Länderberichte
Während die PJD ihren Anteil an Sitzen in der „Chambre des Représentants“ gegenüber 2011 von 107 auf 125 verbessern konnte, schaffte es die PAM, die 2011 erstmals ins Parlament eingezogen war, bereits im zweiten Anlauf von 47 auf 102 Sitze. Damit bleibt die PJD zwar stärkste Kraft, als der maßgebliche Sieger darf jedoch die PAM angesehen werden.
Im Vergleich zu den letzten Nationalwahlen von 2011 ergibt sich folgendes Bild:
Die Parteien
Die wichtigste Frage vor dieser Wahl war die nach dem Abschneiden der beiden Hauptrivalen, der moderat islamistischen PJD (Parti de la Justice et du Développement) und der PAM (Parti d’Authenticité et Modernité). Die PJD hatte in den vergangenen fünf Jahren in zwei verschiedenen Koalitionen erstmals die Regierung gestellt, während die erst 2008 gegründete und seit dem kontinuierlich an Zustimmung gewinnende PAM sich ursprünglich vor allem aus ihrer Opposition gegen die Islamisten definiert hatte.
Die PAM ist heute zu einer Sammlungsbewegung zukunftsorientierter, demokratischer und die Monarchie unterstützender politischer Kräfte geworden. Ihre Hauptzielgruppe war zunächst die Landbevölkerung, doch findet sie inzwischen in allen Wählerschichten Zustimmung. Im Wahlkampf hat sie sich vor allem als Verteidigerin bürgerlicher Freiheiten präsentiert, um sich dadurch noch deutlicher von der PJD abzugrenzen, die zunehmend als konservativ in Erscheinung trat. Unterstrichen wurde der Kontrast zur PJD zum Beispiel durch das Plädoyer der PAM, dass Alkoholkonsum und außerehelicher Geschlechtsverkehr nicht mehr unter das Strafgesetz fallen sollten. Ihr apostrophiertes Wahlziel, mehr als 100 Sitze zu erringen, hat die PAM eindeutig erreicht.
Vorsitzender und Generalsekretär der PAM ist seit Anfang dieses Jahres Ilyas El Omari, der Präsident der Region „Tanger – Tetouan – Al Hoceima“, ohne Zweifel die wirtschaftlich am stärksten aufstrebende Region in Marokko. Für ihn erschienen diese Wahlen zunächst als ein Vabanque-Spiel. Als ehemaliger „Maoist“ verortet er sich heute als sozial-liberaler Technokrat. Er hat nicht nur durch seine inhaltlichen Forderungen hoch gesetzt und sein ursprünglich schillerndes, aber durchsetzungsstarkes Profil voll in die Waagschale geworfen. Zudem war die PAM beispielsweise die einzige Partei, die ihre Wahlkampffinanzierung (6,4 Mio. €) offengelegt hat. Und besondere Aufmerksamkeit erregte sie dadurch, dass sie die ersten zehn Plätze ihrer nationalen Jugendliste mit Frauen besetzt hat. Eine theoretisch mögliche Koalition mit der PJD hat die PAM kategorisch ausgeschlossen.
In Kontrast hierzu profitierte die PJD vor allem von dem landesweiten Engagement ihrer Stammwählerschaft. Obwohl sie in ihrer Regierungszeit nur einen Bruchteil der 2011 versprochenen Sozial- und Wirtschaftsgesetze realisieren konnte, lebt sie noch immer von dem Image einer moderat-islamistischen Bewegung. Sie konnte in den vergangenen Jahren quasi als die einzige wirkliche Volkspartei gelten, die nun allerdings die PAM neben sich findet. Der Generalsekretär und Regierungschef der PJD, Abdelilah Benkirane, ist eloquent und politisch sehr geschickt, und so hatte er es sich nicht nehmen lassen, bereits im Sommer pathetisch zu formulieren, dass er bereit sei, für die Ziele seiner Partei zu sterben.
Da diese Partei jedoch auf nationaler Ebene nur sehr wenige ihrer Wahlversprechen von 2011 einlösen konnte, hat sie diesmal weitgehend darauf verzichtet, eine Wahlkampf-Agenda zu formulieren und sich stattdessen auf allgemeine, meist moralisierende Parolen zu beschränken. Ob Wirtschaftswachstum, Abbau der Arbeitslosigkeit oder öffentliche Investitionen: die Erfolgszahlen der bisherigen Regierung klingen bescheiden: statt der am Anfang versprochenen 5,5 % lag das jährliche Wachstum der vergangenen drei Jahre bei 3,2 %, für 2016 können maximal 1,5% erwartet werden. Die Arbeitslosenrate, die Regierungschef Benkirane versprochen hatte von 8,9 auch 8 % zu senken, ist auf 9,7 % gestiegen und die Staatsverschuldung hat mit 825 Milliarden MAD den höchsten Stand aller Zeiten erreicht.
