Länderberichte
Nach Beschluss des EU-Ministerrates und auf der Basis eines positiven Votums Carla Del Pontes, der Chefanklägerin des UN-Kriegsverbrechertribunals im Haag, begannen in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober 2005 die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und Kroatien. Auf kroatischer Seite sind diesem historischen Ereignis Monate des Zweifelns und des Hoffens voran gegangen.
Wie ist es zu der positiven Wende gekommen? Welche Folgen hat sie konkret für die kroatische Politik? Was sind die neuen Herausforderungen für die Regierung von Premierminister Sanader und seine Partei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft HDZ?
Die Entscheidung für Kroatien
„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie enttäuscht ich bin.“ – Mit diesen Worten verlies noch drei Tage vor dem für Kroatien erfolgreichen EU-Gipfel ICTY-Chefanklägerin Del Ponte nach Gesprächen mit Staatspräsident Mesić und Regierungschef Sanader die kroatische Hauptstadt Zagreb. Del Pontes Statement, von den Medien sofort aus dem Zusammenhang gerissen, ließ allenthalben die schmerzhafte Erinnerung an den 17. März des Jahres wach werden. Seinerzeit war der schon sicher geglaubte Verhandlungsbeginn vor dem Hintergrund des Vorwurfs mangelnder Zusammenarbeit mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden. Vielen Kritikern an dieser Entscheidung, auch außerhalb Kroatiens, erschien der Beschluss des EU-Ministerrates vom vergangenen März als zu hart, und die kritischen Stimmen mehrten sich in dem Maße wie das Datum des Verhandlungsbeginns mit der EU-Kandidatin Türkei näher rückte. Die österreichische Regierung hat diese Kritik in den vergangenen Wochen, wohl auch vor dem Hintergrund des Landeswahlkampfes in der Steiermark, weiter zugespitzt und in der öffentlichen Diskussion ein Junktim zwischen den türkischen und kroatischen Beitrittsverhandlungen hergestellt: die EU könne nicht mit der muslimischen und überwiegend außerhalb des europäischen Kontinents liegenden Türkei Beitrittsverhandlungen beginnen, diese aber gleichzeitig dem christlich geprägten, europäischen Kernland Kroatien verweigern.
In diesem Sinne hat die österreichische Diplomatie auf dem jüngsten europäischen Gipfel Überzeugungsarbeit geleistet.
Neben Spekulationen über die Verhandlungsdramaturgie des „Türkei-Gipfels“ wird dieser Tage vielfach auch darüber gerätselt, wieso Chefanklägerin Del Ponte innerhalb von drei Tagen ihre Einschätzung bezüglich der Qualität ihrer Zusammenarbeit mit Kroatien so drastisch hat ändern können. Hierzu ist zunächst festzuhalten, dass sich Carla Del Ponte in der Vergangenheit durch nichts und niemanden hat unter Druck setzen lassen. Darüber hinaus haben ihr die kroatischen Medien am vergangenen Freitag nicht richtig zugehört und dabei ist ihnen die gute Nachricht entgangen: die Chefanklägerin hatte ihre Enttäuschung darauf bezogen, dass man den flüchtigen Ex-General Gotovina immer noch nicht habe verhaften können. Im Nachsatz erklärte sie, dass ihre Enttäuschung gerade wegen der „sehr engen Kooperation“ mit den kroatischen Stellen so groß sei. Del Pontes Hinweis drei Tage später, dass sie glücklich sei, wenn Serbien und Montenegro so gute Zusammenarbeit wie Kroatien leisteten, muß man daher keineswegs als Widerspruch deuten. In der Tat hatte die kroatische Regierung sich seit dem vergangenen Frühjahr durch die Etablierung eines operativen Plans zur Ergreifung Gotovinas viel intensiver als zuvor darum bemüht, die Erwartungen Carla del Pontes zufrieden zu stellen, weil die Fahndungsanstrengungen seither klar nachvollzogen werden konnten. Del Ponte ihrerseits hatte sich in den vergangenen Monaten so sehr auf die Ergreifung des flüchtigen Ex-Generals konzentriert, dass am Ende ihre eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stand. Nicht mehr die ernsthaften Bemühungen der kroatischen Seite in bezug auf die Fahndung, sondern die Ergreifung des Flüchtigen selbst, schien zur „conditio sine qua non“ geworden zu sein. Am Ende sah sich selbst der Vatikan mit dem Vorwurf der Haager Chefanklägerin konfrontiert, er gewähre Gotovina in kroatischen Klöstern Unterschlupf.
