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Länderberichte

Algeriens schwieriger Weg in die Normalität

von Thomas Schiller
Algerien ist zurück. Die hohen Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas, die politische Stabilisierung des Landes seit dem Amtsantritt Präsident Bouteflikas 1999 und eine zunehmend aktivere Zivilgesellschaft helfen dem Land, den Weg zur Normalität zu gehen.

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Algerien will sich in die Weltwirtschaft integrieren und zugleich ein aktiver und selbstbewusster Partner Europas sein. In den letzten 10 Jahren hat das Land – trotz immer noch erheblicher politischer, wirtschaftlicher und vor allem sozialer Defizite – viel erreicht, vor allem aber: Stabilität und – dank der hohen Ölpreise – prall gefüllte Kassen. Der Maghrebstaat, das zweitgrößte Land des afrikanischen Kontinents, hat heute die Chance, lange Jahre der Stagnation und Isolation zu überwinden. Der Besuch der Bundeskanzlerin in Algerien am 16. und 17. Juli 2008 findet deshalb zu einem für das Land entscheidenden Zeitpunkt statt.

Algerien hat bereits einen weiten Weg zurückgelegt. In den neunziger Jahren war Algerien durch die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und islamistischen Terrorgruppen international isoliert. Tausende von Algeriern starben, das Image des Landes litt unter dem Eindruck des Blutbades. Gerade als viele andere Länder nach dem Ende des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund der sich intensivierenden Globalisierung in eine Phase des Aufbruchs eintraten, wurde Algerien in seiner wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung um Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – zurückgeworfen. Im Gegensatz zu den Touristenländern Marokko und Tunesien, ist deshalb der dritte große Maghrebstaat für viele Europäer noch immer eine unbekannte Größe.

Die blutigen neunziger Jahre: Algeriens große Hypothek

Seit seiner hart erkämpften Unabhängigkeit 1962 hat sich Algerien stets als eine selbstbewusste Nation, lange Zeit auch als eine – sozialistisch orientierte - Führungsmacht der Dritten Welt verstanden. Die algerische Wirtschaft und Infrastruktur befanden sich allerdings seit Ende der siebziger Jahre zunehmend in einer Situation des Niedergangs. Die wirtschaftliche und soziale Schieflage (Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot) stellte eine schwere, bis heute fortdauernde Hypothek dar und stärkte islamistische Kräfte. Als Ende der achtziger das Machtmonopol der Staatspartei FLN beendet und ein ermutigender Demokratisierungsprozess eingeleitet wurde, der 1992 mit freien Parlamentswahlen fortgeführt werden sollte, traten diese politischen und sozialen Spannungen innerhalb der algerischen Gesellschaft offen zu Tage. Vor dem sich abzeichnenden Wahlsieg der Islamischen Heilsfront (FIS), wurde der Wahlprozess auf Druck der Armee abgesetzt. Die Politik der Öffnung des politischen Systems scheiterte und führte zu einem langjährigen, überaus blutigen Konflikt zwischen Staat/ Militär auf der einen, diversen islamistischen Untergrundbewegungen („Islamische Heilsarmee“ AIS, „Islamische bewaffnete Gruppe“ GIA) auf der anderen Seite. Weit über 100 000 Algerier fielen diesen Kämpfen zum Opfer. Algeriens wirtschaftliche und soziale Entwicklung wurde noch weiter zurückgeworfen. Eine ganze Generation wuchs unter dem Eindruck dieser blutigen Auseinandersetzungen auf.

Die Folgen dieser „années de sang“ (blutigen Jahre) zwischen 1992 und 1999 wirken bis heute fort. Die Bevölkerung wurde regelrecht traumatisiert, Algerien fühlte sich von Europa und der Welt im Kampf gegen die Terroristen alleingelassen (Algerische Offizielle erzählen auch heute noch mit Bitternis, dass die algerischen Sicherheitskräfte kaum mit westlicher Materialhilfe rechnen konnten). Erst gegen Ende der neunziger Jahre schwächten sich die Kampfhandlungen ab. Mit Amtantritt des heutigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika 1999 wurde eine „Aussöhnungspolitik“ eingeleitet, eine Reihe von „reuigen“ Islamisten kehrte dem Untergrund den Rücken. Das Land fand langsam zur Stabilität zurück und schlug einen vorsichtigen wirtschaftlichen Reformkurs ein.