Alle übrigen Parteien müssen Verluste verzeichnen. Die traditionsreiche Istiqlal zum Beispiel verlor ein Viertel ihrer Sitze. Sie war an der ersten Regierungskoalition unter Benkirane beteiligt gewesen, hatte diese aber 2013 wieder verlassen. Sie hatte zunächst die territoriale Integrität Marokkos, eine gleichberechtigte Gesellschaft, eine Stärkung der Mittelschicht, bessere Gesundheitsvorsorge und die geschlechtliche Gleichstellung in den Mittelpunkt gestellt. In die Kritik geraten war sie unter anderem dadurch, dass sie – ebenso wie die PJD – Salafisten als Kandidaten aufgestellt hatte. Im Unterschied zur PAM und zur PJD konnte ihr Parteivorsitzender, Hamid Chabat, keine Zukunftsvision formulieren, sondern schwärmte von der Regierungszeit der Istiqlal zwischen 2007 und 2011. Sein Programm hieß „karama“, die „Würde“, und seine Partei war mit dem Slogan angetreten: „Contrat pour la dignité».
Auch der RNI (Rassemblement National des Indépendants) musste ein Drittel seiner Sitze einbüßen. Seine Wahlversprechen lauteten: Wirtschaftswachstum von ca. 5 %, einen Anstieg der Auslandsinvestitionen von ebenfalls 5% sowie eine allgemeine Verbesserung der staatlichen Zahlungsmoral. Ähnlich stellte sich die Situation für die übrigen Parteien dar. Die USFP zum Beispiel konzentrierte sich ganz auf eine Verringerung der Arbeitslosigkeit auf 8%, die Schaffung von jährlich 15.000 neuen Arbeitsplätzen sowie eine Anhebung des Durchschnittseinkommens um 20 %. Auf Seiten der Altparteien waren es in der Regel zu begrenzte Ziele, ohne größere Visionen oder nationale Ambitionen.
Verschiedene Parteien aus dem linken Spektrum (PADS, CNI und PSU) hatten sich rechtzeitig vor den Wahlen zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Dieses Bündnis der „demokratischen Linken“, die FGD („Fédération de la Gauche Démocratique“), setzt sich vor allem aus einem Kreis von jüngeren und engagierten Personen zusammen, die sich in der Vergangenheit von jeder Art von Parteipolitik abgewandt hatten. Sie können sich vor allem auf ein originelles Programm berufen, das in einem intensiven, öffentlichen Diskurs formuliert worden ist und somit breite, öffentliche Interessen widerspiegeln sollte.
In diesem Kontext thematisiert die FDG zwangsläufig auch das Spannungsverhältnis zwischen freier, öffentlicher Meinungsbildung und monarchischer Einflussnahme, die von einigen Mitgliedern auch als „totalitär“ bezeichnet wird. Gleichzeitig gehen einzelne von ihnen – rigoros selbstkritisch - sogar so weit, die eigene politische Vergangenheit als „totalitär“ zu bezeichnen, der jetzt ein neuer Geist der Öffentlichkeit und der Transparenz entgegengesetzt werden soll, um neue demokratische Strukturen mit Leben zu füllen.
Von den Medien ebenso wie von den beiden dominierenden Parteien PJD und PAM wurde die FDG bereits früh als „Koalition“ angesprochen, auch wenn dieser Dialog keine Einladung zur Zusammenarbeit bedeutet. Insbesondere die PJD steht in der Schusslinie der FDG, da sie in deren Reihen zahlreiche Salafisten identifiziert und einige sogar als „anti-judaistisch“ anklagt. Ihr Image von Integrität und neuer, säkularerer und diskursiver Meinungsbildung brachte der FDG allerdings nur ein mageres Ergebnis von zwei Sitzen.
Die Rahmenbedingungen der Wahl
Zum Wahlkampf angetreten waren insgesamt 32 Parteien mit 6.992 Kandidaten. Deren Namen finden sich auf 1.410 Listen, die jedoch nur in einigen Fällen national, überwiegend jedoch lokal erstellt wurden. Lediglich die drei Parteien PJD, PAM und Istiqlal treten in allen 92 Wahlbezirken an. Die meisten Parteien treten in weniger als der Hälfte der Bezirke an. Für die Finanzierung des Wahlkampfes hatte die Regierung insgesamt 22 Mio. € zur Verfügung gestellt.
Zu den größten, strukturell politischen Problemen in Marokko gehört die geringe Wahlbeteiligung, denn faktisch wählen gehen vermutlich kaum mehr als 30 % der Wahlberechtigten. Von diesen sind 55% männlich, 45% weiblich; 30% der Wähler sind unter 35; 43% zwischen 35 und 45. Zur Wahl stehen 395 Abgeordnetensitze. Es waren 4.684 Wahlbeobachter im Einsatz, davon 310 internationale. Bei einer Bevölkerung von ca. 32 Mio. sind zwischen 21-22 Mio. potentiell wahlberechtigt. Von diesen sind 15,7 Mio. in Wählerlisten eingetragen. Die Zahl der Bürger, die faktisch wählen, liegt etwa bei 7 bis 7,5 Mio., also weniger als die Hälfte derjenigen, die in Wählerlisten verzeichnet sind, aber nur ein Drittel derjenigen die theoretisch wahlberechtigt sind.