Insgesamt war der für Kroatien und auch für die EU so wichtige Beginn der Beitrittsverhandlungen vom Zeitpunkt her ein Ergebnis unterschiedlicher Faktoren, die zusammentrafen: der Verhandlungsbeginn mit der Türkei, die Überzeugungsarbeit der österreichischen Diplomatie, Kroatiens weitere Fortschritte in der Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal sowie eine gewisse Neubewertung des Falles Gotovina duch Chefanklägerin Del Ponte haben zu der guten Fügung beigetragen.
Kroatiens innenpolitische Situation nach dem Verhandlungsbeginn
Der Beginn der Verhandlungen wurde von allen im kroatischen Parlament vertretenen politischen Parteien ohne Einschränkung begrüßt. In den Medien spiegelten sich Freude und Erleichterung wieder, in die sich zahlreiche Warnungen vor einem Übermaß an Euphorie angesichts der nun zu erwartenden Herausforderungen im weiteren Anpassungsprozess mischten.
Dennoch sah der Wochenbeginn einen strahlenden Regierungschef, der vor allem die Glückwünsche seiner politischen Gegner sichtlich genoss. Ivo Sanader hatte zuletzt alles auf eine Karte gesetzt. Seiner Grundeinschätzung folgend, dass sich schwierige Reformprozesse in seinem Land ohne den Druck des Anpassungszwanges an das Normen- und Regelwerk der EU nicht würden gestalten lassen, war Sanader auch in den letzten, für ihn sehr schwierigen sieben Monaten keinen Augenblick von seinem proeuropäischen Kurs abgewichen.
Während Medien und innenpolitische Gegner immer mehr das Bild eines Regierungschefs zeichneten, der, erfolglos um die Gunst der EU buhlend, über permanentes internationales Lobbying die Regelung der inneren Angelegenheiten vernachlässigt, bewies dieser Standvermögen. Angesichts deutlicher Stimmenverluste für seine Partei bei den Kommunalwahlen im vergangenen Frühjahr, des Absinkens der HDZ in den Umfragewerten (streckenweise bis auf 15% , von knapp 30% bei den letzten Parlamentswahlen), wachsender innerparteilicher Widerstände und drastisch sinkender Zustimmung zur EU in der Bevölkerung wurde der baldige Beginn der Beitrittsverhandlungen schließlich für Ivo Sanader zu einer Frage des politischen Überlebens.
Nun kann der kroatische Regierungschef zunächst aufatmen, um sich dann mit aller Kraft dem selbstgesteckten Ziel zu widmen, sein Land in die Europäische Union zu führen. Er wird dabei auch von der deutlichen Mehrheit seiner politischen Gegner unterstützt werden, deren Einbindung in einen proeuropäischen Grundkonsens Sanader erfolgreich gelungen ist – sei es durch die Herbeiführung eines Allparteienbeschlusses des Parlamentes pro EU-Beitritt oder, indem er den Chef der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen SDP als Vorsitzenden des wichtigen Parlamentsausschusses für den EU-Beitritt gewinnen konnte.
Die Gestaltung des Reformprozesses als neue Herausforderung der Regierung Sanader
Für die kroatische Regierung gilt es nun, aus dem Beginn der Verhandlungen mit der EU die nötige Dynamik für die weitere Gestaltung des innenpolitischen Refomprozesses zu schöpfen. Überspitzt formuliert ließe sich sagen, dass nun, in der Mitte der vierjährigen Legislaturperiode das harte Geschäft des Regierens für Ivo Sanader und sein Kabinett so richtig beginnt.