Algerien heute: Herausforderungen und Chancen

Das gefährlichste Erbe des heutigen Algerien ist zweifellos der Terrorismus. Denn wenn auch die großflächigen Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Terroristen seit einigen Jahren der Vergangenheit angehören, so setzt doch eine zwar kleine, doch überaus radikale Gruppe ihre Aktivitäten fort. Die „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) hat sich Anfang 2007 dem Terrornetzwerk „Al Qaida“ angeschlossen und firmiert nun unter dem Namen „Al Qaida im islamischen Maghreb“. Diese Organisation schreckt auch vor Selbstmordattentaten nicht zurück und kann offenbar immer noch auf ein beachtliches Rekrutierungsreservoir zurückgreifen. Im Jahr 2007 wurde das Land von einer ganzen Serie spektakulärer, äußerst blutiger Anschläge heimgesucht. Attackiert wurden neben algerischen Zielen wie dem Obersten Gerichtshof auch internationale Organisationen und Firmen. Die algerischen Sicherheitskräfte vermelden zwar des öfteren erfolgreiche Operationen gegen die islamistischen Gruppen, aber die Terroristen sind immer noch handlungsfähig und verfügen mit der bergigen, bewaldeten Bergregion der Kabylei über ein hervorragendes Rückzugsgebiet.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die algerischen Offiziellen der politischen und institutionellen Stabilität des Landes eine überragende Bedeutung zumessen. Präsident Bouteflika, der 2004 ein zweites Mandat erringen konnte, ist für viele Algerier der, wenn auch nicht unumstrittene, Garant dieser Stabilität. Bouteflika kann auf eine lange, durch viele Wendungen gekennzeichnete, politische Karriere zurückblicken und verfügt über eine historische Legitimation als einer der letzten Vertreter der alten Garde der Unabhängigkeitskämpfer. Geboren 1937 in Oujda, einer marokkanischen Stadt an der algerischen Grenze, war nach der Unabhängigkeit 1962 zunächst Jugend- und Sportminister, anschließend Außenminister unter dem charismatischen Staatschef Houari Boumédienne. Es folgten Jahre im Exil, aus dem er 1987 zurückkehrte, um 1999 – auch dank des Militärs – das Amt des Staatspräsidenten zu übernehmen. Seine erfolgreiche Politik mischt hartes Durchgreifen gegen Terroristen mit einer „Aussöhnungspolitik“, Sicherung der algerischen Unabhängigkeit mit vorsichtigen Reformen und wirtschaftlicher Öffnung.

Offen bleibt die Frage, ob Bouteflika 2009 noch einmal für eine dritte Amtsperiode antritt. Dem steht zum einen die Verfassung, zum anderen der Gesundheitszustand des Präsidenten entgegen. Wenngleich eine Verfassungsänderung durchaus im Bereich des Möglichen liegt, stellt sich dennoch die Nachfolgefrage mit immer größer werdender Deutlichkeit. Mit der jüngsten Ernennung von Ahmed Ouyahia zum Premierminister (am 23.Juni 2008) in Nachfolge des konservativen FLN-Chefs Abdelaziz Belkhadem, scheint der Präsident noch einmal ein Zeichen für seinen Reformwillen geben zu wollen. Ouyahia, bereits zum dritten Mal im Amt, ist Vorsitzender der Partei RND und gilt als liberaler Pragmatiker und Reformer.

Ouyahia hat große Problem zu überwinden: hohe Arbeitslosigkeit, ein desolates Bildungswesen, Wohnungsnot, defizitäre Infrastruktur, fehlende wirtschaftliche Dynamik, geringer gesellschaftlicher Zusammenhalt. Die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere junger Menschen, führt dazu, dass große Teile der Bevölkerung ohne berufliche und soziale Perspektive leben, während zugleich immer neue Rekordzahlen bei den Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgassektor gemeldet werden. Diese Diskrepanz trägt nicht zum Ansehen der politischen Klasse bei. Das Bildungssystem Algeriens befindet sich in einem desolaten Zustand, die Infrastruktur des Landes wurde jahrelang vernachlässigt. Auch fehlt eine wirtschaftliche Dynamik außerhalb des Erdöl- und Erdgassektors.

