Länderberichte
Sehr schnell wurden Parallelen gezogen zu den Protestwellen, die im Zuge des „arabischen Frühlings“ auch in ganz Marokko virulent waren. Damals hatte Mohammed VI. ebenfalls allein durch seine frühzeitig angekündigte Rede vom 9. März 2011 den täglichen öffentlichen Protesten ihre Sprengkraft genommen und durch die Zusage einer neuen Verfassung, die eine partizipative Demokratie, Grund- und Menschenrechte garantieren sollte, den öffentlichen Protest abgefangen. Vier Monate später war diese Verfassung ausgearbeitet und konnte durch das Plebiszit vom 1. Juli 2011 in Kraft treten. Sie hat seitdem einen nachhaltigen Wandel auf den Weg gebracht, der jedoch vielen – und nicht zuletzt dem König selber – zu langsam vorankam.
Die gleichen Erwartungen richteten sich in den Juliwochen auf die diesjährige Thronrede. Für die große Mehrheit der Bevölkerung hat das Wort des Königs nach wie vor mehr Kraft und Glaubwürdigkeit als jedes Regierungsprogramm, und das umso mehr, als er seit dem Tag seiner Thronfolge die von ihm angekündigten Reformen auch immer umgesetzt hat. In den ersten zwei parlamentarischen Legislaturperioden seiner Amtszeit (1999-2007) hatte sich bereits der Begriff einer „monarchie exécutive“ durchgesetzt. Seitdem befindet sich Marokko in einem politischen Transformationsprozess von einer autoritären Monarchie (in den 1970er und 1980er Jahren) hin zu einer konstitutionellen. Zwar geht dieser Prozess einigen im Land (und vielen auf der internationalen Bühne) zu langsam, aber er ist stabil: Seit 2000 brachte er die Wiedergutmachung für die Opfer der Diktatur (IER); seit 2004 eine umfassende Reform der Menschen- und speziell der Frauenrechte; und seit 2007 eine fortschreitende Regionalisierung des Landes. Die neue Verfassung von 2011 bildete dann einen relativen Höhepunkt.
Der „Discours royal“ vom 30. Juli 2017
Der Anspruch der Verfassung von 2011 sei bei weitem noch nicht erfüllt, sagte der König gleich am Beginn seiner Thronrede, die er diesmal in Tanger hielt. Es gebe zwar eine Reihe von Anstrengungen, aber zu viele davon liefen ins Leere und blieben weit hinter den gesteckten Zielen zurück. Zum Vergleich verweist der König auf das Engagement derjenigen, die in der freien Wirtschaft arbeiten. Dort lobte er den vorbildhaften Einsatz jedes Einzelnen ebenso wie die Abstimmung in der Zusammenarbeit. Sodann verglich er dies mit den Dienstleistungen des öffentlichen Sektors in Marokko, mit der öffentlichen Verwaltung, den Verpflichtungen des Sozialstaats und vor allem den berechtigten Ansprüchen an die politischen Parteien. Diese hätten bisher viel zu wenig getan, um ihre Kompetenzen und die ihnen übertragene Verantwortung zum Wohle der Bürger zu nutzen, die Bürger zu führen und deren Interessen zu dienen. Jeder Gouverneur, Bürgermeister, Direktor und einzelne Beamte solle sich am privaten Sektor ein Vorbild nehmen, forderte er, und fügte hinzu, dass er dies nicht nur mit Blick auf die Proteste in Al Hoceima sage. Denn was in Al Hoceime passiert sei, wäre ebenso in jeder anderen Region Marokkos möglich gewesen.
An die Adresse all derer gerichtet, die politische Verantwortung tragen, richtete er den Appell, gewissenhaft mit ihrer Entscheidungskompetenz umzugehen und die Bürger einzubinden. Zu oft würden gewählte Vertreter die Interessen der Bürger nicht in ihre Entscheidungen einbinden. Wenn sie Erfolg hätten, würden sie untereinander darüber streiten; hätten sie keinen Erfolg, würden sie sich hinter dem Königspalast verstecken. Das veranlasse vor allem junge Menschen dazu, sich an Wahlen nicht zu beteiligen und das politische Leben zu meiden. Stattdessen dürfe es keine Unterscheidung zwischen den Bürgern und den Beamten des Staates geben, weil alle Gesetze für Bürger und Beamte gleichermaßen gelten. Hierauf müsse er sich verlassen können. Zudem dürfe es keine Unterscheidung zwischen größeren und kleineren Projekten geben, da alle in gleicher Weise wichtig für das Land als Ganzes seien. Speziell die Mitglieder politischer Parteien erinnerte er daran, dass ihre entscheidende Aufgabe nicht die internen Diskussionen, Wahlkämpfe und öffentlichen Auftritte seien, sondern die Bürger zu führen und für deren Interessen einzutreten.