In einigen Städten wurde es einzelnen Gruppierungen erlaubt, für einen Wahlboykott zu demonstrieren. Dies betrifft zum einen die linksradikale Gruppierung „Annahj Addimocrati“ sowie die islamistische „Al Adl Wal Ihsane“. Demgegenüber wurde jedoch angefangen vom König über zahlreiche Institutionen bis hin zu allen kandidierenden Parteien wochenlang an alle Bürger appelliert, in jedem Fall zur Wahl zu gehen. In diesem Sinne hatten sich Mitte September zahlreiche Politiker und Intellektuelle zu einer gemeinsamen Petition zusammengefunden, in der sie nicht nur dazu aufriefen, auf jeden Fall zur Wahl zu gehen, sondern auch von allen Parteien ein klares Bekenntnis gegen Korruption, gegen Stimmenkauf und gegen fahrlässigen Populismus forderten. Es reiche nicht das bloße Bekenntnis zur Demokratie, sondern jeder müsse sich konkret für den demokratischen Prozess in Marokko einsetzen. Hierbei seien vor allem Frauen und Jugendliche gefordert.
Dennoch hat es Fälle von, bzw. Vorwürfe von Stimmenkauf auch in diesem Wahlkampf gegeben. Jedoch waren die Beschwerden über Unregelmäßigkeiten diesmal geringer denn je: Beim Innenministerium sind bis zum Wahltag 110 Beschwerden eingegangen. Bei etwa der Hälfte davon wurden die Verfahren bereits eingestellt, 20 werden noch untersucht und mit 6 Fällen wird sich die Justiz beschäftigen müssen. Bei den letzten Parlamentswahlen 2011 waren es 490 Beschwerden und bei den Kommunalwahlen 2015 sogar 1.240.
Der König hatte sich diesmal wiederholt für eine uneingeschränkte Transparenz des Wahlvorgangs eingesetzt. Der Verfassungsrat gilt als strenger Wächter über diese Verfahren. Um Ungültigkeitsverfahren vorzubeugen, haben mehrere Parteien ihre Kandidaten mit einem speziellen Leitfaden ausgestattet, in dem bewährte Wahlkampfpraktiken dargestellt sind. Die Friederich-Ebert-Stiftung führt aktuell noch eine Untersuchung durch, wie mit diesen Beschwerden umgegangen wurde.
Resümee
Insgesamt findet sich in der marokkanischen Presse häufig der Vorwurf, dass die Führung quasi in allen Parteien in den Händen einer kleinen, spezifische Elite liegt, die über entsprechende Netzwerke verfügen. Aber verglichen mit den übrigen Staaten der MENA-Region können dieser Wahl bestimmte Mindeststandards an Demokratie und Transparenz nicht abgesprochen werden.
Ungeachtet aller Anerkennung, die viele Beobachter durchaus dem demokratischen Prozedere dieser Wahlen zu zollen bereit sind, liegt die reale Macht im Land ohne Zweifel auch weiterhin in den Händen des Königs. Was diesen Zusammenhang betrifft, tauchte in diesem Wahlkampf immer wieder ein sehr alter Begriff auf: „Tahakkoum“, was so viel bedeutet wie: „die Situation kontrollieren“. Dies bedeutet auf der einen Seite, dass Krone und Kronrat demokratische Wahlen, einen Parteienpluralismus und öffentliche Diskurse wollen. Zudem wird sich der König zweifellos auch an die verfassungsgemäße Vorgabe halten, einen Repräsentanten der Partei mit dem größten Stimmenanteil zum Regierungschef zu ernennen. Es bedeutet aber auf der anderen Seite auch, dass er bis in die Tagespolitik hinein Richtungsvorgaben geben und insbesondere außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen vorgeben wird. Er wird in der Tagespolitik mitspielen: wenn auch nicht immer als Mannschaftskapitän, dann zumindest als Schiedsrichter.
Letztlich ist es die Monarchie, die das Land auf einen Weg zunehmender Rechtssicherheit, nach und nach steigenden Wachstums und internationaler Anerkennung gebracht hat. Vor diesem Hintergrund können die Wahlen für die erste Kammer des marokkanischen Parlaments erneut als Erfolg für eine Demokratisierung des Landes und seine rechtsstaatliche Verfasstheit bewertet werden. Vieles spricht dafür, dass sie sich als einen erneuten Schritt zu mehr Stabilität erweisen werden sowie zu einer Legitimität, die nicht durch Revolution erzwungen, sondern durch Reformen erreicht werden konnte. Diese geht mit einem Gewinn an Transparenz und neuen Möglichkeiten der Partizipation einher. Korruption wird in Zukunft noch genauer beobachtet und Parteien konsequenter zur Rechenschaft gezogen werden. Dieser Wandel wird sowohl von der Mehrheit der politischen Kräfte des Landes mitgetragen, wie er von der Mehrheit der Bevölkerung positiv aufgenommen wird. Er zeigt, dass die politische Entwicklung Marokkos in Richtung Demokratie weist.
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