Dennoch gibt es heute ein ganze Reihe ermutigender Entwicklungen: Algerien öffnet sich, Reformen in Wirtschaft und Verwaltung werden angegangen, große Infrastrukturprojekte sind auf dem Weg. Im Rahmen des ambitionierten Programms zur Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung 2004-2009 (mit einem Budget von über 150 Milliarden US-$) sind vor allem die Investitionen in die Infrastruktur des Landes beeindruckend: Bau einer Ost-West-Autobahn, U-Bahnbau in Algier, Bau von neuen Staudämmen, Modernisierung der Eisenbahn. Nutzt Algerien die erheblichen Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgassektor sinnvoll, so kann das Land seine Infrastruktur- und Urbanisierungsprobleme lösen. Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen wurden in den letzten Jahren verbessert: ein neues Wettbewerbsrecht, ein vereinfachtes Devisenkontrollrecht sowie ein Gesetz zum Schutz geistigen Eigentums verbessern das Investitionsklima. Die größten Chancen und größten Herausforderungen für Algerien liegen in der konsequenten Fortsetzung einer umfassenden Reform-, Öffnungs- und Modernisierungspolitik.

Algeriens Außenpolitik

Algerien ist einer der wichtigsten Staaten der südlichen Mittelmeerregion. Nicht allein der Ressourcenreichtum, die geographische Lage und die Bevölkerungszahl, sondern auch die vielfältigen Bande des Maghrebstaats nach Europa (u.a. durch algerische Einwanderer) und eine aktive Außenpolitik platzieren Algerien in eine Schlüsselstellung. Dies gilt sowohl für die unterentwickelte regionale Kooperation im Maghreb, wie auch für die – sicher ausbaufähige - EU-Mittelmeerpolitik.

Die defizitäre regionale Zusammenarbeit der Maghrebstaaten, ganz zu schweigen von einer regionalen „Integration“, ist das große Handicap dieser Region. Obwohl mit der „Union des arabischen Maghreb“ (UMA) sogar eine Regionalorganisation existiert, bleiben wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Austausch sowie die politische Zusammenarbeit der Staaten Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen unterentwickelt. Gehemmt wird diese Zusammenarbeit nicht allein durch die politischen Rivalitäten zwischen Marokko und Algerien (u.a. in der Sahara-Frage), sondern auch durch das beharrliche Ignorieren ökonomischer Potentiale einer Regionalintegration als ersten Schritt einer weitergehenden Kooperation. Denn mit Blick auf die abgeschotteten Märkte der Maghrebstaaten wird das häufig beklagte, verhältnismäßig geringe Niveau europäischer Investitionen sicherlich nicht steigen. Algerien kommt hier eine, sowohl geographische wie auch politische, Schlüsselrolle zu. Als Land in der Mitte ist Algerien ein nicht zu umgehender Partner und damit auch in einer besonderen Verantwortung für den gesamten Maghreb. Zudem wäre es ein positives Signal für die gesamte Region, wenn Algerien mit Marokko in Verhandlungen über die Öffnung der geschlossenen Landgrenze eintreten würde.

Algerien ist auch für die EU ein wichtiger und zugleich problematischer Partner. Nicht allein aufgrund seiner Erdöl- und Erdgasressourcen ist Algier zunehmend ins Blickfeld der EU gerückt, sondern auch weil die neu gewonnene Stabilität des Landes Perspektiven politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit eröffnet. Algerien bleibt aber ein selbstbewusster Partner. So zögerte Algier lange Zeit, eine Teilnahmezusage Präsident Bouteflikas für den EU-Mittelmeer-Gipfel in Paris am 13.Juli 2008 zu geben. Die Zurückhaltung der algerischen Regierung gegenüber der Idee des französischen Präsidenten Sarkozy einer „Union für das Mittelmeer“ spiegelt einerseits das ambivalente Verhältnis Algeriens zur ehemaligen Kolonialmacht – zwischen nationalem Selbstbewusstsein und historischen Bindungen –, andererseits eine generell kritische Haltung gegenüber Initiativen aus dem „Norden“ wider. Zudem zieht Algerien häufig bilaterale Beziehungen vor. Zwischen Algerien und der EU existiert zwar ein Assoziierungsabkommen, aber noch kein gemeinsamer Aktionsplan im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik.