Dabei ist die Erfolgsbilanz bisheriger Reformpolitik ziemlich zwiespältig:
Zwar wächst die kroatische Wirtschaft jährlich um etwa 4 %, doch die in der Regierungserklärung Ende 2003 dauerhaft angepeilten 5 % wurde bisher nicht erreicht. Mit der Einrichtung von sogenannten „One-Stop-Shops“ schuf die kroatische Regierung zwar für Bürger und Unternehmen die Möglichkeit, Behördengänge auf einen Ort zu konzentrieren, doch die Wirkungsmacht einer übermächtigen Bürokratie ist in Kroatien immer noch überall zu spüren. Auch gelang es der Regierung, die Gründung von Betrieben formal wesentlich zu erleichtern, doch in der Praxis wirkt sich dies noch kaum aus. Auch ausländische Investitionen bleiben weit hinter den Erwartungen zurück. Das internationale Lobbying Kroatiens in diesem Bereich wird auch von deutschen Fachleuten immer wieder als katastrophal beschrieben. Katastrophal ist auch die politische Kommunikation der Regierungstätigkeit in die Öffentlichkeit. Von offizieller Seite wird kaum erklärt, welchem übergeordneten Zweck reformpolitische Einzelmaßnahmen dienen; auch gibt es keine öffentliche Diskussion um wirtschafts- oder gesellschaftspolitische Konzepte, und auf den Internetseiten offizieller Stellen haben Reformprojekte und deren Ergebnisse kaum Spuren hinterlassen.
Weitere ungelöste Probleme sind derzeit neben einer hohen Auslandsverschuldung die mit über 18% immer noch sehr hohe Arbeitslosigkeit, der ins Stocken geratene Privatisierungsprozess und die nur sehr schleppend verlaufende Reform des Justizwesens.
Noch diesen Monat beginnt das Screening, der Abgleich der nationalen Gesetzgebung mit dem Regel- und Normenwerk der EU für die konkreten Verhandlungen. Diese werden nach heutiger Einschätzung besonders schwierig werden in den Bereichen Justiz, Umwelt und Landwirtschaft.
Die Gestaltung des weiteren Transformationsprozesses und dessen Vermittlung gegenüber einer Bevölkerung, die seit den letzten Parlamentswahlen vor zwei Jahren vergeblich auf die erhoffte Verbesserung der Lebensverhältnisse wartet, wird nun zur zentralen Aufgabe der Regierung Sanader. Die nächsten Monate werden zeigen, ob man hierbei das nötige Geschick beweist und Erfolg einfahren kann.
Fazit
Der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union kam für den kroatischen Regierungschef und seine Partei HDZ noch zur rechten Stunde. Ivo Sanader kann sich diesen für sein Land großartigen Erfolg als persönliche Leistung anrechnen. Ungeachtet dessen gab es in den vergangenen zwei Jahren reformpolitische Versäumnisse und einen Mangel an langfristiger innenpolitischer Orientierung, die es nun in kurzer Zeit aufzuarbeiten gilt. Darüber hinaus wird man sich verstärkt der in der Vergangenheit vernachlässigten Parteiarbeit zu widmen haben. Die Regierungspartei HDZ bedarf dringend weiterer Professionalisierung und inhaltlicher Profilierung, wenn sie bei den Parlamentswahlen in zwei Jahren erfolgreich bestehen will.
Schließlich bleibt auch die Frage der weiterhin guten Zusammenarbeit mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal im „Fall Gotovina“ für die Regierung Sanader ein wichtiges Thema, wenn man nicht Gefahr laufen will, die Verhandlungen mit der EU in der Zukunft aufs Spiel zu setzen. Der „Fall Gotovina“ bleibt auch innenpolitisch brisant, zumal der flüchtige Ex-General nun über einen Anwalt erklären ließ, er werde sich stellen, wenn sein Fall vor einem kroatischen Gericht verhandelt werde.
Die nun begonnenen Beitrittsverhandlungen mit der EU bieten Kroatien die Möglichkeit zu einem weiteren positiven Entwicklungsschub. Ein kurzer Blick zurück: im Herbst 1995 waren in Kroatien die Spuren von Krieg und Verwüstung noch ganz frisch, stand Slawonien, der Westen des Landes noch vor der Rückgabe durch die UN, standen weitere kriegerische Auseinandersetzungen in der Region bevor. Heute, zehn Jahre später, verhandelt die junge Republik mit der EU um den Beitritt. Diese Entwicklung ist nicht nur eine Anerkennung für Kroatien, sie ist vor allem auch ein dringend benötigtes Signal für andere Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens, dass die Europäische Union ihnen eine Zukunftsperspektive bietet.