien Lateinamerikas aber auch anderer Länder auf den Titelseiten.

Im Ergebnis gibt es ihn nun wieder, den rhetorischen Konflikt zwischen Kolumbien und Venezuela, mit dem Maduro von den existentiellen Problemen des eigenen Landes – wie galoppierender Inflation und Versorgungsnotstand – ablenken und Wahlkampf für die Parlamentswahl im Dezember mit dem Thema „Kolumbien“ betreiben kann. Es bleibt abzuwarten, ob ein signifikanter Anteil venezolanischer Wähler die perfide Argumentation Maduros abkauft, nach der die kolumbianischen Mitbürger und eine angebliche „Aggression“ des Nachbarlandes für die Krise in Venezuela verantwortlich seien. Erstens wird der Schmuggel mit fehlenden Waren weitergehen, denn dafür sind die Gewinnmargen zu hoch, die Korruption zu verbreitet und die Grenze zu unkontrollierbar. Zweitens ist die Unterversorgung mit Nahrungsmitteln und anderen Produkten des täglichen Bedarfs nur in Teilen auf den Schmuggel und vielmehr auf den niedrigen Ölpreis und ein allgemein zum Scheitern verurteiltes Wirtschaftsmodell zurückzuführen, das durch unsinnige Anreize (z.B. die Benzinpreispolitik) und Ineffizienz geprägt ist.

Streitigkeiten mit Venezuela in einem für Kolumbien ungeschickten Moment

Für Kolumbien und vor allem den kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos ist diese Entwicklung alles andere als passend. So befindet sich der Verhandlungsprozess in Havanna mit der Guerillaorganisation FARC zur Beendigung des nunmehr 50-jährigen bewaffneten Konflikts in Kolumbien in einer entscheidenden Phase. Manche sagen sogar auf der Zielgeraden. Da ist ein, wenn auch nur rhetorischer, Konflikt mit dem Nachbarland Venezuela, eines der für den Friedensprozess wichtigen Nachbarländer und bis heute Rückzugsland für wichtige FARC-Größen, alles andere als förderlich. Dazu kommt, dass auch in Kolumbien im Oktober dieses Jahres landesweit Länder- und Gemeindewahlen stattfinden.

Diese Rahmenbedingungen waren wohl der Grund dafür, dass der kolumbianische Präsident Santos zunächst kaum auf die venezolanischen Provokationen reagierte. Zwar verhandelte die kolumbianische Außenministerin María Angela Holguín mit ihrer venezolanischen Kollegin Delcy Rodríguez, aber von Santos waren außer Sätzen wie „die Vertreibungen aus Venezuela sind völlig unakzeptabel“ bzw. „die venezolanischen Probleme sind hausgemacht und nicht von Kolumbien oder anderen Teilen der Welt verursacht“ , nichts zu hören. Anders die Reaktionen seines innenpolitischen Gegners, dem ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Er reiste mit seinen Kandidaten für die Regionalwahlen sofort in das Grenzgebiet und verglich die Ausweisungen mit dem Holocaust. Im Ergebnis dürfte Präsident Santos in den Grenzgebieten wohl kein so gutes Ergebnis bei den Regionalwahlen einfahren.

Parallel zu den innenpolitischen Entwicklungen in Kolumbien gab es aber auch heiß laufende Drähte auf internationaler Ebene mit der UNO, UNASUR und der OAS. Beide Länder versuchten und versuchen natürlich ihre eigenen Interessen durchzusetzen bzw. für diese zu werben. Und auch hier agierte Präsident Santos zunächst nicht gerade glücklich. Eine von Kolumbien beantragte Sondersitzung der OAS wurde abgelehnt. Offenbar hatte es Kolumbien im Vorfeld versäumt, in seinem Sinne Lobbyarbeit zu betreiben. In den kommenden Tagen will sich die UNASUR mit der Angelegenheit befassen.

Konflikt dient zur Einschränkung von Grundrechten vor den Wahlen

Der venezolanische Staatspräsident goss derweil weiter Öl ins Feuer, indem er Santos vorwarf, er würde den angeblichen Aufrufen kolumbianischer Zeitungen zu einem Putsch in Venezuela nichts entgegensetzen. Während eines Staatsbesuches in Vietnam legte er nach, dass er die Dialogbereitschaft Kolumbiens teile, es jedoch er sei, der die Konditionen für einen ebensolchen bestimme. Eine ähnliche widersprüchliche Argumentation und Vorgehensweise hat Maduro bereits im Konflikt mit Guayana oder mit Bezug auf die Verhängung von Sanktionen gegen hochrangige Staatsbedienstete Venezuelas durch US-Präsident Obama angewendet: Mit dem Vorwurf, Opfer äußerer Aggressionen zu sein, werden innenpolitische Maßnahmen durchgeführt, die in erster Linie das Beschneiden von Freiheitsrechten mit sich bringen und den Aktionsradius der Opposition einschränken. So haben sich – vermutlich aus Angst – noch keine oppositionellen Bürgermeister in Táchira zu den aktuellen Grenzstreitigkeiten öffentlich geäußert.