Ausblick: Welcher Weg für Algerien?

Die Perspektiven Algeriens scheinen heute besser denn je. Das Land verfügt über hohe Devisenreserven, zahlt Auslandsschulden vorzeitig zurück und hat vor allem politische Stabilität zurückgewonnen. Algerien spielt auch wieder zunehmend eine Rolle auf dem internationalen Parkett. Gleichwohl bleibt noch viel zu tun, die Erwartungen der Bevölkerung sind hoch. Rückschläge, auch durch die Aktivitäten islamistischer Terroristen, können nicht ausgeschlossen werden. Um die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung Algeriens zu konsolidieren, dürfen vor allem die Reform- und Modernisierungsprozesse in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft nicht vernachlässigt werden. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf:

1. Algerien muss sich weiter öffnen, wirtschaftlich und gesellschaftlich.

Seit einigen Jahren öffnet sich Algerien verstärkt ausländischen Investoren und Unternehmen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen haben sich deutlich verbessert. Dies ist eine positive Entwicklung. Dennoch bleibt hier noch viel zu tun, insbesondere bei der teilweise überbordenden Bürokratie. Gleiches gilt für die gesellschaftliche Öffnung. Algerien verfügt heute über eine aktive Zivilgesellschaft und eine breite Medienlandschaft, die aber häufig noch nicht international vernetzt ist. Auch sehen staatliche Stellen in einer aktiven Bürgergesellschaft noch nicht immer einen Vorteil für das Land.

2. Algerien muss den Reformprozess in allen Bereichen weiter vorantreiben

Die von Präsident Bouteflika initiierten Reformen gehen in die richtige Richtung: insbesondere die Reform der Verwaltung, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und eine dynamische, soziale Marktwirtschaft sind die richtige Ziele. Diese Reformen gilt es zu konsolidieren und weiter voranzutreiben, um die finanziellen Ressourcen des Erdölbooms auch sinnvoll einsetzen zu können und die Korruption zurückzudrängen.

3. Algerien muss sinnvoll investieren

Das Land verfügt heute über bedeutende finanzielle Mittel, die hohen Öl- und Gaspreise lassen Algeriens Einnahmen rasant wachsen. Nun gilt es, diese finanziellen Ressourcen gezielt und sinnvoll einzusetzen. Aus heutiger Sicht, lassen sich drei Kernbereiche für dringend nötige Investitionen ausmachen: der Bildungssektor, die Infrastruktur des Landes und die Modernisierung von Verwaltung und Wirtschaft. Die größte Gefahr liegt allerdings darin, dass die Gelder – durch Korruption und Bürokratie – nicht in sichtbare Resultate umgewandelt werden können. Dies könnte die ohnehin schon hohe Distanz der Bevölkerung zu den Regierenden enorm wachsen lassen.

4. Algerien muss regional kooperationsbereiter werden

Algeriens geographische Lage, seine natürlichen Ressourcen und seine politischen Ambitionen geben dem Land eine wichtige regionale Stellung. Diese neue Stellung sollte Algerien verantwortungsvoll nutzen. Verstärkte Kooperation, mit den Nachbarstaaten des Maghreb und der EU, sollte deshalb ein wichtiges Ziel des Landes sein. Nur durch eine aktive Politik regionaler Zusammenarbeit im Maghreb und mit Europa wird das Land den vollen Profit aus seiner neuen Position ziehen können. Letztlich wird aber auch die EU gefragt sein, insgesamt mehr für die Kooperation mit allen Maghrebstaaten zu tun.

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