Sodann nahm der König die Sicherheitskräfte von seiner Kritik aus. Diese hätten ihre Pflicht verantwortungsbewusst geleistet und das institutionelle Gefüge des Landes geschützt. An den notwendigen Respekt gegenüber den Institutionen und den öffentlichen Ämtern erinnerte er mehrfach. Zwar lobte der Monarch in vielen Teilen seiner Rede den Einsatz und das Verantwortungsbewusstsein einzelner; aber die Institutionen zu respektieren und sich für Bürgerrechte einzusetzen, stehe für ihn gleichgewichtig nebeneinander. Unter dieser Perspektive kann das Thema „soziale Gerechtigkeit“ als eine erste zentrale Achse seines Diskurses gelesen werden. Es seien insbesondere die sozialen Bereiche der Gesellschaft, die in ihrer Entwicklung hinter seinen Erwartungen zurückbleiben, betonte er. Es seien „die territorialen und die sozialen Entwicklungsprojekte“, die auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger direkten Einfluss haben, die seinen Erwartungen nicht gerecht werden. Er forderte deshalb mehr Zusammenarbeit, die von einer „nationalen, strategischen Vision“ getragen sei, und bei der das gemeinsame, „konkrete Handeln“ an die Stelle des bisherigen Zauderns und der Disharmonie treten müsse.
Mit den „territorialen Entwicklungsprojekten“ ist eine zweite Achse dieses Diskurses benannt, die politische, soziale und wirtschaftliche Fortschritte in der „régionalisation avancée“ einfordert, also der gleichgewichtigen Entwicklung und nationalen Integration aller zwölf Regionen des Landes. Damit gelingt es ihm zugleich, den aktuellen Blick wieder auf Al Hoceima zu richten, das dabei viel gewinnen würde. Zwar ist der Hinweis, dass hierzu selbstverständlich auch die sogenannte „marokkanische Sahara“ gehört, Bestandteil jedes jährlichen Diskurses; diesmal wird diese Erinnerung jedoch ergänzt durch die Aufforderung an alle zwölf Regionen, zu einer neuen „massîra“, einem neuen Marsch, zu dem sich alle Regionen gemeinsam aufmachen müssen. Dies ginge jedoch nicht, so hebt Mohamed VI. am Schluss hervor:
- ohne einen Mentalitätswandel,
- ohne die besten Staatsbediensteten,
- ohne die besten politischen Parteien, die ihrerseits auf die besten Eliten des Landes zurückgreifen können, sowie
- ohne Verantwortungsbewusstsein und nationales Engagement.
Ausblick
Die Thronrede entsprach alles in allem den Erwartungen, die zuvor in sie gesetzt worden waren. Sie war deutlich im Ton, verständlich in der Wortwahl und klar in der Aussage. Ebenso wie einige der früheren Thronreden wird sie für einige Zeit Referenzpunkt bleiben und nachwirken. Sie ging einher mit der Begnadigung von weit über tausend inhaftierten Demonstranten, allerdings nicht derjenigen, denen eindeutige Straftaten angelastet werden. Es werden jedoch auch in den kommenden Monaten noch weitere Begnadigungen erwartet. Möglich ist ferner, dass in den kommenden Wochen eine Reihe höherer Beamte in den Ruhestand versetzt werden. Auch eine erneute Regierungsumbildung ist nicht ausgeschlossen.
Ohne Zweifel berechtigt an der Rede sind die Hinweise auf entwicklungspolitische Defizite, die vor allem in dem noch immer gravierenden Stadt-Land-Gefälle zum Ausdruck kommen und sich in den Bereichen: Bildung, Gesundheitsvorsorge und Infrastruktur niederschlagen. Auch die Vergleiche mit den Leistungen der Wirtschaft sind keineswegs zufällig: Durch die aktuell geplante Gaspipeline von Lagos entlang der Küste bis nach Tanger, an die alle Küstenstaaten angeschlossen werden sollen, sowie durch die von Chinesen gebauten neuen Industriezentren bei Tanger und die TGV-Trasse von Tanger über Rabat und Casablanca bis Marrakech betreibt Marokko Entwicklungspolitik in eigener Sache.
Auch die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und regionaler Entwicklung stehen ohnehin auf der politischen Agenda. In ihrem Programm, das die neue Regierung im April vorgelegt hat, haben der Ausbau der Demokratie, des Rechtsstaats und der Regionalisierung sowie die Bekämpfung der Korruption oberste Priorität. Das Projekt einer „démocratie participative“, das die Verfassung von 2011 zugesagt hatte, wurde seit langem nicht mehr mit so viel Inhalt gefüllt wie in dieser Thronrede. Sie könnte zum Auftakt einer sozialen und rechtsstaatlichen Transformation des Landes werden.
Dennoch bleibt ein demokratisches Defizit unübersehbar: Es sind bis heute immer wieder allein die Autorität, die Legitimität und der Wille des Königs, die derartigen Veränderungen gestalten können. Dass das gleiche auch durch eine faire Auseinandersetzung von Regierung und Opposition möglich sein könnte, zeichnet sich noch nicht ab.