Laut Demoskopen droht der regierenden PSUV eine Niederlage bei den bevorstehenden Parlamentswahlen. Angesichts der schwersten Wirtschaftskrise des Landes und sinkenden Umfragewerten steht Maduro auch innerhalb der PSUV enorm unter Druck. Eine Niederlage bei den Parlamentswahlen könnte nicht nur für die PSUV, sondern vor allem für ihn zu einem großen Problem werden, auch wenn sein Mandat als Staatspräsident erst 2019 endet. Umso mehr scheint ein wahltaktisches Manöver als wahrer Grund für einen Konflikt mit dem Nachbarland Kolumbien wahrscheinlich. Denn ähnlich wie in Deutschland werden die Abgeordneten per Direktwahl und per „Landesliste“ gewählt, mit dem Unterschied, dass die Wahlkreise verschieden groß sind. Aufgrund der Verteilung der Wahlklientel und der Wahlkreiszuschneidung muss die PSUV nicht die Mehrheit der Stimmen erringen, um die Mehrheit im Parlament zu erzielen. Es ist durchaus denkbar, dass die Stimmen aus Táchira am Ende der Opposition fehlen könnten, sollten dort angesichts der Umstände die Wahlen ausgesetzt bzw. verschoben werden.

Wie geht es weiter?

Die Angelegenheit hat sich inzwischen so sehr im Sinne von Maduro hochgeschaukelt, dass wohl kaum vor den venezolanischen Wahlen mit einer Beruhigung zu rechnen ist. Die Region ist beiderseitig kaum kontrollierbar und zu unübersichtlich, als dass man die Situation nicht zu politischen Zwecken missbrauchen könnte – wie es Maduro vormacht. Der am Anfang stehende Überfall auf die venezolanischen Polizisten in San Antonio ist wohl das Ergebnis zwischen rivalisierenden venezolanischen kriminellen Banden, aber der Vorwurf an Kolumbien, nichts gegen den Schmuggel im Grenzgebiet zu tun, trifft wohl zu. Zu sehr profitiert Kolumbien von dem Schmuggel mit venezolanischem Benzin. Fährt man durch die wüstenartige Halbinsel Guajira im Norden Kolumbiens, so trifft man nicht auf Polizei, wohl aber auf viele Ziegen und sieht eine Unzahl von geschmuggelten Benzinkanistern an den kleinen Holzhäusern quer durch das ganze Bundesland. Wohl auch deshalb gibt es kaum normale Tankstellen in der Guajira.

Das Beispiel von Guajira ist nur eines von vielen, die die Entwicklungen in Kolumbien verdeutlichen, nachdem sich der Staat aus Regionen zurückgezogen hat und das Machtvakuum von kriminellen Banden, der FARC, Paramilitärs oder von korrupten Lokalpolitikern ausgenutzt worden ist. Nicht zuletzt deshalb sind nach einem evtl. Friedensschluss mit der FARC, wichtige Reformprojekte in den Bereichen Bildung, Verwaltung und Dezentralisierung notwendig.

Was das weitere politische Agieren seitens des kolumbianischen Staates im Grenzkonflikt betrifft, haben die Entscheidungsträger wohl realisiert, dass eine Beruhigung sowohl im Sinne einer Problemlösung ist als auch verhindern würde, dass Maduro das Thema Kolumbien weiterhin im Wahlkampf instrumentalisiert. Nicht zuletzt deshalb haben sich die Linien von Santos und Uribe in dieser Frage kürzlich angenähert – ein sehr selten vorkommendes Phänomen. Im Ergebnis wird die kolumbianische Seite die Thematik wohl auf eine Verhandlungskommission verlagern und auch verbal abrüsten. Nach den venezolanischen Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres dürfte die Thematik dann versanden.

Es bleiben die Vertriebenen. Hier ist zu hoffen, dass der kolumbianische Staat den Menschen hilft, in ihrem alten und neuen Heimatland eine neue Existenz aufzubauen – angesichts der Erfahrungen mit den Millionen von Binnenvertriebenen in Kolumbien sind diesbezüglich jedoch Zweifel erlaubt. Und was Venezuela betrifft: Hier ist bei einer geschätzten Inflationsrate von rund 180 Prozent im Jahr 2015 und einer erwarteten Inflationsrate von über 200 Prozent für 2016 der Tag des wirtschaftlichen Zusammenbruchs wohl nicht mehr weit. Dann werden eventuell viele der venezolanischen Nachbarn ihren ausgewiesenen kolumbianischen Nachbarn nachfolgen – über den Grenzfluss Rio Táchira nach Kolumbien.

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2. Juni 2015
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